Ungleichzeitigkeit

lexikon


Bücher sind keine Tageszeitungen. Man kann von ihnen erwarten, dass sie länger aktuell bleiben und dass es deshalb lohnt, sie immer wieder einmal zu lesen. Dies gilt auch für einen schmalen Band, den Jürgen Kuczynski 1992 veröffentlichte: „Asche für Phoenix. Aufstieg, Untergang und Wiederkehr neuer Gesellschaftsordnungen“ und sein Buch „Vom Zickzack der Geschichte. Letzte Gedanken zu Wirtschaft und Kultur seit der Antike“, 1996.

Der Verfasser übernimmt die bei Marx und Engels gebräuchliche Abfolge von Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus und Kapitalismus. Die orientalische Despotie wird knapp erwähnt, bleibt, weil für in dem von ihm entwickelten Gedankengang unerheblich, dann aber außerhalb der Erörterung.

Das Wort „Sklavenhaltergesellschaft“ nennt die Menschengruppe, die den gesellschaftlichen Reichtum erzeugte. Aber es gab noch eine zweite: die Kolonen – Pächter auf dem Land von Großgrundbesitzern. Ihre Zahl und Bedeutung nahm schon seit der Spätzeit der römischen Republik ständig zu und übertraf in der Schlussphase des Kaiserreichs wohl die der Sklaven.

In den Kolonen könnte man die Vorläufer der hörigen Bauern im Feudalismus sehen: Sie hatten kein eigenes Land, sondern bearbeiteten das der Adligen, denen sie abgabenpflichtig waren. (Die heute verbreiteten Nachnamen Hofman, Hoffmann, Lehmann und Maier, Meier, Meyer verweisen auf die Tätigkeit von Vorfahren.)

Man könnte sich vorstellen, dass durch die Kolonen schließlich die Gesellschaft der Sklavenhalter sich in eine andere transformierte: den Feudalismus, in dem formal freie, aber landlose Bauern an den Grund und Boden der Adligen gebunden und zur Ablieferung von Mehrprodukt an diese gezwungen (also ihnen „hörig“) waren.

Aber so war es nicht. Zwischendurch verschwand das Kolonat nämlich wieder. Am Ende der Kaiserzeit hatten die Latifundienbesitzer ein Interesse daran, die freien Bauern wieder zu versklaven, und dies gelang ihnen weitgehend. Allerdings gingen sie selbst in der Völkerwanderung unter. Die eindringenden Germanen kannten zwar zunächst nur Freie, aber die meisten von ihnen erfuhren im Laufe der Zeit dasselbe wie die römischen Pächter: sie wurden Leibeigene. Das Kolonat war nicht die Vorform einer neuen – der feudalen – Gesellschaft, sondern eine Art Einschluss, in der alten: der Sklavenhalterordnung.

Wer harmonisieren will, könnte meinen, dass die zeitweiligen Verlierer später doch gewonnen hätten: bei der Kolonisierung östlich der Elbe entstand dort um 1000 n. Chr. eine neue freie Bauernschaft, und westlich davon wurden aus Leibeigenen wieder Hörige. Da die Höhe ihrer Abgaben fixiert war und sie den Überschuss für sich behalten durften, waren sie an einer Steigerung der Arbeitsproduktivität interessiert, konnten einen Teil des Überschusses auf städtische Märkte bringen, und so hätte ein Weg in den Kapitalismus offen sein können.

Wieder war es in Wirklichkeit anders. Es gab keine Kontinuität der Erneuerung durch ein ständiges Weiter so. Eine erste Form des Kapitalismus ergab sich nicht durch Bauernbefreiung, sondern in den handelskapitalistischen oberitalienischen Stadtstaaten des späten Mittelalters, darunter Florenz, Genua und Venedig. Ein weiteres Mal blieb aber eine kontinuierliche Fortentwicklung aus. Der Feudalismus verleibte sich die frühkapitalistischen Städte meist wieder ein und wurde dadurch, dass er einige ihrer Innovationen – darunter Banken und Börsen – beibehielt, vitaler. Erst später erfolgte ein Durchbruch auf Dauer: in Nordwesteuropa. Als der Kapitalismus sich nach Nordamerika ausbreitete, kam es übrigens zur Wiederkehr einer sehr alten Ausbeutungsform: der Arbeit von und dem Handel mit Sklaven, ein Geschäft, aus dem in England der liberale Philosoph John Locke ein paar Einkünfte zog.

In unserer eigenen Zeit wurden immer wieder einmal Überlegungen angestellt, ob im Kapitalismus sich Übergangsformen zu einer künftigen Produktionsweise – man nahm an: des Sozialismus – fänden. Als solche wurden der Sozialstaat, öffentlich-rechtliches Eigentum und Regulierungen von Produktion, Absatz und Zahlungsverkehr, genannt. Gehe das so weiter, wachse der Kapitalismus in den Sozialismus hinein. Mit der marktradikalen Wende seit etwa dreißig Jahren wurde klar, dass dies wieder zunichte gemacht werden kann.

Damit ist aber noch lange nicht ausgeträumt. Jetzt wird viel von einer digitalen Allmende, den „commons“, geredet. Das Internet kann von allen genutzt werden, Informationen sind in einer früher nicht vorstellbaren Weise allgemein zugänglich. Die Phantasie reicht bis zur Ersetzung kapitalistischer Produzenten und Lieferanten durch den Eigenbau mit 3-D-Druckern und den Aufstieg der Konsumenten zu „Prosumern“.

Nicht nur historische Erfahrung kann hier vorsichtig machen, sondern auch die etwas genauere Beobachtung der Gegenwart. Die Prosumer nutzen unentgeltlich Daten, aber sie liefern auch ihre persönlichen Informationen an die Eigentümer der großen Digital-Unternehmen aus.

Commons hat es schon immer gegeben. Die orientalische Despotie können wir ausnehmen, denn das umfassende Staatseigentum war nur dem Herrscher zugänglich. In der römischen Republik gab es den ager publicus: erobertes Land in staatlichem Eigentum, das von reichen Leuten gepachtet wurde und auf dem ihre Sklavinnen und Sklaven arbeiteten. Öffentliches Eigentum kann eine Übergangsform sein – gegenwärtig nicht in den Sozialismus, sondern in die Privatisierung, sobald es rentabel wird. Der Kapitalismus in der Volksrepublik China ist mit staatlichem Eigentum an Grund und Boden vereinbar.

Zeitweilige Tendenzen sollten nicht durch Wunschdenken in die Zukunft projiziert, sondern in das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse eingeordnet werden. It’s the society, stupid!