Lernerfahrung: Tod

Was „Mit dem Virus leben lernen“ tatsächlich bedeutet

„Lasst uns also lernen, mit diesem Virus zu leben und uns weiterhin zu schützen, ohne unsere Freiheiten einzuschränken“, mit diesen Worten beschließt Boris Johnson eine Rede vor dem britischen Unterhaus, in der er seine Pläne zur Aufhebung sämtlicher gesetzlicher Bestimmungen im Umgang mit dem Corona-Virus erläutert. An die Stelle politischer Vorgaben sollen „gesunder Menschenverstand“ und die „persönliche Verantwortung“ treten. Wer sich mit Covid-19 infiziert, wird fortan gezwungen, weiter zur Arbeit zu gehen und sich und seine Mitmenschen zu gefährden. Welche Freiheit soll das sein, von der Johnson spricht?

Auch Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez, Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen oder der Schweizer Bundesrat Alain Berset rechtfertigen inmitten der Omikron- Welle ihre bewusste Entscheidung, die Menschen dem Virus völlig preiszugeben mit den Worten, dass es an der Zeit sei „mit dem Virus leben zu lernen“.

„Die Vorstellung, dass man lernt, damit zu leben, bedeutet für mich immer eine Kapitulation, ein Aufgeben“, meint Maria Van Kerkhove, die als Epidemiologin der Weltgesundheitsorganisation gemeinsam mit vielen Fachkolleginnen und -kollegen Kritik an den Beschlüssen zur freien Durchseuchung der Bevölkerung übt.

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„Holen wir uns die Elbe zurück!“

Alternative Hafenrundfahrt des Förderkreises Rettet die Elbe wird 40 Jahre alt

„Holen wir uns die Elbe zurück!“ – unter diesem Motto mobilisierten im Sommer 1981 junge Leute von Gorleben bis Cuxhaven gegen den steten Missbrauch der Elbe und ihre Entfremdung zum Industriekanal. Im Folgejahr wurde daraus die Alternative Hafenrundfahrt des > Förderkreises „Rettet die Elbe“ e.V. < (RdE): Herzlichen Glückwunsch zum 40. Geburtstag.

Sie nannten sich Kuttergruppe und sie wollten ihre Segelleidenschaft mit politischem Engagement verknüpfen: Von Hamburg ausgehend startete besagte Schar junger Menschen Ende Juni 1981 eine mehrwöchige Aktionsfahrt mit mehreren Dutzend Schiffen elbauf- und -abwärts. Mit Plakaten und Infotafeln, Vorträgen, lokalen Demos und Musik machten sie mobil und erregten nicht nur mediales Aufsehen. Aus der viel beachteten, aber einmaligen Aktion wurde im Folgejahr die Alternative Hafenrundfahrt als lokales Ereignis, das bis heute Bestand hat.

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Der Krieg des Kreml gegen die Ukraine

„Das Volk, das ein anderes unterjocht, schmiedet seine eigenen Ketten.“ Karl Marx*

Nie wieder Krieg. Nie wieder!**

Die Grafik von Käthe Kollwitz / in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts / mit Kohle / auf grobes Papier gemalt / gekratzt / geschabt / die Schwurhand / die zur Ikone wurde / gegen das Vergessen: 

Nie wieder Krieg. Nie wieder!

Kollektive Antwort auf das mörderische Massensterben im Ersten Weltkrieg / Ein Gesicht / verhärmt / vom Leid gezeichnet und dennoch der drohenden Gefahr entgegen gewandt / anklagend und doch fast stumm / der Schrei: 

Nie wieder Krieg. Nie wieder!

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Technik ist nicht wertfrei

Wir brauchen mehr demokratische Prozesse in der Technologieentwicklung

Interview mit Jutta Weber, Technikforscherin und Professorin für Mediensoziologie an der Universität Paderborn

Frau Weber, Sie sind unter anderem von der feministischen Technowissenschaft geprägt. Worum geht es da?

Die feministische Technowissenschaft ist in den 70er, 80er Jahren aus einer politischen Bewegung entstanden. Ausgangspunkt war die Kritik an der Militärtechnologie, an der Aufrüstung, aber auch an den Reproduktionstechnologien.

Wichtig wurde die Erkenntnis, dass spezifische Lebenslagen von Frauen in den Natur- und Technikwissenschaften nicht berücksichtigt wurden. In der Medizin, wurden Medikamente nach dem Standard „weißer Mann“ verordnet. In der Informatik ist der Großteil der Forscher weiß, männlich und oft jung. Dabei geht es nicht um eine essentielle Differenz zwischen Mann und Frau, aber unterschiedliche Lebenswelten führen zu unterschiedlicher Fokussierung. Ganz simpel zeigt sich das, wenn Schriftgrößen so klein sind, dass sie für Ältere kaum zu lesen sind oder wenn Verkehrsplanungen die Bedürfnisse von Müttern mit Kinderwagen oder von Behinderten nicht beachteten.

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Leistung, Kapital, Staat und Kommunalpolitik

Biontech basiert auf öffentlichen Geldern und bewirkt die Senkung von öffentlichen Einnahmen aus Kapitalerträgen

In der vorigen Lunapark21-Ausgabe besprach Jürgen Bönig das Sachbuch „Projekt Lightspeed“, das der Journalist Joe Miller zusammen mit Özlem Türeci und Ugur Sahin verfasst hat. Wer es liest, wird voller Bewunderung für die wissenschaftliche und unternehmerische Leistung eines Forscher-Ehepaars sein, das 2020 sehr schnell einen Impfstoff gegen das Covid-19-Virus entwickelt hat.

Der FDP-Bundestagsabgeordnete Johannes Vogel befindet, die Erfolgsgeschichte von Biontech „zeige auf, wie wir als Land sein könnten.“ Er folgt der liberalistischen Doktrin für die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme: Hightech, forciert durch geniale große Einzelne und findige Ingenieure plus Marktwirtschaft. Diese Erzählung soll im Folgenden geprüft werden.

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Putin als Bonapartist

Was nützt eine Kategorie des 19. Jahrhunderts für das Verständnis der gegenwärtigen Lage?

Es gibt zur Zeit zu viele Bonapartisten in der Welt, als dass deren Wandel sich friedlich vollziehen könnte. Putin scheint einer dieser Herrscher zu sein, deren Verhalten unvorhersehbar machtbesessen und auf die Erhaltung ihrer Herrschaft ohne Rücksicht auf die Kosten für sein Land und andere gerichtet ist.

Als Begriff wurde Bonapartismus erstmals auf die Herrschaft Louis Bonapartes, des Neffen von Napoleon angewendet. Louis-Napoléon Bonaparte oder Napoleon III. (1808-1873) wurde nach dem Aufstand der Pariser Arbeiter 1848 zum französischen Staatspräsidenten gewählt und machte sich 1851 durch einen Staatsstreich, wie zuvor sein Onkel Napoleon I., zum Diktator und 1852 zum Kaiser der Franzosen.

Karl Marx bemerkte, dass die Fähigkeit des Neffen Napoleons, scheinbar über den Klassen zu schweben und Gruppen und Klassen gegeneinander auszuspielen, mit der Transformation der französischen Gesellschaft zusammenhing, die die kapitalistische Produktionsweise in vielen Geschäftszweigen erst allmählich umzusetzen begann. Zu den Unterstützern Louis-Bonapartes zählte vor allem die große Masse der Bauern, die zum ersten Mal bürgerliches Eigentum an ihrem Grund und Boden hatten, und noch lernen mussten, dass ihre Landwirtschaft nicht nur Kraut und Rüben, sondern Geld und Zinszahlungen bedeuteten.

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Vielvölkerstaaten in Europa und ihr Schicksal

Ein Rückblick auf das 20. und ein Ausblick auf das 21. Jahrhundert

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs existierten in Kontinentaleuropa drei Staatsgebilde, die mit vollem Recht als Vielvölkerstaat bezeichnet werden können – das Osmanische Reich, das Russische Reich und Österreich-Ungarn –, im Unterschied etwa zu solchen multinationalen Gebilden wie der Schweiz und Belgien oder auch Staaten, in denen nationale beziehungsweise ethnische Minderheiten bis heute um ihre Unabhängigkeit vom Zentralstaat kämpfen oder wenigstens um einen autonomen Status innerhalb desselben, wie die Katalanen, die Basken, die Korsen. Im Unterschied zu den anderen europäischen Großmächten, insbesondere Frankreich und Großbritannien, hatten diese Vielvölkerstaaten ihre Kolonien nicht in Übersee, sondern sozusagen im eignen Land, denn die vom Kernland eroberten oder ihm angeschlossenen Gebiete standen unter der Herrschaft des türkischen Sultans, des russischen Zaren, des österreichischen Kaisers.

Nach dem Ersten Weltkrieg existierte keines dieser Großreiche mehr. Zwar entstanden der Vielvölkerstaat Jugoslawien und der Zweivölkerstaat Tschechoslowakei, aber beide hatten niemals die Bedeutung eines Großreiches; im Gefolge der Beendigung des Kalten Krieges zerfielen beide wieder in mehrere Nationalstaaten, wobei nur die Sezession von Tschechen und Slowaken friedlich verlief.

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Volk oder Gesellschaft?

„Das ukrainische Volk will den Frieden. Die ukrainischen Machthaber wollen den Frieden.“ Das sagte Wolodymyr Selenskyj am 24. Februar, kurz vor dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine den Bürgerinnen und Bürgern Russlands. Auf russisch – seiner Muttersprache, die der ukrainische Präsident noch vor dem Ukrainischen lernte. Es ginge aber nicht um Frieden um jeden Preis, sondern „um das Recht jeder Gesellschaft auf Sicherheit und das Recht jedes Menschen auf ein Leben ohne Bedrohung.“ Selenskyj, ein aus der Ukraine stammender Jude, macht einen Unterschied zwischen Volk und Gesellschaft..

Volk war vor der Französischen Revolution das gemeine Volk, das in der ständischen Gesellschaft politisch nicht mitzuwirken hatte.

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Geringes Wachstum trotz Rohstoffreichtum

Russland sucht ein neues Wirtschaftsmodell

Kein gutes Beispiel, das Litauen abgibt, ebenso wenig Estland. Und Lettland ist auch nicht viel besser. Lagen die baltischen Staaten 1995 beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf noch ungefähr gleichauf mit Russland, so haben die drei früheren Teilrepubliken der Sowjetunion die einstige Zentralmacht inzwischen deutlich hinter sich gelassen.

Seit 2004 Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft, demonstrieren die baltischen Staaten ihre wirtschaftlichen Erfolge samt liberaler Verfassung gleich hinter der Grenze, keine 200 Kilometer von St. Petersburg weg. Was sollen die Menschen in Russland davon halten?

Obwohl Wladimir Putin Land und Wirtschaft fest im Griff zu haben scheint, will es nicht recht voran ge-hen. Zwar hat sich das russische BIP seit 2005 verdoppelt, erreicht heute dennoch nur knapp die Hälfte des deutschen. Im selben Zeitraum hat China seine Wirtschaftskraft mehr als versiebenfacht. Auch Polen gibt kein schönes Beispiel ab, grenzt aber nicht an Russland, sondern an die Ukraine. Anfang der 1990er Jahre lagen beide Staaten auf einem ähnlichen Niveau. Doch dann tat sich eine Wachstumsschere auf. Eine Westorientierung der Ukraine nach polnischem Vorbild wollte Moskau unbedingt verhindern, hat jedoch das Gegenteil bewirkt. Während die ukrainischen Importe 2012 aus der EU wie aus Russland je ein Drittel betrugen, lag der Anteil Russlands 2020 noch bei acht Prozent.

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Aufrüstung in Eurasien

Von Kipppunkten war schon die Rede. Jetzt wird einiges gekippt werden. Abrüstung, Klimapolitik, Inflationsbekämpfung, Staatsfinanzen, Sozialetats. Nach der russischen Invasion der Ukraine geht manches über Bord.

Corona hat schon viel gekostet? Egal, 100 Milliarden für ein Sondervermögen Bundeswehr hauen wir raus. Und wegen eines Militäretats in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zieren wir uns auch nicht mehr. Bei 1,3 Prozent lagen die Kosten für Deutschlands Streitkräfte im vergangenen Jahr. Also auf die jährlich knapp 50 Milliarden Euro noch einmal die Hälfte drauf.

Kohle werden die Kraftwerke wieder verfeuern. Soll sich die Erderwärmung eben gedulden. First things first. Und Atomkraft gibt es ja auch noch.

Die Welt scheint verrückt geworden. Aber gemach, sie war es schon zuvor, wie Anne Rieger in folgendem Beitrag darlegt.

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