Lüge

In dieser Rubrik bringt Lunapark21 jeweils einen Eintrag aus dem Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM). Das HKWM erschien mit seinem ersten Band 1994, begründet und herausgegeben vom Philosophen Wolfgang Fritz Haug. Das Berliner Institut für kritische Theorie (InkriT) betreut seitdem das Projekt und sagt dazu: „Neben der Arbeiterbewegung und den sozialistischen und kommunistischen Erfahrungen sind es u.a. die Fragen der Umweltproblematik und vor allem der Frauenbewegung, die Eingang gefunden haben. Auch die Befreiungstheologie und die Fragen der postkolonialen »Dritten Welt« nehmen einen substanziell gefüllten, beträchtlichen Raum ein.“ Die Beitrage in der Nachfolge von Marx und Engels stehen mithin in einer Tradition des offenen, zukunftsfähigen Denkens.

Lüge

Lüge (L) ist nach Finanzkrise, Kurzarbeit, Mensch-Naturverhältnis, Kubanische Revolution, Misogynie, Landnahme und Klimapolitik das achte ausgewählte Stichwort aus der alphabetischen Stichwörtersammlung des HKWM, das wir hier auszugsweise zitieren. Dieser wiedergegebene Ausschnitt enthält mehr als man bei Eingabe des Links: http://www.inkrit.de/e_inkritpedia/e_maincode/doku.php?id=l:lüge zum Stichwort Lüge findet, aber wesentlich weniger als im Original. Das ist in fünf Abschnitte gegliedert und mit einer umfangreichen Bibliographie versehen. Der Bestellvorgang wird auf der Website des InkriT erläutert. (JHS)

Die Versuchung liegt nahe, sich von der alltäglich-zwischenmenschlichen Ebene dazu verleiten zu lassen, den besonderen Skandal der öffentlichen L in der unterschiedslosen Allgegenwart der L aufzulösen, zumal es kein „sprachliches Zeichen der L“ gibt, das den „Unterschied zwischen zynischen Herrenlügen und selbsterhaltenden, fröhlichen L.n der Beherrschten auch linguistisch deutlich machte2 (Götze 2014, 527). Die L-Problematik, die ihren Eingang ins HKWM verlangt, entspringt aber Verhältnissen staatlich-ideologisch reproduzierter Klassenherrschaft und führt ins Feld antagonistischer Kommunikation. Dasselbe Wort meint nicht dieselbe Sache, wenn auf unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse oder quantitativ und qualitativ verschiedene Mächte bezogen. Von gewaltgepanzerter staatlich-politischer Macht, von sozioökonomischen Herrschaftsmächten im ideologischen Klassenkampf-von-oben oder von den stummen Gebrauchswertversprechen der Warenà 4sthetik ausgehend, ist die L einseitig (nicht von gleich zu gleich erwiderbar) und grenzt an Manipulation.

Zur alltäglichen Handlungsfähigkeit gehört daher das Wissen von den Antagonismen, die als asymmetrische L-Generatoren fungieren. Ihr Ort ist die staatliche Ebene, die parastaatliche der ideologischen Mächte und die der gesellschaftlichen Großmächte des Kapitals. Ihre L-Emission stützt sich auf massenmediale Apparate, die, wenn nicht staatlich, so Privateigentum sind. Ihr Zeichenfundus beschränkt sich nicht auf sprachliche Aussagen, sondern zum Wort gesellen sich Gestaltung und Bild in multimedialer Inszenierung. Paradigmatisch ist das Beherrschen durch Bedienen in der Warenästhetik, wo die wortreiche Lobrede im wortlosen Äußeren der Warenkörper ankert. Die L haust hier in der Logik des Gegenteils: „Das Streben nach abstraktem Reichtum wird zur Quelle, aus welcher der sinnliche Schein sprudelt. Gerade die Gleichgültigkeit des Kapitals gegenüber dem Gebrauchswert äußert sich in dessen phantastischster Inszenierung.“ (Haug 2009, 230)

Etwa im gleichen Sinn, in dem Adorno sagt, es gebe „kein richtiges Leben im falschen“ (Minima Moralia, Aph. 18), wobei das „falsche“ hier dem gr. Ausdruck ψεῦδος (pseudos, Erg. der Red.) entspricht, fasst Brecht die Unwahrheit als einen »Prozess, keine Summe von möglichen und glaubbaren Tatsachlosigkeiten, und sie hat so lange schon alle Ausdrucksformen ergriffen und vor den Fragestellungen nicht haltgemacht« (GA 21, 585). So stellt die L-Frage sich zuletzt nicht im Sinne einzelner Sprechakte o. dgl., sondern als auf eine Totalität von Erscheinungen bezogenes Urteil über deren Unwahrheit.

»Die L wird zur Weltordnung gemacht« – mit diesem Satz aus Franz Kafkas Prozess (Kap. Im Dom) formuliert Walter Benjamin 1938 dasjenige, was in Brechts Furcht und Elend »dem Leser als die entscheidende These […] entgegentritt« (GS II.2, 517). Was hier aufs NS-Regime zielt, verallgemeinert Georg Lukács: In Deutschland könne „eine Harmonie zwischen den herrschenden Mächten und der deutschen Kultur nur vorgetäuscht werden und hat daher stets etwas Verlogenes. Diese L, die subjektiv nur allzu oft aus dem Selbstbetrug erwächst, vergiftet die ganze deutsche Kultur- und Geistesgeschichte.“ (1953, 12)

In der moralphilosophischen Literatur zur L. gilt das Interesse zumeist parajuristischen Unterscheidungen (…), um Grade der Verwerflichkeit bzw. Duldbarkeit zu bestimmen. Den Anfang macht eine objektive Unterscheidung nach wahr/falsch-Relationen in Aussagen; dann, unter dem Gesichtspunkt der moralischen Bewertung, die subjektive Unterscheidung nach dem Verhältnis des wahr Gehaltenen (Inneren) zum als wahr Geäußerten. Vom Standpunkt der ersten Unterscheidung dominiert das Interesse an Information über einen Sachverhalt, die allerdings, da nur vermittelt zu erlangen, nie vollkommen gewiss sein kann. Vom zweiten Standpunkt dominiert das Interesse an subjektiver Vertrauenswürdigkeit (Wahrhaftigkeit). […]

Lügen unterscheidet sich vom Belügen dadurch, dass ersteres intransitiv, letzteres transitiv gebraucht wird, also jenes den Lügner, dieses den Belogenen anzielt. Der Modus der Schuld, die dem L.-Subjekt moralisch angelastet wird, hängt von der gesellschaftlichen Position des Gegensubjekts ab, einer Macht, die das >Geständnis< fordern und die Definitionskompetenz für >L< und >Wahrheit< beanspruchen kann. Ist es Freund oder Feind, fremd oder vertraut, ranggleich oder unter- bzw. übergeordnet? […]

Der den moralphilosophischen L.n strafenden Praxis der Herrschenden macht Friedrich Nietzsche ein gutes Gewissen, indem er erklärt: „die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind“ (Kritische Studienausgabe 1, 880f). Diese Kritik ist nur der erste Schritt zur Rechtfertigung der kritisierten Wahrheitsillusionen: „mit ihrer Hülfe wird ans Leben geglaubt“, denn „wir haben L. nötig, um zu leben“ (KSA 13, 193). Diese Enthemmung gipfelt in der Inkubationszeit des Ersten Weltkriegs in Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob (1911), die den bürgerlichen >Jesuitismus< (>gut ist, was in der Konkurrenz/im Krieg nützt<) erkenntnistheoretisch legitimiert. Der L.-Vorwurf richtet sich im Schatten Nietzsches auch gegen die Entlarvung der Herrschafts-L . Und gegen das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft. […]

Es klingt im Nachhinein prophetisch, wenn Ernst Bloch 1923 im Geist der Utopie schreibt: „Ziehen Furcht und L ab, so mag es dem Staat gar schwer geraten, zu sein oder gar noch höhere Achtung zu erregen.“ (GA 3, 297) In der Tat untergrub der Primat von L und Gewalt die Nachhaltigkeit der zunächst spektakulär erfolgreichen Politik. „Als Spätfolge der stalinistischen Industrialisierungsdespotie“ versank der sowjetische Sozialismus schließlich in „Stagnation des Landes bei Apathie der Regierten, während unter den Regierenden Korruption sich ausbreitete, ein Zustand, den man in Anlehnung an die kapitalistische Stagflation >Stagruption< nennen könnte.“ (W. F. Haug: Gorbatschow. Versuch über den Zusammenhang seiner Gedanken. HH 1989, 23)