Besprechung von Fabian Scheidlers neuem Buch über die „Geschichte einer scheiternden Zivilisation“
Andrea Komlosy in Lunapark21 – Heft 30
Bücher über die Krise des Kapitalismus haben derzeit Konjunktur. Aus der Fülle der Neuerscheinungen ragt das Werk eines Generalisten heraus. Fabian Scheidler hat Geschichte und Philosophie studiert. Dass ihm mit „Das Ende der Megamaschine“ ein wahrhaft großer Wurf gelungen ist, liegt jedoch in seiner Erfahrung als Dramaturg, Theaterautor sowie Betreiber des globalisierungskritischen Fernsehmagazins www.kontext-tv.de. Der professionelle Hintergrund sorgt dafür, dass das Buch zu einer dramatischen Zeitreise durch die Weltgeschichte wird, eine Tragödie, allerdings mit dem Ausblick auf ein mögliches Happy End.
Das Buch folgt in konzeptioneller Hinsicht dem US-Soziologen Immanuel Wallerstein und seinem Hauptwerk „Das Moderne Weltsystem“, das die Entfaltung des Kapitalismus als ein Zusammenspiel von grenzenloser Kapitalakkumulation und territorial begrenzter Staatsmacht begreift. Bisher liegen, ebenfalls bei Promedia, vier von sechs konzipierten Bänden in deutscher Übersetzung vor. Wallerstein setzt mit der Herausbildung des Weltsystems – als Reaktion der Herrschenden auf den Zugewinn der Untertanen durch die Krise des Feudalismus – an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert ein, verfolgt die von Europa ausgehende globale Expansion und ungleiche internationale Arbeitsteilung, die Konkurrenz um Führungsmacht, die Verlagerung der Machtzentren von Genua über Amsterdam nach London und endet – vorerst – mit der Pax Britannica im 19. Jahrhundert, deren ökonomische Vorherrschaft auf der Durchsetzung eines liberalen Konsenses beruht.
Scheidler folgt nicht nur der Meistererzählung. Er erzählt sie zu Ende, wobei er sich bei der Gegenwartsanalyse an die Spätwerke Wallersteins hält, in denen dieser das unvermeidliche Ende des kapitalistischen Weltsystems konstatiert und die aktuellen Zuspitzungen von Krise, Rekolonisierung und Krieg als Ausdruck der hegemonialen Kräfte um Machterhalt interpretiert. Scheidler nimmt Wallerstein zudem beim Wort, wenn dieser als dritte Säule, neben Kapital und Staatsmacht, die Ebene von Ideologie und Legitimation einfordert. In Band 1-3 des Modernen Weltsystems kommt diese Ebene freilich zu kurz, Band 4 (Der Siegeszug des Liberalismus, 2012) misst ihr erstmals zentrale Bedeutung bei, weil, so Wallerstein, die Französische Revolution „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ zum Ideal der bürgerlichen Gesellschaft erhoben hat. Alle Folgeregime mussten, wenn sie erneut Ungleichheit hervorbrachten, Rechtfertigungsideologien ersinnen, um diese zu legitimieren oder zu verschleiern.
Das Himmelreich als Metapher
Scheidler misst der dritten Ebene von Anfang an Bedeutung bei, und zwar nicht erst seit dem 16. Jahrhundert, sondern zu jedem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte. Er fasst sie weiter als bloße Legitimierung der Macht und schließt Sinnstiftung, Identität sowohl als Herrschaftsinstrument, als Ausdruck von Überlegenheitsgefühl, Inklusion und Exklusion als auch als widerständige Praxis mit ein. Er beginnt bei der menschheitsgeschichtlichen Herausbildung sozialer Differenzierung im Zuge von Sesshaftwerdung, Überschussproduktion und überregionalem Austausch. Seit der neolithischen Revolution, die vor 5000 oder mehr Jahren im Zweistromland einsetzte und durch die archäologischen Zeugnisse und schriftlichen Überlieferungen allseits bekannt ist, bildeten sich Macht- und Herrschaftsmechanismen heraus: Privateigentum, Schulden, Geld, Schrift, Staatsgewalt, Metallurgie, Herrschergott und Gottkönigtum, lineares Denken.
Besonderes Augenmerk widmet Scheidler der Herausbildung des apokalyptischen Denkens. Mithilfe von materialistischer Machtanalyse und Traumaforschung interpretiert er das Christentum als entscheidende Komponente für das westliche Weltbild. Seit Alexander der Große im 4. Jahrhundert v.u.Z. die griechische Herrschaft nach Persien trug, unter seinen Nachfolgern und erneut unter der römischen Pax Augusta, waren die Menschen in Westasien durch Eroberungskriege, massenhafte Hinrichtungen, Schändung ihrer Tempel, Verbot ihrer Religion bis hin zur Vertreibung der Juden aus Jerusalem (70 n.u.Z.) schrecklichen kollektiven Traumata ausgesetzt. Als Reaktion bildeten sich soziale Jesus-Bewegungen, die für Frieden und Gerechtigkeit auf dieser Welt eintraten und das „Himmelreich“ als Metapher gegen die Totalisierung der Herrschaft verstanden. Gleichzeitig entstanden apokalyptische Vorstellungen, nach denen nur der totale Zusammenbruch und die Errichtung einer neuen Welt einen Ausweg versprachen. Das Heil wurde in die Zukunft verlagert. In der um 90 n.u.Z. verfassten „Offenbarung des Johannes“, als die Christenverfolgungen in Rom ihren Höhepunkt erreichten und die Aufstandsbewegungen in Judäa mit Brachialgewalt niedergeschlagen wurden, hieß es: „Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem von Gott her aus dem Himmel herabkommen“ (zit. nach Scheidler, S. 57). Das Neue Jerusalem war aber weder ein Ort für Menschen noch die Utopie einer gerechten und versöhnten Welt, sondern ein Ort der radikalen Spaltung der Menschheit in Auserwählte und Verworfene – eine Vision, die mit der Säkularisierung in Form neuer Ausschlussmechanismen wie Zivilisation/Barbarentum, Entwicklung/Unterentwicklung, bedürftige Arme/Sozialschmarotzer u.v.a.m. weiterlebte. Die Jesus-Geschichte, die eigentlich als Widerspruch gegen das Ende der Welt gedacht war, wurde unter den apokalyptischen Vorstellungen umgedeutet und selbst zum Träger von jenseitigen Himmeln und Höllen, die im Hier und Jetzt die Missionierung im religiösen wie im zivilisatorischen Gewande rechtfertigte.
Francis Bacon, der Wegbereiter der modernen Naturwissenschaften im 16. Jahrhundert, ließ das Neue Jerusalem in seinem utopischen Roman „Nova Atlantis“ wiederauferstehen, eine Insel in der neuen Welt, die von einer kleinen Schar von patriarchalen Wissenschaftlern beherrscht wird. Man trifft dort auf alles, was der Fortschritt verheißt, auf Hochhäuser, Tierversuche, Hochöfen und Wettermaschinen: an die Stelle des herrschenden Gottes tritt bei Bacon der Ingenieur (S. 109). Nebenbei erfahren wir, dass Bacon nicht nur Oberstaatsanwalt, Richter und Parlamentarier war, sondern auch Anteilseigner der von Parlament und Krone mit Monopolrechten ausgestatteten Virginia Company, die fast die gesamte Ostküste Nordamerikas als ihr Eigentum beanspruchte.
Patriarchat vergessen
Scheidler zieht für seine religionsgeschichtliche Argumentation u.a. David Graeber (Schulden, 2012) und John D. Grossan (Der historische Jesus, 1995) heran. Auch Walter Benjamin leistet ihm Schützenhilfe, wenn er in „Illuminationen“ (1977) „Geschichte“ als „einen unentrinnbaren Zeitpfeil deutet, der uns vorantreibt, weg von den schlimmen Vergangenheiten, hinein in eine Zukunft, in der wir dem eigenen Sturz zuvorkommen wollen durch eine permanente Überholung, Modernisierung und Spurenvertilgung, durch den Krieg gegen die Zeit, der nie zu gewinnen ist“ (Scheidler, S. 59). Die Herrschaftsmechanismen und Weltbilder sind also historisch vorgeformt, bevor sie sich im Modernen Weltsystem zur „Megamaschine“ verdichten; diesen Begriff entlehnt der Autor von Lewis Mumford (Mythos der Maschine, 1974).
Er unterbreitet einen plausiblen Vorschlag, wie die menschheitsgeschichtlichen Überlegungen eines David Graeber oder eines Andre Gunder Frank (The World System: Five Hundred Years or Five Thousand?, 1996) mit Wallersteins Zäsur im 16. Jahrhundert zusammengeführt werden können. Dabei vergisst Scheidler leider, auch das Patriarchat zu erwähnen und ignoriert die umfangreiche feministische Literatur zu dessen Formierung.
Das Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste legt, am Beispiel des antiken Westasiens, Griechenlands und Roms, untergliedert in die Kapitel „Macht“, „Metall“, „Markt“ und „Ohnmacht“ die seit dem Neolithikum herausgebildeten Grundzüge von Herrschaft dar, die Scheidler als „Die vier Tyranneien“ bezeichnet. Sie sind die Ingredienzien für die Ursprünge des westlichen Universalismus, die im zuerst christlichen, dann säkularisierten Missionsgedanken gipfeln. Sie liegen dem kapitalistischen, im 15./16. Jahrhundert zu einem von Westeuropa aus expandierenden System ungleicher internationaler Arbeitsteilung, der „Megamaschine“, zugrunde. Die Funktionsweise und Metamorphose der „Megamaschine“ sind Gegenstand des zweiten Abschnitts, untergliedert in „Monster“ (Neuformierung der Macht und Entstehung des modernen Weltsystems), „Maschine“ (Mechanistische Wissenschaften, Staatsapparate, Disziplinierung), „Moloch“ (Kohlekraft, totaler Markt und totaler Krieg), „Masken“ (Die Steuerung der Großen Maschine und der Kampf um Demokratie) und „Metamorphosen“ (Nachkriegsboom, Widerstandsbewegungen und die „Grenzen des Systems“). Die Kapitel durch den historischen Kapitalismus vom 15. zum 20. Jahrhundert folgen einem chronologischen Aufbau, der allerdings immer wieder durchbrochen wird: einerseits durch Rückgriffe auf die prägenden Einflüsse der Vorgeschichte des Modernen Weltsystems, andererseits durch konkrete Nachwirkungen in der Gegenwart, sei es in Literatur, Film, Architektur und Topographie, sei es in den Eigentumsverhältnissen. Zum Beispiel erfahren wir, dass der vom belgischen König Leopold von Sachsen-Coburg-Gotha 1884 als Privatbesitz eroberte, 1908 an den Staat verkaufte „Kongo-Freistaat“ auch heute wegen seines Kupfer-Reichtums begehrt wird. Die Societé génerale de Belgique setzte die in der Kolonialzeit begonnene Ausbeutung nach der Unabhängigkeit fort, bis sie im Konzern Suez Lyonnaise des Eaux aufging, der 2008 mit Gaz de France zum zweitgrößten Energiekonzern der Welt fusionierte (S. 145).
Bilder, Bildersprache, Machtsymbolik
Scheidler visualisiert seine Gegenüberstellungen mit Bildern: Im ersten Teil verweisen diese auf die Kontinuität altertümlicher Machtsymbolik mit modernen Herrschaftsvisionen. So springt einem die Ähnlichkeit zwischen dem mittelalterlichen Schwert Excalibur und dem nach diesem benannten Artilleriegeschoß, zwischen dem Homunculus des Dr. Faust und einem Retortenbaby oder zwischen der Vision des Himmlischen Jerusalem aus dem 16. Jahrhundert mit Le Corbusiers Plan für ein neues Paris geradezu ins Auge. Der zweite Teil betont die gesellschaftliche Polarisierung im Zuge der Zuspitzung globaler Ungleichheit, etwa durch Gegenüberstellung der Londoner Börse und der Opfer der indischen Hungersnot von 1877 oder der Operateurinnen in der US-Atombombenproduktion und der Bombenexplosion in Nagasaki.
Scheidler betont auf der einen Seite die Kontinuität der „Tyranneien“. Er folgt allerdings Wallerstein, wenn er die Neuzeit als Zäsur im Verhältnis von Staat und Wirtschaft darstellt. Waren die alten Regime vom Machtstreben der politischen Herrschaft getrieben, so vollzog sich die kapitalistische Neuordnung als Primat der Ökonomie. Diese bedient sich des Machtstrebens der politischen Herrscher, die Steuern benötigen. Die Wachstumsdynamik resultiert allerdings aus der Notwendigkeit einer exponentiell wachsenden Kapitalakkumulation, die sich maschinengleich, molochartig, Gesetzmäßigkeit und Botmäßigkeit verlangend weltweit ausdehnt und in die Zukunft frisst. Die Aufgabe der Legitimation und Motivierung, an der Herrschaft des Menschen über die Natur teilzunehmen, übernimmt die Vernunftreligion.
Das letzte Kapitel „Möglichkeiten“ (Ausstieg aus der Megamaschine) ist kurz und voll von ermutigenden Beispielen aus der Praxis sozialer Bewegungen. Es wechselt von einem analytischen zu einem hoffnungsvoll-voluntaristischen Stil. Wenn das Ende der zyklischen Erneuerbarkeit des kapitalistischen Weltsystems erreicht ist, kann es in einer Zeit des Übergangs, in dem die „Megamaschine“ auf ihrer Vorherrschaft beharrt, nur darum gehen, einerseits Widerstand zu leisten, andererseits eine neue, von Scheidler basisdemokratisch, partizipatorisch, ökologisch, kleinteilig und vielfältig konzipierte Welt-Kultur zu entwickeln, die er schon deshalb vorwegnimmt, weil Reziprozität im Umgang von Menschen und Natur die einzige Möglichkeit ist, die Wirren zu überstehen und eine solidarische, sozial gerechte Existenz zu eröffnen.
Andrea Komlosy ist Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Zuletzt erschien von ihr das Buch Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert (Promedia, Wien 2014).
Fabian Scheidler, Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation. Wien 2014, Promedia Verlag, 270 Seiten, 19,90 Euro.