Politischer Frühling im russischen Winter?

Aus: LunaPark21 – Heft 17

Ende 2011 erreichte die globale Protestwelle Russland. Auslöser war der offensichtliche Betrug während der Duma-Wahlen am 4. Dezember. Nach der Präsidentschaftswahl drei Monate später, die Regierungschef Putin offiziell mit knapp 64 Prozent gewann, gab es erneut massive Betrugsvorwürfe der Opposition. Sie will das System Putin einreißen und fordert Neuwahlen, politische Reformen, eine unabhängige Justiz, das Ende der Medienzensur und die Direktwahl der Gouverneure. Bisher hat vor allem die städtische Mittelschicht demonstriert.

Die politische Stabilität der Putin-Jahre basierte auf einem gesellschaftlichen Kompromiss. Die Bevölkerung verzichtete auf politische Einmischung. Im Gegenzug garantierten hohe Energiepreise und der damit einhergehende Lohnanstieg einen bis dahin nicht gekannten wirtschaftlichen Aufschwung. Seit der Wirtschaftskrise befindet sich dieses Modell in der Krise. Die breite Teilnahme der Mittelschicht verwandelte die Demonstrationen in die größten Proteste der Ära Putin/Medwedjew. Studenten, hochqualifizierte Spezialisten, Angestellte und Privatunternehmer gingen aus Empörung über den Wahlbetrug und wegen ihrer allgemeinen Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage auf die Straße. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Levada-Zentrum war über die Hälfte der Demonstrierenden zwischen 18-39 Jahre alt. Es ist eine neue Generation, die in erster Linie in Russland und nicht in der Sowjetunion sozialisiert wurde. Auch die politische Selbsteinschätzung der Protestierenden ist bemerkenswert; die Mehrheit versteht sich als Demokraten (38 Prozent) und Liberale (31 Prozent). Die meisten Parteien reagierten auf den Protest zunächst überrascht, ehe sie sich bemühten, auf den fahrenden Protestzug aufzuspringen.

Opposition im System Putin

Grundsätzlich kann zwischen einer systemkonformen und einer außerparlamentarischen Opposition unterschieden werden. Unter erstere fallen die in der Duma vertretenen Oppositionsparteien: die Liberaldemokraten (LDPR) von Vladimir Îirinovskij, die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) unter ihrem Vorsitzenden Gennadij Sjuganow sowie die Partei „Gerechtes Russland“. Während letztere tendenziell sozialdemokratisch orientiert ist, bedienen sich sowohl die LDPR als auch die KPRF einer nationalistischen, oftmals rassistischen und antisemitischen Rhetorik. Alle Parteien bemühen sich darum, ihren Einfluss auf die Protestbewegung zu stärken und organisieren zu diesem Zweck eigene Veranstaltungen.

Die außerparlamentarische Opposition besteht aus unterschiedlichen Parteien und Gruppierungen. Dazu gehören legale, aber nicht im Parlament vertretene Parteien (die liberalen „Jabloko“ oder die „Rechte Sache“) sowie nicht zugelassene (Parnas) bzw. verbotene Parteien (Nationalbolschewisten). Viele bekannte Anführer der Parnas wie Boris Nemzow, Minister unter Jelzin, sowie Michail Kassjanow, Premier unter Putin, gehören zur politischen Elite des Landes. Ihr Rückhalt in der Bevölkerung ist daher gering.

Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von NGOs und sozialen Bewegungen, z.B. die Solidarnost- Bewegung von Gari Kasparow, die sozialistische „Linksfront“ mit ihrem prominenten Mitglied Sergej Udalzow sowie anarchistische und antifaschistische Gruppen.

Eine nicht zu unterschätzende Rolle in den Protesten spielen rechtsradikale Gruppen, die sich im Zuge der nationalistischen Rhetorik Putins lange Jahre ungestört entwickeln konnten. Organisationen wie die inzwischen verbotene „Bewegung gegen illegale Migration“ verbinden soziale Fragen mit nationalistischen Parolen und verfügen über eine mobilisierungsfähige Anhängerschaft.

Gespaltenes Russland

Zu Beginn vereinte die bunte und durchaus widersprüchliche Zusammensetzung der Opposition viele Menschen. Das wird nun zunehmend zum Problem. Trotz der großen inhaltlichen Differenzen will das Bündniss eine Spaltung um jeden Preis verhindern. Deshalb sind weiter reichende Forderungen als die oben genannten bisher nicht möglich. Der politische Konsens verharrt in unklaren Forderungen nach mehr Demokratie und weniger Oligarchie.

Außerdem distanziert sich das Protestbündnis nicht eindeutig von rechtsradikalen Gruppen und schafft mit der Gründung von Aktions- und Planungskomitees, wie der Bürgerbewegung, sogar Foren für eine Zusammenarbeit mit diesen. Dieses Vorgehen könnte die Akzeptanz für rassistische und nationalistische Parolen in der Gesellschaft weiter erhöhen.

Darüber hinaus vertiefen sich die inneren Konfliktlinien des Landes. Der Protest bleibt die Sache der Mittelschicht. Rentner, Arbeiter und Arbeitslose nehmen kaum daran teil. Dementsprechend spielen soziale Forderungen fast keine Rolle. Nur die Linksfront und anarchistische Gruppen sehen in der sozialen Ungerechtigkeit oder dem Verschwinden des produktiven Sektors ein gesellschaftliches Problem. Hier zeigt sich ein grundlegendes Problem der Opposition. Die extreme Abhängigkeit Russlands von Rohstoffexporten und westlicher Technologie wird zwar wahrgenommen. Über ein konkretes Programm zur wirtschaftlichen Umgestaltung des Landes verfügen die Opposition oder ihre einzelnen Akteure nicht. Das betrifft auch die ökologische Frage. So bleibt die Linke marginalisiert, während liberale Gruppen keine grundsätzliche Kritik an der Privatisierung üben. Doch so lange keine öffentliche Diskussion über die Akkumulation des gesellschaftlichen Eigentums durch einige wenige Profiteure oder den Zusammenhang zwischen ungerechter Einkommensverteilung und demokratischer Partizipation geführt wird, scheint eine weitreichende Demokratisierung Russlands schwer vorstellbar.

Es fällt auch auf, dass sich die Proteste hauptsächlich auf die Metropolen Moskau und St. Petersburg konzentrieren. Politisch und ökonomisch fällt der Rest des Lande immer mehr hinter die prosperierenden Zentren zurück und verkommt zu einem peripheren Hinterland. Die anhaltenden Konflikte im Nordkaukasus sind ein warnendes Beispiel, welche fatale Folgen eine solche Politik haben kann.

Die Proteste haben die Staatsmacht zweifellos zum Nachdenken gebracht. Ob es sich bei der Ankündigung, die Direktwahl der Gouverneure wieder einzuführen und Parteigründungen zu erleichtern, um mehr als nur ein Versprechen handelt, bleibt abzuwarten. Staatliche Repressionen gegen die unabhängige Wahlbeobachtungsorganisation GOLOS, die wie die Menschenrechtsorganisation Memorial in der Republik Komi mittlerweile als „extremistische Organisation“ geführt wird, lassen eher darauf schließen, dass sich an dem bisherigen von oben gelenkten Konsens nichts ändern soll. Politik bleibt vorerst die Herrschaft der Wenigen.

Felix Jaitner studiert Politikwissenschaft mit den Studienschwerpunkten Osteuropa und Internationale Beziehungen in Wien.

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