Soziale Grenzen in Bewegung


Zwischen Klassenschranke und globalem Verteilungskonflikt

Grenzen sind in aller Munde. Sollen sie offen sein, damit Kapital, Waren und Menschen frei zirkulieren können? Oder bieten Migrationsregime, Kapitalverkehrskontrollen und Handelsprotektionismus die Möglichkeit, den Ungleichheiten, die aus Freihandel und Arbeitskräfteverschiebungen erwachsen, gegenzusteuern? Die Fronten sind verhärtet, die Kontroverse wirkt als Spaltkeil, der alte weltanschauliche Lager durcheinanderwirbelt. Die sozialen und wirtschaftlichen Grenzen, die uns alle betreffen, geraten durch die Konzentration auf die staatlichen bzw. suprastaatlichen Grenzen allerdings aus dem Blick.

Wirtschaftliche und soziale Grenzen betreffen Unterschiede in der sozialen Stellung und im sozioökonomischen Entwicklungsstand von Personen, Gruppen und Regionen, die sich in Einkommen, Lebensqualität, sozialem Prestige, Teilnahme und Aufstiegsmöglichkeiten in der Gesellschaft niederschlagen. Sie beruhen auf ungleicher Macht-, Besitz- und Einkommensverteilung verschiedener sozialer Gruppen und Regionen innerhalb und zwischen Staaten. Diese Wohlstandsgrenzen sind Ausschlag gebend für das individuelle Glück im Leben.

Jede gesellschaftliche Veränderung – wie Industrialisierung, Urbanisierung, Bevölkerungsbewegung, Umbau von Güterketten, technologischer Wandel – führt zu neuen Anforderungsprofilen an die Menschen, die wiederum neue soziale Grenzziehungen nach sich ziehen und deren Ein- und Ausschlussmechanismen für die einen Aufstieg, für andere Abstieg mit sich bringt. Durch die Beweglichkeit der sozialen Grenzen kann leicht der Eindruck entstehen, jeder sei seines Glückes Schmied. In Wirklichkeit sind Wohlstandgrenzen genau so schwer zu überwinden wie Staatsgrenzen. Schwerer noch: Sie verbinden sich mit politischen und kulturellen Grenzen zu einander verstärkenden Räumen von Ein- und Ausschluss, aus denen es für die Unterprivilegierten oft kein Entkommen gibt.

Wer arm ist, kann sich die Übersiedlung aus Slums, Favelas oder zerstörten Dörfern in eine Region mit höheren Löhnen und Sozialstandards in der Regel nicht leisten. Schafft er oder – weniger häufig sie – es mithilfe von Fluchthelfern oder Anwerbeagenturen doch, die politische Grenze zu überwinden, so bleiben sie im unteren Segment des Arbeitsmarkts stecken: legal oder illegal; sie arbeiten aus Not oder unter Zwang zu niedrigen Löhnen, in prekären Verhältnissen. Das trifft ebenso auf die Wanderarbeitskräfte zu, die aus ländlichen Regionen Chinas in die aufstrebenden Küstenregionen nach Osten ziehen, wie auf die Migrantinnen und Migranten, die es aus Afrika oder Asien in die EU-Wohlstandsländer oder aus Mittel- und Südamerika in die USA schaffen. Sie tun all das, wozu in den Zentren zu diesen Bedingungen (noch) niemand bereit ist. Der wohlmeinende Appell zur Integration beschränkt sich auf Spracherwerb und Anpassung an metropolitane Werte und Sitten. Eine Integration in Richtung von Assimilation, die Überwindung der sozialen Schranke zum einheimischen Durchschnitt, steht nicht zur Debatte: diese soziale Grenze bleibt für die Arbeitsmigration fest geschlossen.

Der Klassencharakter des Welt-Raums

Dabei ist mit der Verfestigung der westlichen Vorherrschaft in den vergangenen 200 Jahren die regionale Ungleichheit gegenüber der sozialen Ungleichheit zunehmend in den Vordergrund getreten. Vor 1820 war Ungleichheit überall auf der Welt durch die sozialen Grenzen innerhalb der Staaten bedingt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs ging die Bedeutung innerstaatlicher Ungleichheit zugunsten von regionaler Ungleichheit im internationalen System zurück: 1913 markiert den Zeitpunkt, ab dem internationale Ungleichheit global gesehen schwerer wog als soziale Differenz im eigenen Land. Diese Tendenz verstärkte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts, um sich ab 1980 wieder in die entgegengesetzte Richtung zu entwickeln.

Der Weltbank-Ökonom Branko Milanovic hat dieses Verhältnis auf einer makro-statistischen Ebene für die Gesamtheit der Staaten im Zeitraum 1820 bis 2008 untersucht. Bei aller berechtigten Skepsis gegenüber aggregierten Makrodaten regt das Ergebnis zur Reflexion an.

Das Jahr 1820 stimmt mit dem Zeitpunkt überein, als Süd- und Ostasien ihre führende Rolle als Industrieländer der Welt gegenüber westeuropäischen Industrieländern, allen voran Großbritannien, und ab Ende des 19. Jahrhunderts auch gegenüber den USA einbüßten und Deindustrialisierung und Peripherisierung erlitten. Der Übergang von einer multipolaren zur einer unipolaren Weltordnung mit konkurrierenden, einander ablösenden westlichen Führungsmächten akzentuierte die Grenze zwischen Industrie- und Entwicklungsländern in einem Ausmaß, dass diese zur global Ausschlag gebenden Wohlstandsgrenze heranreifte. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wuchsen die Ungleichheiten im Weltmaßstab weiter an, während die Ungleichheiten innerhalb der Staaten abnahmen: einerseits aufgrund von Kriegszerstörungen, die nivellierend wirken, andererseits aufgrund des sozialen Ausgleichs durch staatliche Wohlfahrtspolitik in ihrer westlich-kapitalistischen und ihrer osteuropäisch-realsozialistischen Variante, wie dies u.a. Thomas Piketty in seinem Buch „Kapital im 21. Jahrhundert“ (2014) herausgearbeitet hat. In den Entwicklungsländern blieb trotz Entkolonialisierung die breite Masse der Bevölkerung arm, sodass die globale Schere im Wohlstandsniveau sich weiter öffnete.

Was aber ließ die globale Differenz seit 1980 zurückgehen und die sozialen Grenzen innerhalb der Staaten wieder ansteigen?

Wir interpretieren die Abschwächung der Zentrum-Peripherie-Kluft im Weltmaßstab als Ausdruck des Aufholens semiperipherer Entwicklungsländer, die im Zuge der Verlagerung der industriellen Massenproduktion an ihre Billiglohnstandorte die abhängige Position am unteren Ende der globalen Güterkette in eine Verbesserung ihrer Wertschöpfungsposition nutzen konnten. Diese Umkehr bedeutet kein Nachholen des gesamten Globalen Südens, sondern eine Differenzierung der „Dritten Welt“ in Newly Industrialized Countries, die zu Semiperipherien aufsteigen, und jene Entwicklungsländer, die als globale Peripherie nun nicht mehr nur der Peripherisierung durch alte Zentren, sondern auch durch aufsteigende Semiperipherien ausgesetzt sind, die die Ungleichheit erzeugenden Praktiken reproduzieren. Die globale Differenz bleibt also trotz der veränderten Tendenz hoch.

Die gleichzeitige Zunahme der innerstaatlichen Ungleichheit hat folgende Ursachen: Innerhalb der aufstrebenden Semiperipherien, insbesondere den bevölkerungsreichen Staaten China und Indien, aber auch in Brasilien oder Südafrika, entsteht eine sozioökonomische Dynamik, die einem Teil der Unterschichten den Aufstieg zur Mittelklasse ermöglicht. Dies verstärkt die sozialen Grenzen in den Emerging Markets der Semiperipherien. Die alten Industrieländer in Europa und Nordamerika erlebten durch die Verlagerung der industriellen Massenproduktion in Billiglohnländer eine Deindustrialisierung, der die im 20. Jahrhundert in die Mittelklasse aufgestiegenen Arbeiterschichten in ihrem Lebensstandard und ihren sozialen Sicherheiten erschütterte. Nicht nur waren und sind sie einer gewaltigen Umstrukturierung und Deregulierung der Arbeitsverhältnisse ausgesetzt, auch der Druck der Billiglohnkonkurrenz aus den Newly Industrializing Countries (NIC) setzte den sozialen Errungenschaften, die Gewerkschaften und Arbeiterparteien den Unternehmern in den Jahren der Wiederaufbaukonjunktur abringen konnten, ein Ende. Während flexibilisierte Berufskarrieren neue soziale Aufsteiger produzierten, erlebten die Mittelschichten der alten Arbeiterklasse deutliche Einbußen an Einkommen, Sicherheit und Teilhabe. Als klare Gewinner der gesellschaftlichen Veränderungen in den alten Zentren macht Branko Milanovic in seinem Buch Die ungleiche Welt. Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht (2016) die reichen 10 Prozent, vor allem aber das superreiche 1 Prozent aus, Gruppen, die seit 1980 einen immer größeren Anteil des Vermögens an sich ziehen konnten. So verstärkte sich die soziale Schere auch in den alten, nunmehr absteigenden (Nichtmehr)-Industrieländern.

Da Unsicherheit, Privatisierung der Sozialleistungen, steigende Lebenshaltungskosten und sinkende Kaufkraft den bisherigen Lebensstil in Frage stellen, entsteht soziale Unruhe. Die alten Mittelschichten erleben den Abstieg als Verlust und es beruhigt sie keineswegs, dass das Einkommensniveau der aufsteigenden Armen in den NICs deutlich unter ihrem eigenen liegt.

Die nach wie vor bestehende Einkommensdifferenz zwischen Nord und Süd ist allerdings ein Grund dafür, dass sowohl Marginalisierte und Ausgegrenzte, aber auch Mittelschichten aus dem globalen Süden, die sich am Lebensstil der alten Zentren orientieren, die Migration in die alten, ehemaligen Industrieländer als ein Mittel ansehen, um dem Elend zu entkommen bzw. ihre persönliche Lebenssituation und die ihrer Familien zu verbessern. Wer wohlhabend ist, kann sich Studienplätze, Aufenthaltsgenehmigungen und Staatsbürgerschaften kaufen. Auch wer sich auf Green Cards, Schwarz-Rot-Gold- oder Rot-Weiß-Rot-Cards um quotierte Einwanderung für Fachkräfte bemüht, zahlt über die Ausbildungskosten, die so vom Herkunfts- ins Zielland transferiert werden. Unternehmer und Staat im Zielland ersparen sich so, selbst in Qualifikation und Nachwuchs zu investieren. Aus der Perspektive des Kapitals sind aber auch die irregulär Zuwandernden willkommen, weil sie mit ihrer Bereitschaft zur Flexibilität dazu beitragen, Deregulierung und Prekarisierung gegenüber bestehenden Belegschaften durchzusetzen. Die Konkurrenz am Arbeitsmarkt ist dazu geeignet, Erwerbsarbeitslose zur Annahme prekärer Arbeitsverhältnisse zu motivieren. Diese erleben die Geflüchteten als Konkurrenz und folgen deshalb oft rassistischen Bewegungen und Parteien, die diese als Ursache für ihren Abstieg darstellen.

Die mannigfaltigen sozialen Auf- und Absteigenden überschreiten dabei soziale Grenzen. Unter den Bedingungen globaler Güterketten, in denen die Beschäftigten der verschiedenen Standorte gegeneinander ausgespielt werden, nehmen sie die eigene Situation weniger in Hinblick auf ihre Unternehmensleitungen, sondern im Rahmen des von diesen in Gang gesetzten Unterbietungswettbewerbs wahr. Beim sozialen Abstieg wird ein hohes Ausmaß an Unzufriedenheit freigesetzt, das für politische Radikalisierung sowie politische Instrumentalisierung anfällig ist.

Während Milanovic in seinen Politikempfehlungen in Hinblick auf die verlierenden Mittelschichten vor allem dafür plädiert, ihrem Abstieg durch Vermögensbildung und steuerliche Umverteilung anstelle von Sozialtransfers entgegen zu wirken, treibt ihn in der Migrationsfrage sein Glaube an die Allmacht des Marktes zu seltsamen Forderungen. Um den Einheimischen die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem globalen Süden – im Sinne eines globalen Ausgleichs der Lebenschancen – schmackhaft zu machen, plädiert er dafür, diesen – im Gegenzug für ihre Aufnahme – eine „beschränkte, weniger wertvolle Staatsbürgerschaft“ in Aussicht zu stellen.

Durch Förderung der Migration in besondere Rechtsräume, meint er, könne sich Armut und Ungleichheit in der Welt verringern. Eine neue soziale Grenzziehung entlang abgestufter staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten läuft indes darauf hinaus, Menschen in wertvollere und wertlosere zu trennen. Dies würde die globale Ungleichheit nicht überwinden, sondern politisch weiter verfestigen. Einen Vorgeschmack bieten die unterschiedlichen Aufenthaltstitel, mit denen Arbeitsmigrantinnen und –migranten schon heute den verschiedenen Kategorien des Arbeitsmarkts und der sozialen Sicherung zugeordnet werden.

Andrea Komlosy lehrt Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Dieser Beitrag basiert auf ihrem neuen Buch Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf (Promedia Verlag 2018).

http://documents.worldbank.org/curated/en/389721468330911675/Global-inequality-and-the-global-inequality-extraction-ratio-the-story-of-the-past-two-centuries