Anthropozän

Ideengeschichtliches zu einer wissenschaftlich umstrittenen Kategorie

Johann Gottfried Herder (1744-1803) begann seine „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ mit dem Kapitel „Unsere Erde ist ein Stern unter Sternen“ und mit dem Satz „Vom Himmel muss unsere Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen, wenn sie einigermaßen diesen Namen verdienen soll.“ Auch Marx hatte diesen universalhistorischen Blick, als er in den „Pariser Manuskripten“ vermerkte: „Die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen. Die Naturwissenschaft wird später eben so wohl die Wissenschaft von dem Menschen wie die Wissenschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine Wissenschaft sein.“ (MEW, Bd. 40, S. 544)

In den folgenden Jahrzehnten ging diese ganzheitliche Geschichtsperspektive weitgehend verloren. Zumeist traten an ihre Stelle getrennte Darstellungen von Natur– und Gesellschaftsgeschichte (die Urgeschichte des Menschen ausgenommen). Zwar wurde der jeweils große Einfluss der beiden aufeinander von ernsthaften Forschern nie in Abrede gestellt, aber schon Hegel meinte: „Wenn man sich… mit solchen Kategorien wie ‚großer Einfluss‘ begnügt, so stellt man beides in einen äußerlichen Zusammenhang und geht von dem Gesichtspunkte aus, dass beide für sich selbständig sind.“1 Gegenwärtig wird im Angesicht der ökologischen Krise zu Recht mehr und mehr in Abrede gestellt, dass Natur und Gesellschaft auf der Erde als gegeneinander selbständige Entitäten betrachtet werden können.

Ein in dieser Beziehung interessantes Beispiel für die neue Sicht ist der Beschluss einer Arbeitsgruppe der International Union of Geological Sciences (IUGS) vom 19. Mai dieses Jahres, dem Exekutivkomitee der IUGS vorzuschlagen, das Anthropozän als eine neue chronostratigraphische Einheit der Erdgeschichte zu definieren. Als seine indirekten Anzeiger (proxy signals) gelten die infolge der großen Beschleunigung von Bevölkerungswachstum, Industrialisierung und Globalisierung neuerdings akkumulierten Veränderungen, die sich in den durch menschliche Tätigkeiten veränderten Schichten der Geosphäre manifestieren und erhalten bleiben. Sein durch einen sog. Global Boundary Stratotype Section and Point (GSSP) definierter Beginn sollte aber auf die Mitte des 20. Jahrhunderts festgelegt werden, weil durch die damaligen Atombombenversuche langlebige künstliche Radionukleide erzeugt und weltweit verbreitet wurden, die als das dafür „schärfste und global synchro nste Zeichen (signal)“ angesehen werden können.2

Mit diesem relativ harten Schnitt3 wird der (geophysikalischen) Forderung entsprochen, dass ein GSSP im Globalmaßstab eindeutig festzulegen ist. Darüber hinaus soll wohl das Gegenargument entkräftet werden, dass die zuvor genannten „proxy signals“ zu weiche Indikatoren für einen GSSP seien, weil ihre Wirkungen auf den verschiedenen Erdteilen zu unterschiedlichen Zeiten eingesetzt hätten; es wurde erhoben, als Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen im Jahre 2000 den Terminus Anthropozän einführte und damit zum Ausdruck bringen wollte, dass die Menschheit um 1800, mit dem Eintritt in das Industriezeitalter, zu einem geologischen Faktor geworden sei.

Das aber war sie, zumindest im regionalen Maßstab, schon sehr viel früher geworden. Davon legen beispielsweise die infolge der Bewässerungswirtschaft im alten Mesopotamien durch Versalzung der Böden entstandenen Wüsten noch heute Zeugnis ab. Da aber faktisch jede Kultivierung des Bodens Veränderungen im natürlichen Ökosystem des davon betroffenen Gebiets bewirkt, kann, auch wenn derart frühe archäologische Zeugnisse nicht überliefert sind, angenommen werden, dass solche Veränderungen schon mit dem Beginn der Agrarrevolution im Neolithikum, also vor etwa 12 000 Jahren, einsetzten.

Diese Sicht wäre allerdings gleichbedeutend damit, das Anthropozän mit der geologischen Epoche des Holozän (im Altgriechischen etwa: das ganz Neue) zu identifizieren, womit einer der beiden Termini entfallen könnte. Übrigens setzte sich der Terminus Holozän erst 1865, auf dem 3. Geologischen Kongress in London, gegenüber dem bis dahin üblichen durch, dem 1833 von dem englischen Geologen Charles Lyell eingeführten „Present“ (zu Deutsch: die Gegenwart). Schon ein Jahr später kreierte der italienische Geologe Antonio Stoppani den Terminus „anthropozoische Epoche“, allerdings bezogen auf das bloße Vorhandensein menschlicher Spuren, weil seiner Ansicht nach „die Schöpfung des Menschen die Einführung eines neuen Elementes in die Natur“ sei.4 In eine ganz ähnliche Richtung deutet der 1914 von dem russischen Geologen Aleksej P. Pavlow (1854-1929) geprägte Terminus „Antropogen“; aus geochronologischer Sich t umfassen jedoch beide Termini, über das Holozän hinaus, das gesamte Quartär, also eine Zeitspanne von 2,6 Millionen Jahren.5

In diesen Kontext gehört auch eine Idee des russisch-sowjetischen Geowissenschaftlers Vladimir I. Vernadskyj (1863-1945), die dieser in den 1920er Jahren entwickelte: Die Biosphäre, die er erstmals zu einem eigenständigen Forschungsgegenstand erhob, werde seiner Ansicht nach durch die Tätigkeit des Menschen allmählich in Noosphäre verwandelt, also in eine Sphäre der Vernunft.6 Diese Vorstellung ist jedoch bislang ein nicht in Erfüllung gegangener Traum geblieben. Ganz im Gegenteil verwandelt sich die Erde zurzeit, unter der Herrschaft des Kapitals, mehr und mehr in eine Sphäre der Unvernunft in dem Sinne, dass die kapitalistische Produktion, um das bekannte Wort von Marx zu zitieren, „die Springquellen allen Reichtums“ – allen stofflichen Reichtums – „untergräbt: Die Erde und den Arbeiter.“

Dies führt unmittelbar zu der Überlegung des deutschen Politik- und Wirtschaftswissenschaftlers Elmar Altvater (1938-2018), den Terminus Anthropozän (in dem von Paul Crutzen formulierten Sinne) durch den des Kapitalozän zu ersetzen.7 Richtig verstanden, wird damit die mit der Industriellen Revolution einsetzende reelle Subsumtion (Unterordnung) der Weltgesellschaft unter das Kapital zum Ausgangspunkt einer neuen Epoche der Globalgeschichte in ihrer Einheit von Natur- und Gesellschaftsgeschichte (die „realsozialistischen“ Episoden inbegriffen). Die von Marx begründete Unterscheidung zwischen formeller und reeller Subsumtion (der Arbeit unter das Kapital) erhielte in dieser ihrer begrifflichen Trennschärfe eine ganz neue, weit über die politische Ökonomie hinausreichende Bedeutung. Ob sich allerdings der von manchen sicherlich als „ideologisch hoch belastet“ eingestufte Terminus Kapitalozän in der einen Wissenschaft (Marx) durch setzen wird, das steht auf einem andern Blatt – die Zukunft wird es zeigen.

Thomas Kuczynski lebt und arbeitet in Berlin

Anmerkungen:

1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 70).

2 Vgl. die Website der Working Group on the ‚Anthropocene‘ http://quaternary.stratigraphy.org: (abgerufen am 5. 11. 2019)

3 Relativ, weil es auch den Vorschlag gibt, ihn unmittelbar auf den 16. Juli 1945 zu datieren, den Tag, an dem der erste Atombombenversuch in den USA stattfand; vgl.

Was first nuclear test the start of new human-dominated epoch, the Anthropocene?
(abgerufen am 5. 11. 2019)

4 Vgl. Antonio Stoppani: Note ad un corso annuale di geologia dettate per uso degli ingegneri allievi del Reale istituto tecnico superiore di Milano, P. 1, 2. ed., Milano 1866, S. 208 = https://archive.org/details/bub_gb_qz_ajTdAk5IC/page/n211 (abgerufen am 5. 11. 2019).

5 Vgl. auch den Artikel Tchetvertitchnyj period (Quartär) in Wikipedia russisch (abgerufen am 5. 11. 2019)

6 Vgl. Vladimir I. Vernadskij: Der Mensch in der Biosphäre. Zur Naturgeschichte der Vernunft. Hrsg. v. W. Hofkirchner. Frankfurt/ M. etc. 1997.

7 Elmar Altvater: Anthropozän. Steigerungsformen einer zerstörerischen Wirtschaftsweise. In: Emanzipation. Zeitschrift für sozialistische Theorie und Praxis (Frankfurt/M.), Jg. 3 (2014), H. 1, S. 71ff.