Bewegung mit Potenzial


Streiks und Aktionen für mehr Personal in Kliniken könnten eine Abkehr vom Marktsystem im Gesundheitswesen einleiten.

Der ARD-Deutschlandtrend vom August lieferte ein bemerkenswertes Ergebnis: Die meisten Menschen in diesem Land wissen immer noch, welches ihre wirklichen Probleme sind. Obwohl das politische und mediale Establishment kein anderes Thema mehr zu kennen scheint als Asyl und Flüchtlinge, halten das nur 39 Prozent der gut 1.000 Befragten für sehr wichtig. Vom Thema Gesundheitspolitik und Pflege meinen das 69 Prozent. Es ist damit „das Top-Thema für die Deutschen“, so die Meinungsforscher von infratest dimap.

Und das zu Recht. Denn die Probleme im Gesundheitswesen sind gravierend. Allein in den Krankenhäusern fehlen nach ver.di-Berechnungen 162.000 Beschäftigte. Und in der stationären Altenpflege müssten 63.000 Fachkräfte zusätzlich eingestellt werden, nur um den bisher besten Personalschlüssel eines Bundeslandes (Bayern) in allen Ländern einzuführen. Die Personalnot in Krankenhäusern und Pflegeheimen führt dazu, dass „Menschen stundenlang in ihren Ausscheidungen“ liegen müssen, wie der Pflege-Azubi Alexander Jorde Kanzlerin Angela Merkel vor ziemlich genau einem Jahr in der ARD-Wahlarena erklärte – und sie damit kurzzeitig sprachlos machte. Seither ist die Regierung die Kritik nicht mehr los geworden, auch wenn sich Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) alle Mühe gibt, Aktivität zu simulieren. 84 Prozent der Menschen sind laut Umfrage davon überzeugt, dass sein „Pflegepersonal-Stärkungsgesetz“ keine spürbaren Verbesserungen bringen wird.

Auch damit haben sie Recht. Denn der vom Kabinett beschlossene Gesetzentwurf würde lediglich die schlimmsten Auswüchse der Personalnot verringern. Am Pflegebedarf orientierte Personalvorgaben sind darin nicht vorgesehen. Noch unzureichender sind die von Spahn per Verordnung auf den Weg gebrachten Untergrenzen für das Pflegepersonal in der Intensivmedizin, der Geriatrie, der Unfallchirurgie und der Kardiologie. Es ist absehbar, dass dies zu Verschiebebahnhöfen führen wird, bei denen Personal anderswo abgezogen wird, um Ausfälle in den vier Bereichen zu kompensieren. Doch auch in diesen garantieren die Vorgaben keine sichere Versorgung. So soll nachts in der Geriatrie eine Pflegekraft allein 24 Patientinnen und Patienten betreuen – als Untergrenze!

Streikerfolg in NRW

Einige Krankenhausbelegschaften haben aus diesen Erfahrungen den Schluss gezogen, dass es nicht bei Appellen an die Regierenden bleiben kann. Sie wollen auch ihren Arbeitgeber in die Verantwortung nehmen und fordern nach dem Vorbild der Berliner Charité Tarifverträge zur Entlastung. Die Beschäftigten der Unikliniken Düsseldorf und Essen haben sich damit gegen den erbitterten Widerstand der Klinikvorstände und der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) durchgesetzt. Anfang September unterzeichneten die Klinikleitungen einen Vertrag mit ver.di, was sie zuvor kategorisch ausgeschlossen hatten. In Düsseldorf waren dafür 44, in Essen 34 Streiktage nötig, an denen sich stets mehrere hundert Beschäftigte beteiligten.

Die Arbeitgeber führten diese Tarifauseinandersetzung als Grundsatzkonflikt. Sie wollten unbedingt vermeiden, dass Krankenschwestern ihnen in die Personalplanung reinreden können. In großflächigen Anzeigen machten sie ver.di für die eingeschränkte Versorgung und mögliche Patientengefährdungen verantwortlich. Die Gewerkschaft hielt dem entgegen: „Nicht der Streik gefährdet die Patientinnen und Patienten, sondern der Normalzustand.“

Die Klinikvorstände setzten offenbar darauf, dass der Streik in den Sommermonaten abbröckeln würde. Doch als das nicht eintrat, akzeptierten sie im Rahmen einer Schlichtung einen Kompromiss. Demnach schaffen beide Kliniken bis Ende Oktober 2019 schrittweise jeweils 180 neue Vollzeitstellen – 140 in Pflege und Funktionsdiensten (wie OPs), weitere 40 in anderen Bereichen. Nachts müssen alle Bereiche, mit Ausnahme weniger kleiner Stationen, mit wenigstens zwei Pflegefachkräften besetzt werden. Um die Ausbildung zu verbessern, muss zehn Prozent der Einsatzzeit von Azubis – nicht nur in der Pflege, sondern in allen Gesundheitsberufen – für strukturierte Praxisanleitung zur Verfügung stehen. Die für die Praxisanleitung Verantwortlichen müssen dafür freigestellt werden.

Kurzfristig werden laut Vereinbarung Sollbesetzungen für alle Bereiche der Pflege festgeschrieben. Mittelfristig wird ermittelt, wie viel Personal für die anfallende Arbeit tatsächlich benötigt wird. Auf dieser Grundlage wird dann eine neue Regelbesetzung festgelegt. Werden die Vorgaben unterschritten, muss das Management Sofortmaßnahmen ergreifen, zum Beispiel den Einsatz von Leasingkräften oder von Beschäftigten anderer Stationen, ohne dass dort deshalb Engpässe entstehen dürfen. Reicht das nicht und wird die vorgeschriebene Besetzung drei Schichten in Folge oder drei gleiche Schichtarten nacheinander (zum Beispiel Frühdienst Montag bis Mittwoch) nicht eingehalten, müssen Patientinnen und Patienten verlegt, Betten geschlossen oder OP-Programme reduziert werden.

Trotz der verpflichtenden Regelungen sind die Beschäftigten skeptisch, ob die Regelungen tatsächlich vollständig umgesetzt werden. Das drückt sich in der Urabstimmung aus, bei der mehr als jedes vierte verdi-Mitglied gegen die Einigung votierte. Die Erfahrungen in anderen Krankenhäusern belegen, dass das Misstrauen angebracht ist. Auch an der Charité, wo der bundesweit erste Tarifvertrag dieser Art erkämpft wurde, fehlt es an Verbindlichkeit und Sanktionsmöglichkeiten, wenn die Vorgaben unterlaufen werden.

Regierung unter Druck

Hier zeigen sich die Grenzen der Tarifbewegung für Entlastung. Die Belegschaften können die Klinikleitungen zwar zur Einstellung von zusätzlichem Personal zwingen – was neben der Charité bislang unter anderem an den vier baden-württembergischen Unikliniken und am privatisierten Universitätsklinikum Gießen und Marburg gelungen ist. Das grundsätzliche Problem der Unterversorgung lösen diese Verträge aber nicht. Hierfür sind flächendeckende Regelungen durch den Gesetzgeber erforderlich.

Ver.di fordert seit geraumer Zeit für alle Krankenhausbereiche verbindliche Personalvorgaben per Gesetz. Dagegen wehrt sich die Deutsche Krankenhausgesellschaft mit all ihrer Lobbymacht – bislang erfolgreich.

Die Tarifkonflikte spielen eine große Rolle dabei, die öffentliche Aufmerksamkeit zu erhalten und den Druck auf die Regierenden zu erhöhen. Deshalb ist es eine gute Nachricht, dass sich mit dem Uniklinikum des Saarlandes die nächste Krankenhausbelegschaft auf den Weg gemacht hat, für einen Entlastungs-Tarifvertrag zu streiken. Wie ver.di am 12. September mitteilte, haben 97,87 Prozent ihrer Mitglieder an dem Homburger Klinikum für einen unbefristeten Streik gestimmt.

Solche Arbeitskämpfe in Kombination mit vielen kleineren betrieblichen und öffentlichkeitswirksamen Aktionen haben den gesellschaftlichen Diskurs bereits grundlegend verschoben. Das vor rund 15 Jahren eingeführte Finanzierungssystem der Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) wird nicht mehr nur in linken Kreisen kritisiert. Die DRGs haben die Krankenhäuser in einen Preiswettbewerb getrieben, der insbesondere in den Servicebereichen und in der Pflege drastischen Personalabbau zur Folge hatte. Noch vor wenigen Jahren galt es im etablierten Politikbetrieb dennoch als Tabu, dieses System grundsätzlich in Frage zu stellen.

Das hat sich geändert. Gesundheitsminister Spahn hat angekündigt, die Finanzierung des Pflegepersonals „zu hundert Prozent“ aus den Fallpauschalen herauszunehmen und hier zum Prinzip der Selbstkostendeckung zurückzukehren. Würde das konsequent umgesetzt, wäre dies ein deutlicher Dämpfer für den marktwirtschaftlichen Umbau des Gesundheitswesens. Es hätte zur Folge, dass die Konkurrenz – zumindest beim Pflegepersonal – nicht mehr über Lohndrückerei und Arbeitsverdichtung ausgetragen werden könnte. Das wäre ein Riss im neoliberalen System, der erweiterbar ist. Die Bewegung für mehr Personal und Entlastung hat also durchaus das Potenzial, grundlegende Veränderungen anzustoßen.

Daniel Behruzi ist freier Journalist und schreibt regelmäßig zu gewerkschaftlichen und gesundheitspolitischen Themen.