Lernerfahrung: Tod

Was „Mit dem Virus leben lernen“ tatsächlich bedeutet

„Lasst uns also lernen, mit diesem Virus zu leben und uns weiterhin zu schützen, ohne unsere Freiheiten einzuschränken“, mit diesen Worten beschließt Boris Johnson eine Rede vor dem britischen Unterhaus, in der er seine Pläne zur Aufhebung sämtlicher gesetzlicher Bestimmungen im Umgang mit dem Corona-Virus erläutert. An die Stelle politischer Vorgaben sollen „gesunder Menschenverstand“ und die „persönliche Verantwortung“ treten. Wer sich mit Covid-19 infiziert, wird fortan gezwungen, weiter zur Arbeit zu gehen und sich und seine Mitmenschen zu gefährden. Welche Freiheit soll das sein, von der Johnson spricht?

Auch Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez, Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen oder der Schweizer Bundesrat Alain Berset rechtfertigen inmitten der Omikron- Welle ihre bewusste Entscheidung, die Menschen dem Virus völlig preiszugeben mit den Worten, dass es an der Zeit sei „mit dem Virus leben zu lernen“.

„Die Vorstellung, dass man lernt, damit zu leben, bedeutet für mich immer eine Kapitulation, ein Aufgeben“, meint Maria Van Kerkhove, die als Epidemiologin der Weltgesundheitsorganisation gemeinsam mit vielen Fachkolleginnen und -kollegen Kritik an den Beschlüssen zur freien Durchseuchung der Bevölkerung übt.

Doch die Formel vom „Leben mit dem Virus“ ist nur bedingt Ausdruck von Resignation. Sie ist auch keineswegs neu. Bereits früh in der Pandemie galt dieser Satz all jenen als Euphemismus, die sich für eine Strategie der Herdenimmunität aussprachen und das Virus in seiner Ausbreitung nicht einschränken wollten. War doch von Beginn an offensichtlich, dass sich das Virus durch die Kreisläufe des Kapitals, in denen die Menschen gezwungen sind zu arbeiten, bewegt. Diese Zirkulation durfte nicht ins Stocken geraten. Freiheit meint stets die Freiheit des sich vermehrenden Kapitals. Wenn sich nun im dritten Jahr der Pandemie die Ideologie der herrschenden Klasse endgültig als allein herrschende Ideologie durchgesetzt hat, offenbart sich schnell, was es bedeutet „mit dem Virus leben zu lernen“.

Risikogruppen werden in komplette Isolation gezwungen. Zehntausende Long-Covid-Erkrankte erfahren ein „Leben mit dem Virus“ als zynische Beschreibung eines Alltags, den sie nicht mehr oder nur noch eingeschränkt bewältigen können.

Täglich 10.000 Corona-Tote weltweit

Mit Corona leben lernen bedeutet für viele Menschen, an dem Virus sterben zu müssen. Auch wenn Omikron und die steigende Immunität in der Bevölkerung in manchen Ländern zu einer niedrigeren Mortalität geführt haben, sterben im Februar 2022 weltweit zehntausend Menschen. An jedem einzelnen Tag. Auch in Deutschland, Frankreich, Spanien oder Großbritannien sind es weiterhin täglich jeweils 200 bis 300 Menschen, für die Corona keine „Lernerfahrung“, sondern schlichtweg das Ende ihres Lebens bedeutet. Nach zwei Jahren Pandemie scheint die Gesellschaft bereits so abgestumpft, dass diese Zahlen keinen Skandal mehr darstellen und als unausweichlich akzeptiert werden. Doch so wie die bereits vernichteten Menschenleben – die offizielle Zahl liegt bei knapp sechs Millionen Toten, der Economist geht in seiner kontinuierlich aktualisierten Übersterblichkeitsanalyse von einer wahren Todeszahl der Pandemie von 20,7 Millionen aus – nicht alternativl os waren, gilt auch für die zukünftigen Toten, dass sie vermeidbar sind. Und dass es Verantwortliche gibt.

Der Klassencharakter der Pandemie

Diese Auslöschung von Leben müssen wir im kollektiven Gedächtnis behalten. Umso mehr, als sich in ihr der Klassencharakter der Pandemie ganz unmittelbar materialisiert. In Großbritannien sterben die Menschen in den schlechtest bezahlten Jobs drei Mal so häufig wie diejenigen in den bestbezahlten Jobs. In Deutschland haben Hartz-IV-Empfängerinnen ein um 80 Prozent höheres Risiko, bei einer Infektion so schwer zu erkranken, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen. Bei den jungen Menschen unter 45 Jahren hat Covid-19 in den ärmsten Regionen Englands und Wales elfmal mehr Lebensjahre vernichtet als in den wohlhabenden Gebieten.

Die Pandemie ist erst zu Ende, wenn sie für alle zu Ende ist. Doch die Menschen im globalen Süden werden weiter daran gehindert, eine eigenständige Versorgung mit Impfstoffen aufzubauen. Die Gefahr von Mutationen bleibt bestehen. Auch hier bei uns. In den deutschsprachigen Ländern sind weiterhin ein Viertel bis ein Drittel der Menschen ungeimpft. Dieser von rechten Netzwerken stark beeinflussten Bewegung von Impfgegner:innen wissen die Regierenden nur mit einer von oben angeordneten Durchseuchung zu begegnen. Diese soll herstellen, was ihre katastrophale Impfpolitik nicht geschafft hat: eine möglichst umfassende Immunität in der Bevölkerung durch natürliche Erkrankung. Doch zu welchem Preis? Allein zwischen Juni und November 2021 hätten 163.000 Covid-19-Todesfälle in den USA durch eine Impfung verhindert werden können. Das ist fast doppelt so viel wie alle amerikanischen Kriegstoten in Korea, Vietnam, Afghanistan und Irak zusammen. Und die Ungeimpften sterben weiter.

Tatsächlich gäbe es viel zu lernen aus den Erfahrungen dieser zwei Jahren Pandemie. Welche Maßnahmen haben gewirkt? Welche nicht? Eine Studie, die auf der Website der Johns-Hopkins-Universität veröffentlicht wurde, sorgte zuletzt für große Aufmerksamkeit. Behauptet sie doch, dass Lockdowns während der ersten Corona-Welle kaum Leben gerettet hätten und folglich immer abzulehnen seien. Das Ergebnis klingt spektakulär – und ist völlig konstruiert. „Einen viel größeren methodischen Quatsch kann man nicht machen. Eine Bachelorarbeit hätte man mit der Studie nicht bestanden“, urteilt Andreas Peichl, Leiter des ifo-Zentrums für Makroökonomik und Professor für Volkswirtschaftslehre an der LMU München im Interview mit dem Bayrischen Rundfunk hart. Die Studie ist ein Musterstück an ideologisch geleiteter Wissenschaft. Peichl hält fest, dass das Studienergebnis bereits von vornherein festgestanden hat: „Die Studie wurde pas send dazu gemacht.“ Wer sich kurz mit Hauptstudienautor Steve Hanke befasst, kann ahnen, warum. Als Projektleiter beim Cato Institute, einem reaktionären US-Thinktank, und als Regierungsberater unter Reagan setzt er sich seit Jahrzehnten gegen staatliche Interventionen in Wirtschaft und Gesellschaft und für die Privatisierung öffentlichen Eigentums ein. In der Pandemie vertrat er lautstark reaktionär-liberale Positionen und bezeichnete beispielsweise Italiens Corona-Maßnahmen als faschistisch. Es ist also wenig verwunderlich, wenn ein ultraliberaler Ökonom in einer Studie feststellt, dass staatliche Maßnahmen unwirksam oder schädlich seien. Überraschen muss jedoch, wenn eine Organisation wie medico international eine solche Studie unkritisch in ihrem Newsletter teilt.

Es ist eine der wenigen positiven Errungenschaften dieser Pandemie, dass innerhalb des Wissenschaftsbetriebs eine noch nie dagewesene transparente und kollektive Zusammenarbeit entstanden ist. Forschungsergebnisse, Hypothesen und Analysen zu allen Aspekten der Pandemie wurden in Echtzeit mit der globalen Forschungsgemeinde, Journalist:innen und allen Interessierten – meist via Twitter – geteilt, diskutiert, kritisiert, weiterentwickelt. Doch genau dieses kollektive Wissen ignorieren die Regierenden, wenn sie die Durchseuchung gegen die Empfehlungen ihrer wissenschaftlichen Beraterinnen und Berater durchsetzen. Boris Johnson, der mit dem Aufheben aller Maßnahmen sein angezähltes Amt zu retten versucht, macht deutlich: Leitlinie einer solchen Pandemiestrategie ist das eigene politische Überleben, nicht das Leben der Menschen.

Verena Kreilinger ist Medienwissenschaftlerin und schrieb zusammen mit Winfried Wolf und Christian Zeller das Buch „Coronas, Kapital, Krise“ (PapyRossa; 2020). Im vorletzten Heft 55 von LP21 erschien von ihr ein Artikel mit dem Titel „Profit statt Prophylaxe. In der Corona-Pandemie verkommt der Infektionsschutz zur Privatangelegenheit“.