Urlaub am Don

Die südlichste Millionenstadt der Russländischen Föderation empfängt ihre Besucher mit zwei Gepäckslaufbändern am kleinen Flughafen. Dem aus Moskau kommenden Airbus 320 entsteigen Sonnenhungrige aus dem Norden und Arbeitsmigranten, die für zwei oder drei Wochen aus Deutschland anreisen, um den Urlaub bei daheim gebliebenen Verwandten zu verbringen. In zwei Jahren soll Rostow am Don zu einer Drehscheibe der Fußballweltmeisterschaft werden, wofür gerade ein neues Stadion am Flussufer gebaut wird.

Die Verkehrsinfrastruktur liegt im Argen. Straßenbahnen quälen sich Schienen entlang, die seit dem Ende der Sowjetunion keine Instandsetzungsarbeiten mehr gesehen haben und in den Nebenstraßen klaffen Schlaglöcher, die ganze Autoreifen verschlingen können. Ihre Schotterung erweist sich als sichererer Untergrund als der oftmals aufgerissene Asphalt, der vom Schatten großer Bäume trügerisch verdeckt wird und leicht zu achsbrechenden Fallen werden kann. Architektonische Meisterwerke aus der Zeit sowjetischer Hochblüte wie die in Form eines Flügelklaviers gebaute Philharmonie oder das als monströser Traktor am zentralen Exerzierplatz stehende Verwaltungsgebäude für die Landwirtschaft kontrastieren auffällig mit den überall sichtbaren Verfallserscheinungen. Hier, 50 Kilometer vor der Mündung des Don ins Asowsche Meer, kann man studieren, wie lange eine Stadt ohne nennenswerte Reparaturarbeiten funktionieren kann; es dürften gut und gerne 30 Jahre sein. Denn allen augenscheinlichen Defekten zum Trotz: Rostow ist eine quirlige Metropole, in der sich die Menschen an die Mängel gewöhnt haben. Die einen reagieren auf die schlechte Infrastruktur mit einer Verlangsamung ihrer Lebensweise, andere erhöhen Tempo und Risiko, wovor Verkehrsschilder mit dem Hinweis warnen: „Der Preis des Risikos: das Leben“.

Der Don selbst ist eine der wichtigsten Lebensadern des russischen Außenhandels. Die Dichte großer Frachtschiffe zeugt davon. Kohle aus dem weiter landeinwärts liegenden Schachti wird hier und im nahen Taganrok für den Export umgeladen; der Rostower Hafen ist – neben Novorossisk am Schwarzen Meer – der bedeutendste Umschlagplatz für Waren aller Art im Süden Russlands.

Von der US-amerikanischen und EU-europäischen Sanktionspolitik und dem russischen Gegenembargo für landwirtschaftliche Produkte ist hier nichts zu spüren. Die diesjährige Getreideernte soll eine der besten in den vergangenen Jahren sein und versetzt das Land in die Lage, Weizen und Korn zu exportieren. Die umliegenden Schwarzerde-Böden garantieren auch einen qualitätsvollen und reichlichen Gemüse- und Obstbau. Diesbezüglich herrscht in Rostow kein Mangel. Die Preise für frisches Obst und Gemüse allerdings machen Geringverdienenden und insbesondere Pensionisten ohne Zusatzeinkommen Sorgen. Wer als Lehrer umgerechnet 210.- Euro (15000 Rubel) monatlich verdient, wird sich edle Weintraubensorten zum Kilopreis von 2,50 Euro (200 Rubel) nicht leisten können. Tomaten und Kartoffel hingegen sind um 25 Eurocent zu haben und auch für Pensionisten mit einem Monatseinkommen von 120.- Euro erschwinglich.

Sowjetische Symbole sind in Rostow allgegenwärtig. Moskau-Kenner lässt die Häufigkeit und Intensität von Hammer & Sichel, roten Sternen und sowjetischen Aufschriften staunen. Straßen scheinen nach dem Ende der Sowjetunion nirgendwo umbenannt worden zu sein und Erinnerungstafeln an regionale Partei- und Arbeitergrößen säumen die Häuserzeilen. Selbstverständlich steht mehr als ein Lenin auf den Plätzen der Stadt herum und am zentralen Marktplatz des armenischen Stadtteiles Nachitschewan winkt einem Karl Marx überlebensgroß entgegen. Die Nostalgie an vergangene, bessere Zeiten tritt einem auch als Käufer im Supermarkt entgegen, wo eine der beliebten Eistüten die Aufschrift „CCCP“ ziert.

Mit Schlagbäumen versehene Sackgassen, vor denen Wärter die Wohnungen und Autos der „Gated Community“ dahinter bewachen, rufen einen dann wieder in die neue, postkommunistische Zeit zurück. Ein Besuch Rostows im Sommer 2016 ist zugleich eine Zeitreise in die Vergangenheit wie in die Zukunft nicht nur Russlands.

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