Märchen des Neoliberalismus Nr. 15
Zuerst erschienen im September 2018 im Heft 43
Soziale Produktivität der Care-Arbeit messen, bewerten und bezahlen
Die Größenordnungen, um die es bei der Frage dieses Artikels geht, sollen mit einigen wenigen Daten [1] aus dem zweiten Gleichstellungsbericht [2] dargestellt werden. Mit der Entwicklung des Indexes „Gender-Time-Gap“ stellte der Bericht fest, dass Frauen im Lebensverlauf durchschnittlich etwa 18 Jahre mehr an Gesamtarbeitszeit erbringen als Männer. Ein großer Teil dessen ist unbezahlte Care-Arbeit (Haus- und Sorgearbeit). Diese Ungleichheit spiegelt sich im Index „Gender-Care-Gap“ wider, der ermittelt, dass Frauen im Durchschnitt täglich etwa die Hälfte (52,4 Prozent = 87 Minuten) mehr an Care-Arbeit leisten als Männer. Die Verteilung variiert stark im Lebensverlauf. Der größte Unterschied wurde für das Alter von 34 Jahren ermittelt, wo Frauen täglich 111 Prozent mehr Care-Arbeit (5:18 Std.) leisten als Männer (2:31 Std.). Die Erwerbsarbeitszeit der Frauen ist demgegenüber mit durchschnittlich 16 Wochenstunden erheblich niedriger. Das Beispiel Niedersachsen macht deutlich, woher der „Gender-Lifetime-Earnings-Gap“ kommt. Dort dümpelt die Quote der sozialversicherten Beschäftigung Frauen bei nur 52 Prozent.[3] Etwa die Hälfte davon ist teilzeitbeschäftigt. Hinzu kommen 18,5 Prozent geringfügig entlohnte Beschäftigungen (Minijob). Die von der EU geforderte Erwerbsquote von 70 Prozent wird zwar erfüllt. Der Einkommensunterschied im Lebensverlauf beträgt aufgrund solcher Verteilungen bundesweit im Durchschnitt jedoch 48,8 Prozent.
Fallpauschalen im Interesse der Patienten oder der pauschale Fall Profit aus Krankheit
„Ich bin seit der Ausbildung vier Jahre im Beruf. Im Moment bin ich auf einer Station, wo die Patienten ihre Krebs-Diagnose bekommen und dann auch Betreuung brauchen. Aber das können wir bei unserer Personalsituation nicht genug leisten. […] Wenn ich in England bin und erzähle, dass ich eine nurse bin, dann sagen immer alle: ´Wow, krass, toll!´ Und hier kommt immer: ´Echt? Das tust du dir an?´“
Streiks und Aktionen für mehr Personal in Kliniken könnten eine Abkehr vom Marktsystem im Gesundheitswesen einleiten.
Der ARD-Deutschlandtrend vom August lieferte ein bemerkenswertes Ergebnis: Die meisten Menschen in diesem Land wissen immer noch, welches ihre wirklichen Probleme sind. Obwohl das politische und mediale Establishment kein anderes Thema mehr zu kennen scheint als Asyl und Flüchtlinge, halten das nur 39 Prozent der gut 1.000 Befragten für sehr wichtig. Vom Thema Gesundheitspolitik und Pflege meinen das 69 Prozent. Es ist damit „das Top-Thema für die Deutschen“, so die Meinungsforscher von infratest dimap.
lexikon
Bücher sind keine Tageszeitungen. Man kann von ihnen erwarten, dass sie länger aktuell bleiben und dass es deshalb lohnt, sie immer wieder einmal zu lesen. Dies gilt auch für einen schmalen Band, den Jürgen Kuczynski 1992 veröffentlichte: „Asche für Phoenix. Aufstieg, Untergang und Wiederkehr neuer Gesellschaftsordnungen“ und sein Buch „Vom Zickzack der Geschichte. Letzte Gedanken zu Wirtschaft und Kultur seit der Antike“, 1996.
Johann Gottfried Herder (1744-1803) begann seine „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ mit dem Kapitel „Unsere Erde ist ein Stern unter Sternen“ und mit dem Satz „Vom Himmel muss unsere Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen, wenn sie einigermaßen diesen Namen verdienen soll.“ Auch Marx hatte diesen universalhistorischen Blick, als er in den „Pariser Manuskripten“ vermerkte: „Die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen. Die Naturwissenschaft wird später eben so wohl die Wissenschaft von dem Menschen wie die Wissenschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine Wissenschaft sein.“ (MEW, Bd. 40, S. 544)
Grenzen sind in aller Munde. Sollen sie offen sein, damit Kapital, Waren und Menschen frei zirkulieren können? Oder bieten Migrationsregime, Kapitalverkehrskontrollen und Handelsprotektionismus die Möglichkeit, den Ungleichheiten, die aus Freihandel und Arbeitskräfteverschiebungen erwachsen, gegenzusteuern? Die Fronten sind verhärtet, die Kontroverse wirkt als Spaltkeil, der alte weltanschauliche Lager durcheinanderwirbelt. Die sozialen und wirtschaftlichen Grenzen, die uns alle betreffen, geraten durch die Konzentration auf die staatlichen bzw. suprastaatlichen Grenzen allerdings aus dem Blick.
Das Internet geht auf die US-Regierung zurück: Nach dem Sputnik-Schock 1957 gründete das US-Verteidigungsministerium die Advanced Research Project Agency (ARPA). Diese Agentur sollte die Überlegenheit der technischen Wissenschaften in den USA gegenüber der Sowjetunion wiederherstellen. Im Wesentlichen ging es um die Vorherrschaft im militärischen Kalten Krieg, insbesondere im möglichen Atombomben-Krieg. Hier stieg der Bedarf insbesondere der Air Force an möglichst schneller Beschaffung von Daten der Gegenseite, an Auswertung, Gegen- und Erstreaktion. Es ging um die Beherrschung des Luftraums. Das betraf die beiden Varianten der US-Militärstrategie von der „massiven Vergeltung“ bis zur „flexible response“.
Einen Tag vor der Übernahme des EU-Ratsvorsitzes feierte Bundeskanzler Sebastian Kurz gemeinsam mit seinem Vorgänger Bojko Borissow und Ratspräsident Donald Tusk auf 1900 Meter Seehöhe die Stabsübergabe von Bulgarien an Österreich. Keine 100 Zuseher hatten sich neben den paar Dutzend geladenen Gästen auf den Schladminger Hausberg Planai verirrt; bei der Ankunft der EU-Granden waren die Kamerateams in der Überzahl. Wenige Tage später trat dann EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Wien an der Seite des 31-jährigen österreichischen Regierungschefs vor die Presse und lobte den Jungspund für seine „pro-europäische Haltung“. Auf der riesen Plakatwand hinter den beiden, die im Tagungsort „Austria Center“ aufgespannt war, kreuzten Segelboote am Attersee und vermittelten eine Idylle, die sich nur wenige leisten können. Auch in Wien vermied das Ratsprotokoll den Kontakt mit der Bevölkerung.
Es könnte kaum ein passenderes Bild für die wohl größte Herausforderung der zukünftigen mexikanischen Regierung unter Präsident Andrés Manuel López Obrador in den kommenden sechs Jahren geben: Mitte September irrte im wahrsten Sinne des Wortes ein mit 157 Leichen überquellender Kühltransporter im Randbereich der 5-Millionen-Metropole Guadalajara im Bundesstaat Jalisco von Gemeinde zu Gemeinde. Weder Anwohner noch Gemeindeautoritäten wollten den Transporter, aus dem starker Verwesungsgeruch strömte, in ihrer Nähe haben. Der Hintergrund der Odyssee: Für die nicht identifizierten Leichen, vermutlich alle Opfer von Gewaltverbrechen, war schlicht kein Platz mehr in den Leichenhäusern von Jalisco. Eine vorherige Abstimmung mit den Gemeinden war der Staatsanwaltschaft aber nicht in den Sinn gekommen. Eine ähnliche Situation gab es vor nicht allzu langer Zeit im Bundesstaat Guerrero.