Engels mit Brille

Am 29. Oktober 1840 schrieb der Kaufmannslehrling Friedrich Engels aus Bremen an seine Schwester Marie: „Augenblicklich haben wir Freimarkt, und wenn ich auch nicht die Ehre habe, Ihrer Königlichen Hoheit, einer Großherzogin und vielen allerdurchlauchtigsten Prinzessinnen vorgestellt zu werden, so haben wir doch Spaß. Ich bin glücklicherweise so kurzsichtig, daß ich gar nicht weiß, wie die paar hohen, höchsten und allerhöchsten Personen, die die Ehre gehabt haben, an mir vorbeizufahren, aussehen.“ (MEW, Ergänzungsband, Zweiter Teil, S. 462/463). Welche Fürstlichkeiten gemeint waren, erfahren wir nicht. Engels jedenfalls hielt aus gegebenem Anlass seine Augenschwäche für einen Vorteil. Der Obrigkeit fiel sie auch auf: „Spricht sehr rasch und ist kurzsichtig.“ So charakterisierte ihn ein amtliches Signalement in der Revolution 1848/49. Als er in Manchester eine Wohnung für sich und seine Freundin Mary Burns mietete, notierte die zust e4ndige kommunale Behörde, er sei „shortsighted“. Das war ein, wie der Lokalforscher Roy Whitfield kommentierte, ungewöhnlicher Eintrag. Der betagte Friedrich Engels galt wegen seiner Fitness zwar auch noch in seiner Londoner Zeit als einer der jüngsten alten Männer, aber ein Zeitgenosse bemerkte doch, in einem Punkt sei er wie die meisten Deutschen: Sie würden mit kleinen Brillen geboren, und Letztere wüchsen im Laufe der Jahre mit.

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Dem Vergessen entreißen –

Buch von Klaus Gietinger zum Kapp-Putsch

Am 13. März 1920 fungierte Wolfgang Kapp, Aufsichtsrat der Deutschen Bank, als Frontmann eines Militärputsches gegen die Weimarer Republik bzw. gegen die „Weimarer Koalition“ aus SPD, Liberalen und Katholiken. Durch die Novemberrevolution 1918 an die Macht gekommen, stellte die SPD den Regierungschef sowie den Reichswehrminister Gustav Noske und den Reichspräsidenten Friedrich Ebert. Zusammen mit Freikorps hatte die SPD-Führung Generalstreike, Räte und Räterepubliken meist blutig zerschlagen und war im Februar 1919 die „Weimarer Koalition“ eingegangen. Trotz des verlorenen Weltkrieges hatten die Militärs, auch hier tatkräftig von der Regierung unterstützt, einen gigantischen militärischen Apparat aus Reichswehr, Freikorps und Sicherheitspolizei aufgebaut. Der Versailler Vertrag machte dem ganzen Spuk ein Ende, die Alliierten Sieger verlangten die Reduzierung der Reichswehr auf 100 000 Mann und die Auflösung der Freikorps etc. Die Regierun g musste sich fügen. General Lüttwitz wollte dies nicht. Er putschte mit Marinebrigaden, die schon das Hakenkreuz am Stahlhelm trugen, und vertrieb die Koalition aus Berlin, da General Seeckt sich weigerte, die Reichswehr auf die Obristen schießen zu lassen. Die SPD-Führung rief den Generalstreik aus und floh nach Stuttgart.

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chile 2020

Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre!

Fotos der Asociación de Fotógrafos Independientes, Santiago de Chile

Text Andrés Bravo – Übersetzung Alix Arnold

Als die Metro von Santiago de Chile den Fahrpreis um 30 Pesos erhöhte, antworteten Schülerinnen und Schüler mit massenhaftem Schwarzfahren. Dies war der Zündfunke für den größten Aufstand seit den Demonstrationen gegen die zivil-militärische Diktatur von Pinochet und der Impuls, der das Bewusstsein dafür erweckt hat, jetzt das Land mit mehr Gerechtigkeit aufzubauen, wofür schon so viel gekämpft wurde und so viele auf der Strecke geblieben sind. Dazu gehören Würde ohne Abstriche für unsere Rentnerinnen und Rentner, ein gerechtes Gesundheitssystem für die Bevölkerung, die beim Warten auf Behandlungen stirbt, kostenlose und gute Bildung für die nächsten Generationen, Wohnungen für die tausenden Familien, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind, historische Gerechtigkeit für die indigenen Völker und Verantwortung gegenüber unserer Natur.

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„… weil ich Ihr Verleger bin und bleiben möchte“

Vor 200 Jahren geboren – Otto Meissner, Verleger des „Kapital“ und „Hamburg und seine Bauten“

Am 28. Juli 1819 wurde in Quedlinburg Otto Carl Meissner geboren, ohne den wichtige ökonomische und politische Theorien nicht veröffentlicht worden wären. Vor allem gilt dies für Das Kapital von Karl Marx. Meissner bezeichnete sich selbst als Verleger von Marx, der nach dem Ersten Band des Kapital noch dessen zweite verbesserte Auflage 1873 besorgen und nach dem Tod von Marx 1883 mit Friedrich Engels den zweiten und dritten Band drucken lassen konnte.

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Urlaub am Don

Die südlichste Millionenstadt der Russländischen Föderation empfängt ihre Besucher mit zwei Gepäckslaufbändern am kleinen Flughafen. Dem aus Moskau kommenden Airbus 320 entsteigen Sonnenhungrige aus dem Norden und Arbeitsmigranten, die für zwei oder drei Wochen aus Deutschland anreisen, um den Urlaub bei daheim gebliebenen Verwandten zu verbringen. In zwei Jahren soll Rostow am Don zu einer Drehscheibe der Fußballweltmeisterschaft werden, wofür gerade ein neues Stadion am Flussufer gebaut wird.

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Der Ausnahmeboxer Muhammad Ali und das Faustrecht im Kapitalismus Oder: Gibt es eine Poesie der Brutalität

Über Muhammad Ali konnte man in den letzten Jahrzehnten, als er noch lebte, nur Positives hören, lesen und sehen. Nach seinem Tod am 3. Juni 2016 überschlagen sich nun diejenigen, die sich zu ihm äußern. Er sei Held, Vorbild, außergewöhnlich – eben „der Größte“ gewesen. Vergleichbare Darstellungen finden sich in den Boulevard-Zeitungen ebenso wie in den Qualitäts-Medien. Sie stammen von Sportjournalisten und von Schriftstellern. Wobei es so gut wie ausschließlich  Männer sind, die sich öffentlich derart zu Muhammad Ali äußern. Eine etwas andere Sicht lesen sie HIER.

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[rezension] Gelehrter Marxismus. Ralf Krämers Einführung in die Politische Ökonomie der Gegenwart

Aus: LunaPark21 – Heft 31

Manchmal ist es mit Basis und Überbau ganz einfach. Als 1998 der 150. Jahrestag der Veröffentlichung des „Manifestes der Kommunistischen Partei” anstand, fühlten sich Kapitalisten und Leitmedien ihrer Sache so sicher, dass sie den Marxschen Text im Feuilleton problemlos loben konnten. Nicht für seine garstigen politischen Vorschläge, die galten ohnehin seit 1989 erledigt. Aber für seine Beschreibung der revolutionären Rolle von Kapital und Weltmarkt. Zehn Jahre später sah es anders aus. Die Weltwirtschaftskrise 2008/ 2009 erschütterte das siegesgewisse Selbstbild der herrschenden Klasse. Ein neues politisches Interesse an marxistischen Positionen ist entstanden, das im Feuilleton von FAZ und Spiegel nicht mehr so einfach begrüßt wird.

Das Buch von Ralf Krämer baut

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„Das Ende der Megamaschine“

Besprechung von Fabian Scheidlers neuem Buch über die „Geschichte einer scheiternden Zivilisation“

Andrea Komlosy in Lunapark21 – Heft 30

Bücher über die Krise des Kapitalismus haben derzeit Konjunktur. Aus der Fülle der Neuerscheinungen ragt das Werk eines Generalisten heraus. Fabian Scheidler hat Geschichte und Philosophie studiert. Dass ihm mit „Das Ende der Megamaschine“ ein wahrhaft großer Wurf gelungen ist, liegt jedoch in seiner Erfahrung als Dramaturg, Theaterautor sowie Betreiber des globalisierungskritischen Fernsehmagazins www.kontext-tv.de. Der professionelle Hintergrund sorgt dafür, dass das Buch zu einer dramatischen Zeitreise durch die Weltgeschichte wird, eine Tragödie, allerdings mit dem Ausblick auf ein mögliches Happy End.

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Flaschenpost – unzeitgemäße Kommunikation?

Über eine Obsession und eine Ausstellung des Lunapark21-Gestalters Joachim Römer

Gerd Michalek in Lunapark21 – Heft 30

Warum kritzeln Menschen Botschaften auf einen Zettel, um sie per Flasche in den Fluss zu werfen? Man könnte doch blitzschnell eine E-Mail senden! Antworten auf die Frage sucht der Gestalter von Lunapark21, Joachim Römer, seit 1998. Damals fand der Kölner Graphiker und Künstler am Rhein seine erste Flaschenpost bei ausgedehnten Uferspaziergängen. Sozusagen als „Beifang“ zu anderem Treibgut, das er künstlerisch verwertete. Mittlerweile sind ihr gut 1400 Flaschenposten gefolgt.

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Flaschenpost_Heft30_Seite_66

04/13-19 | Fundort: rechtsrheinisch · Niederkassel-Mondorf | Text, Computerausdruck, 1. Seite: Einweg | Du stellst etwas her | Du kaufst es Dir ab | Du kannst es nicht brauchen | Du willst es nicht haben | Du schmeisst es weg | Du sammelst es wieder auf | Du machst es kaputt | Du sortierst die Scherben | Du stellst es her | Du kaufst dich Dir ab | Du kannst dich nicht brauchen | Du willst dich nicht haben | Du schmeißt dich weg | Du sammelst dich wieder auf | Du machst dich kaputt | Du sortierst dein Leben | (…) gestempelt: Jun 26 2003 bitte an: Name und Adresse des Absenders Das finden von Flaschenpostflaschen verpflichtet zu nichz. Rükksendungen aller Art sind möglich. Brieftauben, telepathische Sendungen, Postkarten und andere Kommunikazionstechniken bitte immer mit Adressangabe und Antwortmöglichkeit. | 2. Seite: Telekommunikation: Wir leben in einer Zeyt der unterschiedlichsten Telekommunikationssysteme. Briefe sind durch Tele-Fax sekundenschnell verschikkt; mit Mobiltelephonen ist jeder immer und überall erreichbar; im Internet kann man aus einer Fülle von Kontaktangeboten auswählen. Doch trotz dieser vielen scheinbar direkten Kontaktmöglichkeiten leben immer mehr Menschen in Isolation. Jeder vierte Lohnabhängige lebt allein, ohne Fräundes- und Bekanntenkreis, ohne echte Begegnungen ausserhalb von Arbeyzplatz oder Supermarkt. (…) | Umweltschutz: Leere Flaschen sind ein schützenswerter Teil unserer Umwelt. Das duale System fordert von uns – ohne uns eine Gegenleistung anzubieten – die Herausgabe der leeren Flaschen, um sie zu zerstören und unter hohem Energieaufwandt näue Flaschen daraus zu gestalten. Der Umgang mit einer Umwelt ist immer auch symptomatisch fyr den Umgang mit einer Inwelt. Leere Gefühle, auf die es keine Eigentumsrechte gibt, werden weggeworfen, kleingehexelt und aus den Scherben näue, scheinbar ebenso anwendbare Gefühle zusammengeschustert. Leere Flaschen dem dualen System vorzuenthalten und als Mittel zur Telekommunikation zu verwenden ist der erste Schritt zu einer intakten Inwelt…