Globalisierungskritik revisited
Eine andere Welt ist möglich, hat es mal geheißen. Und tatsächlich hat es sich nach Aufbruch angefühlt. Sicher, es gab auch die Zyniker:innen: Dass »anders« erstmal keine Richtung vorgibt. Und alles auch noch schlimmer kommen kann. Und in gewisser Weise ist es ja so gekommen.
Doch damals – die Proteste gegen die WTO-Ministerkonferenz in Seattle 1999, gegen den G8-Gipfel in Genua 2001, oder hierzulande in Heiligendamm 2007 – die Bilder gingen um die Welt. Nicht zuletzt wegen der polizeilichen Repression, die in Genua gar ein Todesopfer gefordert hat. Aber der Kampf schien gerechtfertigt. Und war es ja auch. Heute scheint der Aufbruch sehr weit weg. Was ist geschehen? Und vor allem: Wie kann es von hier aus weitergehen?
Empört Euch
Grund zur Empörung hat es genug gegeben. Dass die Annehmlichkeiten im Globalen Norden mit schreiender Ungerechtigkeit im Globalen Süden erkauft worden waren, war nicht zu übersehen, auch wenn wir wahrscheinlich bis heute nicht alle Details überblicken können. Dass auch im Globalen Norden bei weitem nicht alle von den Annehmlichkeiten der weltweiten Vernetzung von Waren- und Finanzströmen profitieren, blieb ebenfalls nicht verborgen. Trotzdem hatte es diesen Aufschrei offenbar gebraucht: Empört Euch. Gut, wörtlich hat es diesen Aufschrei erst 2010 gegeben, als Stéphane Hessel sich entsprechend äußerte. Die Gründung der Globalisierungskritik schlechthin, des Netzwerks Attac im Jahr 1998, ging auf einen Leitartikel von Ignacio Ramonet zurück, der unter dem Titel »Die Märkte entschärfen« auf die Idee der Tobin-Steuer zur Regulierung der Finanzmärkte zurückkam und mit der Gründung eines Netzwerks von NGOs einen Vorschlag zum Vers uch einer weltweiten Umsetzung unterbreitete.
Steuer als Steuerung
Die Idee der Tobin-Steuer stammt aus den 1970er Jahren und ist nach ihrem Erfinder benannt: dem US-amerikanischen Ökonomen und Nobelpreisträger James Tobin (1918 – 2002). Sein Ziel war es, »Sand ins Getriebe« der globalen Finanzmärkte zu streuen, um so deren Stabilität zu erhöhen. Die Tobin-Steuer sieht eine geringe Abgabe auf jede Währungstransaktion vor. Dadurch würden spekulative, kurzfristige Handelsgeschäfte verteuert, während langfristige Investitionen kaum betroffen wären. Das Netzwerk Attac hat sich mit seiner Gründung die Umsetzung dieser Steuer auf globaler Ebene zur Aufgabe gemacht. Nebenbei, hier allerdings gehen die Globalisierungskritiker:innen von Attac über die Vorschläge des Erfinders hinaus, wären über die Steuer neue Einnahmequellen für öffentliche Investitionen und Entwicklungshilfe zu erschließen.
Die Umsetzung in größerem Maßstab ist bisher nicht gelungen. Es müssten sich nationale Regierungen in genügender Zahl einigen und gemeinsam zum Wohle der Weltbevölkerung handeln. Man darf vermuten: Wenn das einmal gelänge, könnte das Beispiel Schule machen. Und auf einmal hätten wir lauter Verabredungen zum Wohle der Weltbevölkerung. Anscheinend gibt es Kräfte, denen eine solche Perspektive die gute Laune verdirbt. Und anscheinend sind diese Kräfte nach wie vor gut aufgestellt.
Wessen Freizügigkeit?
Die Globalisierungskritik ist nicht bei den Finanzmarktinstrumenten stehen geblieben. Es blieben ja auch die Probleme, die mit der Globalisierung einher gehen, nicht auf die Finanzmärkte beschränkt.
Nach wie vor geht es um die problematischen Auswirkungen der Politik von IWF, Weltbank und WTO, die ihrerseits von den Regierungen der besonders einflussreichen Industrienationen des Globalen Nordens dominiert werden. Ihre Strukturanpassungsprogramme treiben Entwicklungsländer in die Schuldenfalle und verschärfen wirtschaftliche Abhängigkeiten ebenso wie soziale Ungleichheiten. Nach wie vor geht es um die Machtstrukturen transnationaler Konzerne, die Staaten erpressen und demokratische Entscheidungsprozesse unterwandern. Unstrittig ist, dass Globalisierung nicht neutral ist, sondern durch wirtschaftliche und politische Machtverhältnisse geformt wird, die Ungleichheiten verschärfen.
Seit den frühen 2000er Jahren haben sich die Rahmenbedingungen für gesellschaftlichen Wandel verändert. Nach der Finanzkrise 2008 war die Globalisierungskritik kurzzeitig wieder im Zentrum der Debatte, doch der Kapitalismus hat sich als äußerst anpassungsfähig erwiesen. Neue Krisen – von der Pandemie bis zum Krieg in der Ukraine – haben die politische Aufmerksamkeit auf andere Themen gelenkt. Die Digitalisierung hat neue kapitalstarke Unternehmen geschaffen, die sich demokratischer Kontrolle weitgehend entziehen. Tech-Konzerne wie Amazon, Google, Facebook, das Imperium Musk beeinflussen nicht nur den Markt, sondern auch politische Prozesse, Meinungsbildung und soziale Bewegungen. Zudem haben autoritäre, nationalistische Strömungen an Einfluss gewonnen, die soziale Ungleichheit nicht durch eine gerechtere Globalisierung, sondern mit Abschottung und Protektionismus beantworten.
Zur vorgezogenen Bundestagswahl im Februar war für die meisten Parteien hierzulande das bestimmende Wahlkampfthema die Frage, wie sehr Migration bekämpft werden sollte. Wir dürfen festhalten: Bei genauer Betrachtung ist es doch Unsinn, die Frage von Flucht und Migration zu besprechen, wenn man den Rest der Welt – der immerhin die Fluchtursachen hervorbringt – unverändert lässt. Die Struktur von Welthandel zugunsten des Globalen Nordens und zuungunsten des Globalen Südens, mit allen Folgeschäden vor Ort, spielt hier keine zu vernachlässigende Rolle.
Empört Euch II
Man müsste die Frage nach einer besseren Welt gar nicht als eine altruistische behandeln. Man könnte auch sehr sehr eigennützig formulieren: Gerade weil ich will, dass es mir und den meinen gut und besser geht, muss ich wollen, dass es allen anderen gut und besser geht; muss ich wollen, dass Verteilungskämpfe nicht mehr nötig sind. Die einzige Begründung, das anders zu sehen, wäre, dass ich meine eigene Gier für grenzenlos halte, und deshalb auch die Gier der anderen für grenzenlos halten muss. Damit wären dann auch Verteilungskämpfe unausweichlich. Dass es sie gibt, die grenzenlose Gier, ist schwer zu übersehen. Aber dass sie der Normalfall sein soll, die Grundlage für die Welt, in der wir leben – können wir da nochmal drüber reden?
Wir leben in einer Zeit, in der sich der reichste Mann der Welt einen US-Präsidenten kaufen kann. Zugleich reden wir über überlastete Staats- und Landeshaushalte, als ob die Verteilung von Ressourcen ein Naturgesetz wäre. Mit Utopien ist es so eine Sache. Sie rücken nicht automatisch und von selber näher, nur weil die Zeit voranschreitet. Hoffnung fängt aber damit an, dass wir uns eine bessere Zukunft überhaupt vorstellen können. In diesem Sinne: Eine andere Welt ist möglich.