4050 Stunden

Auch 21 Jahre nach dem abgebrochenen IG-Metall-Streik keine 35-Stunden-Woche im Osten

Im Sommer 2003 brach der 1. Vor-
sitzende der IG Metall den laufenden Streik für die Einführung einer 35-Stunden-Woche in der Metall- und Elektrobranche Ost (Berlin, Brandenburg, Sachsen) kraft seiner Wassersuppe vor laufenden Kameras ab. Das übliche Prozedere wäre ein anderes gewesen. Weder Vorstand noch Tarifkommission waren einbezogen, die Streikenden vor den Kopf gestoßen.

Die Geschichte selbst ist fix erzählt: In der Bundesrepublik von 1984 mag das Verschieben der 35-Stunden-Woche auf einen auf elf Jahre angelegten Stufenplan nicht gleich wie ein Erfolg gewirkt haben. 1995 war die Verkürzung der Wochenarbeitszeit in der Metall- und Elektrobranche im westlichen Teil des inzwischen vergrößerten Deutschlands dann aber doch Stand der Dinge. Im Osten folgte auf den CDU-Wahlerfolg im März 1990 die Desillusionierung vielleicht keinem Plan, aber doch in Stufen.

Dabei sah es zwischendurch manchmal auch erfolgversprechend aus. So kündigte 1993 zwar der Arbeitgeberverband Metall Sachsen den laufenden Tarifvertrag, der eine Angleichung der Bezahlung an die Westlöhne bis 1996 vorsah. Doch der Angriff ließ sich abwehren, der Streik gegen die Aufkündigung war erfolgreich. Nur wäre gleicher Lohn für gleiche Arbeit eben auch auf die Arbeitszeit zu beziehen gewesen.

Es dauerte zehn weitere Jahre, bis die IG Metall einen entsprechenden Versuch wagte. Die Konzentration lag auf Sachsen, Brandenburg und (Ost-)Berlin. Die Tarifgebiete Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen befanden sich in gemischten Ost-West-Bezirken und galten als weniger kampffähig. Einem Pilotabschluss in den reinen Ost-Bezirken würde man sich anschließen können, war das Kalkül. Man hatte sich verrechnet.

Positiv ging der Streik nur für die Beschäftigten in der Stahlindustrie aus. Bereits nach einer Woche Streik wurde dort die schrittweise Einführung der 35-Stunden-Woche bis 2009 vereinbart. Damit war der Streik in diesem Bereich auch beendet. Zur Erklärung: Die Personalkosten machen hier einen erheblich geringeren Teil der Gesamtkosten aus, so dass Mehrkosten im Personalbereich deutlich weniger ins Gewicht fallen.

Parallel zur ostdeutschen Stahl-industrie waren die Beschäftigten in der sächsischen Metall- und Elektroindustrie in den Arbeitskampf getreten. Die ersten Kollegen im Chemnitzer VW-Motorenwerk traten just an dem Tag in den Streik, an dem ein SPD-Sonderparteitag die Agenda 2010 bestätigt hat. In der zweiten Streikwoche streikten täglich zwischen 6000 und 12.000 Beschäftigte. Erst in der dritten Streikwoche kamen Betriebe in Berlin-Brandenburg dazu. Die IG Metall hatte für eine klassische Tarifauseinandersetzung geplant, mit zeitlich versetzten Urabstimmungen und zeitlich versetzt einsetzenden Streiks, einem langsamen Beginn und Ausweitungsfähigkeit als Taktik.

Ebenfalls in der dritten Streikwoche machte die Nachricht die Runde, dass das VW Motorenwerk Wolfsburg zum Ausgleich der Ausfälle aus Chemnitz beitragen sollte. Die Wolfsburger Belegschaft reagierte mit einer fünfstündigen Betriebsversammlung, die die Produktion lahmlegte. Doch Solidarität aus dem Westen sollte die Ausnahme bleiben. Im Gegenteil äußerten sich Gesamtbetriebsräte von Opel, Daimler-Chrysler und BMW öffentlichkeitswirksam gegen den Streik. Manche waren an ihren Standorten von der »Fernwirkung« des Streiks im Osten betroffen. Das ZF Getriebewerk aus dem Raum Berlin-Brandenburg etwa war ein Zulieferer für BMW. Der fehlende Nachschub fiel auf. Manche waren aber gar nicht betroffen und einfach so dagegen.

Eines der beliebten Argumente der auch gewerkschaftlichen Streik-Gegner (-Gegnerinnen sind mir nicht begegnet): Die Produktivität in den Ost-Betrieben wäre zu gering, eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit nicht zu stemmen. Inzwischen machen in der Presse Pilot-Projekte zur Einführung einer Vier-Tage-Woche die Runde. Mit dem erstaunlichen Ergebnis: Nicht nur die Zufriedenheit der Arbeitnehmer:innen steigt, sondern auch die Produktivität. Ähnliche Überlegungen hatten damals keinen Platz. Es bleibt der Beigeschmack, dass sich »der Westen« im Osten seine verlängerte Werkbank mit eingebautem Niedriglohnbereich geschaffen hatte. Wie praktisch.

So aber wurde nicht argumentiert. Es hieß stattdessen: Der Streik war nicht gut organisiert. Hatte keinen gesellschaftlichen Rückhalt. Die wirtschaftliche Situation der Betriebe im Osten hätte eine solche Arbeitszeitverkürzung nicht hergegeben.

Andere fragen: Wie kann sich ein Opel-Betriebsrat, dessen Bereich vom Streik noch nicht einmal betroffen ist, vor laufender Kamera von den streikenden Kollegen im Osten so unverblümt entsolidarisieren? Seit wann sind Auswirkungen von Streiks über den begrenzten Ortsbezug hinaus ein gewerkschaftlicher Grund, auf Arbeitsniederlegungen zu verzichten? Kann es sein, dass mit dem Streik-Abbruch dem Drängen von Bundeskanzler Gerhard Schröder nachgegeben wurde?

Festzustellen bleibt: Nach wie vor gilt in der Metall- und Elektrobranche im Osten eine höhere tarifliche Arbeitszeit: 38 statt 35 Stunden. Haustarife und flexible Arbeitszeiten machen lokal andere Modelle möglich. Aber die große Frage bleibt unberührt.

38 statt 35 Stunden. Jede einzelne Woche. Seit 30 Jahren. Ab 1995 galt die 35-Stunden-Woche in der Metall- und Elektrobranche als flächendeckend umgesetzt. Und so erklärt sich die Stundenzahl aus der Überschrift, per überschlägiger Rechnung: 365 Tage pro Jahr (meistens). 104 Tage Wochenende. 10 Feiertage, von denen einige auch auf Wochenend-Tage fallen. Sagen wir, 6 echte Feiertage. 30 Tage Urlaub. Bleiben 225 Arbeitstage pro Jahr. Bei einer 5-Tage-Woche macht das 45 Wochen pro Jahr. In jeder dieser 45 Wochen arbeitet der ideelle Gesamt-Metaller Ost 3 Stunden mehr als der ideelle Gesamt-Metaller West, zusammen 135 Stunden Unterschied pro Jahr. Auf 30 Jahre gerechnet, von 1995 bis 2024, macht das 4.050 Stunden, die der ideelle Gesamt-Metaller Ost mehr zu malochen hatte als sein Kollege in den alten Bundesländern.

Galten vor Juli 1996 nicht eher 40 Stunde statt 38 Stunden Wochenarbeitszeit in der Metall- und Elektro-Branche Ost? Das war wohl so. Gibt es nicht auch Schaltjahre, und schwanken nicht die Zahlen von Feiertagen, die auf Wochenend-Terminen »verschwinden«? Sicherlich. Gibt es in Baden-Württemberg mehr Feiertage als in Brandenburg? Jawohl. Sollen jetzt relative Ungerechtigkeiten als berechtigte Begründung für fragwürdige Wahlentscheidungen auf der östlichen Seite der ehemaligen innerdeutschen Grenze herhalten? Sagen wir: Naja.

Natürlich ist relative Schlechterstellung keine Begründung für die Stimmungsmache gegen Geflüchtete und Migrant:innen. Die relative Ungerechtigkeit an sich ist aber, von Ost nach West geschaut, real existierende Tatsache. Da ist die Wochenarbeitszeit. Da sind die 19 Prozent Lohn-Lücke zwischen Ost und West, auf die der DGB am 22. Oktober hinwies – mit dem Zusatz: Ab diesem Tag arbeiten Ostdeutsche bis zum Jahresende rechnerisch unbezahlt. Ostdeutsche erben und vererben weniger. Und es wird noch eine weitere Generation dauern, bis sich die 35 Jahre Unterschied in der Rentenberechnung „rausgewachsen“ haben.

Die überschlägigen 4050 Stunden Mehrarbeit Metall/Elektro Ost werden erst zum Jahresende 2024 voll sein. Nach dem Abklingen der HartzIV-Proteste im Jahr 2004 schrieb ein Kollege kurz und knapp: Nicht jedes System lässt sich mit Montagsdemos stürzen.1 Ähnlich können wir zusammenfassen: Nicht jede 35-Stunden-Woche lässt sich mit einem IG-Metall-Streik erzwingen. Wie wir die Suche nach solidarischen Lösungen anschlussfähig bekommen, bleibt die offene Frage.

Susanne Rohland, Jahrgang 1979, lebt und arbeitet in Berlin. Meldet sich mit diesem Beitrag als eine von zwei Ost-Expert:innen zurück in der Lunapark21-Redaktion

Anmerkung:

1 Erich Weinholz, wahrscheinlich zuerst in der Ausstellung »Der kurze Herbst der Utopie – 1989«, siehe http://herbst
derutopie89.hausderdemokratie.de/