Interview: „Der IS ist hier im Süden der Türkei präsent“

Interview mit Ali Ergin Demirhan über das Engagement gegen Dschihadismus, Kriegstreiberei und die Repression in der Türkei in: Lunapark21, Heft 34

Hatay ist die südlichste Provinz der Türkei. Eingeklemmt zwischen dem Mittelmeer auf der einen und dem Syrien-Krieg auf der anderen Seite sind die Auswirkungen des Krieges hier mit Händen zu greifen. Der Friedensratschlag Hatay hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit Berichterstattung aus der Region auf die dramatische Lage aufmerksam zu machen. Wir sprachen mit Ali Ergin Demirhan, einem der Protagonisten, nicht nur über die Lage in Hatay.

LP21: Mitte Juni habt Ihr vom Friedensratschlag Hatay aus unter dem Motto „Bevor es für Hatay zu spät ist…“ Mitstreiter aus den Bereichen Menschenrechte, Gewerkschaften und Journalismus zu einer Konferenz in die Provinzhauptstadt Antakya eingeladen. Wie ist die Situation?

Ali Ergin Demirhan: Wegen des Kriegs in Syrien und der türkischen Syrien-Politik steht Hatay als Grenzregion inzwischen ziemlich nah am Abgrund. Im letzten halben Jahr hat sich die Lage in Syrien drastisch geändert: Russische und syrische Streitkräfte haben recht erfolgreiche Angriffe gegen dschihadistische Gruppen durchgeführt, ganz in der Nähe der türkischen Grenze. Die Dschihadisten haben viele ihrer Hochburgen und Versorgungsrouten verloren. Dschihadistische Gruppen, darunter auch der Islamische Staat und Al-Nusra, sind seitdem in der Türkei unterwegs. Es gibt für sie im Wesentlichen zwei Einfallstore: Das eine ist Kilis, das andere Hatay. Die Autobahn zwischen Hatay und Kilis ist inzwischen de facto eine Versorgungsbrücke für die Dschihadisten. Und unsere Regierung unterstützt das. Hatay und Kilis sind mittlerweile extrem unsichere Städte. Bei Raketenangriffen von syrischem Gebiet auf Kilis sind in den letzten Monaten mehr als 20 Menschen getötet worden. Zehntausende haben ihr Zuhause verlassen und sind in andere Städte geflohen. Bisher hat es zwar keine Raketenangriffe auf Hatay gegeben. Wenn wir dem Treiben der Dschihadisten aber keinen Riegel vorschieben, werden die Dinge hier womöglich noch schlimmer als in Kilis. Der Krieg hat die Grenzregion Idlib auf syrischer Seite erreicht. Wir befürchten, dass eines Tages Panzer und Kriegsflugzeuge an der Grenze zwischen Hatay und Idlib auffahren.

LP21: Die Situation ist aber in Hatay auch ohne offene Kämpfe schon jetzt schwierig?

Wir haben hier in der Region 400000 syrische Flüchtlinge. Sie leben unter miserablen Umständen. Und die Fremdenfeindlichkeit gegen sie wächst. Dazu kommt: Al-Nusra ist sehr populär und erfolgreich in den Grenzorten in Hatay, wo der Flüchtlingsanteil hoch ist. Wir wissen auch, dass hunderte türkische IS-Mitglieder in diesen Orten leben. Wenn wir die dschihadistischen Umtriebe und die Fremdenfeindlichkeit nicht stoppen können, müssen wir uns auf weitere Gewalt einstellen, die alle hier trifft: die einheimische Bevölkerung, die Flüchtlinge, Minderheiten wie Alewiten, Juden, Christen usw. Zu Kriegsbeginn, am 11. Mai 2013, gab es den schwersten Terroranschlag in der türkischen Geschichte, hier im Grenzort Reyhanlı-Hatay [nach offiziellen türkischen Angaben mit 51 Getöteten, nach Recherchen vor Ort waren es jedoch bis zu 300 Todesopfer; d. Red.]. Und kurz nach unserer Konferenz im Juni ist der Jüdische Friedhof in Antakya geschändet und zerstört worden. Jeder hier hat Angst vor einem möglichen Anschlag, alle warten darauf, dass der Krieg in Hatay ankommt. Wir haben uns gesagt: Wir haben keine Wahl, wir müssen aktiv werden, bevor es für Hatay zu spät ist.

LP21: Ihr habt seit Februar zwei Berichte aus Hatay veröffentlicht, ein dritter ist in Vorbereitung. Worum genau geht es euch?

Mit diesen Berichten wollen wir das Schweigen und die Zensur durchbrechen. Wir haben vieles aufgeschrieben, die wichtigsten Punkte: 1. Die türkischen Behörden haben eine spezielle Vereinbarung mit dem IS. Ausländische IS-Kämpfer genießen hier Immunität. Wenn hier ein Terrorist oder eine Terroristin aufgegriffen wird, kommt er oder sie nicht ins Gefängnis, sondern wird in einen Drittstaat überstellt, wo ihnen nichts geschieht. 2. Der IS ist in den türkischen Grenzstädten präsent. Zunehmend sehen wir uns einem türkischen Dschihadismus gegenüber, der mit dem IS in Verbindung steht. 3. Syrische Flüchtlinge leben hier unter miserablen Bedingungen. Sie werden direkt – oder durch die ihnen zugemuteten Lebensumstände indirekt – zur Rückkehr nach Syrien gezwungen. Dort landen sie in Flüchtlingscamps, die unter der Kontrolle von Dschihadisten stehen.

LP21: Was denkst du über den Deal, den die EU mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage abgeschlossen hat?

Die Flüchtlinge sind denen egal, der EU ebenso wie der Türkei. Ihnen ist es am liebsten, die syrischen Flüchtlinge leben hier als Bettler in diesen unwürdigen Lagern, ohne irgendwelche Rechte, ohne Würde.

LP21: Ist aus deiner Sicht die europäische Politik für die aktuelle Situation in der Türkei mit verantwortlich?

Die führenden Politiker/innen in Europa wissen über Erdogan sehr genau Bescheid. Sie sind über seine Ziele informiert – und über seine Verbrechen auf dem Weg dorthin. Man kann es nur so sagen: Sie sind alle Komplizen bei diesen Verbrechen. Die EU-Staaten haben ihre radikalisierten, kriminellen Einwohner aus Europa nach Syrien ziehen lassen – über die Türkei. Jetzt kehren diese Leute zurück, auf demselben Weg. Die EU hat potenzielle Islamisten, Waffen und ihre Kriegspolitik nach Syrien geschickt. Nun fliehen einige der Islamisten und viele, viele Kriegsflüchtlinge nach Europa. Das ist nicht nur Erdogans Spiel, nicht nur Erdogans Verbrechen. EU-Politiker wollten Erdogan für ihre Zwecke benutzen. Sie haben ihn benutzt. Benutzen ihn noch. Und sie werden ihn auch weiterhin benutzen, bis er für sie eines Tages nicht mehr zu gebrauchen sein wird.

LP21: Du bist auch Redakteur bei der linken Nachrichtenseite sendika.org und der zugehörigen Printpublikation „Stimme des Volkes“ (Halkin Sesi). Inwieweit seht ihr euch Repression ausgesetzt? Wie geht ihr damit um?

Seit Juli 2015 ist unsere Webseite elf Mal von den türkischen Behörden zensiert worden. Das heißt: Von Computern in der Türkei aus ist unsere Seite dann nicht mehr erreichbar. Und vor kurzem hat die Staatsanwaltschaft eine ganze Reihe von Ermittlungsverfahren gegen unsere Zeitung eröffnet. Jedes Mal, wenn unsere Webseite zensiert wird, hängen wir eine andere Nummer an und eröffnen eine neue Seite: sendika1.org, sendika2.org… Aktuell sind wir bei sendika10.org. Das ist schon ernsthafte Repression gegen uns. Bisher aber gibt es für uns keine Gefängnisstrafen, wir können kontinuierlich unserer Arbeit nachgehen; wir sind alle am Leben. Bekanntlich sind viele Journalisten in der Türkei inhaftiert, Fernsehsender und Zeitungen wurden geschlossen oder von staatlicher Seite übernommen. Und dann gibt es auch noch faschistische Untergrundorganisationen, die es ebenfalls auf Journalisten abgesehen haben. Verglichen damit ist unsere Situation besser, im Moment jedenfalls. Wie wir mit der Repression umgehen? Wir haben keine andere Wahl als zu kämpfen.

LP21: Wieviel Hoffnung für die Zukunft siehst du denn?

Es gibt ein riesiges Potenzial an linken, progressiven, revolutionären Kräften in der Türkei. Erst vor drei Jahren hat sich das türkische Volk gegen Erdogan aufgelehnt und Geschichte geschrieben. Niemand kann den Gezi-Aufstand im Juni 2013 aus der türkischen Geschichte tilgen, niemand kann uns die Erfahrungen nehmen, die wir in dieser Zeit gemacht haben. Bei den Wahlen im Juni 2015 hat die Opposition über Erdogan triumphiert: Die linken Stimmen lagen fast bei 40 Prozent – das beste Ergebnis seit dem Militärputsch 1980. Es hat nicht gereicht. Wir wissen es. Erdogan hat einen Krieg angefangen und seine Macht gesichert. Aber wir sind uns sicher: Er hat keine Zukunft. Wir müssen ihn aufhalten, wir müssen ihn stürzen. Sonst wird er nicht nur sich selbst, sondern das ganze Land zerstören. Wir haben keine andere Wahl. Wir müssen den Anspruch erheben, dass diese Zukunft uns gehört. Ich glaube daran, dass wir das schaffen können.

LP21: Was wünschst du dir an internationaler Solidarität?

Jede und jeder muss Gegenwehr im eigenen Land organisieren. Das ist Solidarität.

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Ali Ergin Demirhan, langjähriger Aktivist und Journalist, engagiert sich seit Februar 2016 im Friedensratschlag Hatay. Seit Mai 2016 laufen gegen ihn als rechtlich Verantwortlichen der in Istanbul produzierten linken Zeitung „Stimme des Volkes“ mehrere Ermittlungen wegen terroristischer Propaganda, Präsidentenbeleidigung und Herabwürdigung des Türkentums. Das bereits eröffnete Gerichtsverfahren in dieser Sache ist weiter anhängig (Stand: 4. Mai 2017). Das Gespräch führte Susanne Rohland. Berichte vom Friedensratschlag Hatay in deutscher Fassung: http://www.labournet.de/?p=95970 (Februar/März 2016) sowie http://www.labournet.de/?p=98234 (März/April 2016)