Im Schatten des EU-Ratsvorsitzes:


Wiens Angriff auf die Grundlagen des Sozialstaates

Einen Tag vor der Übernahme des EU-Ratsvorsitzes feierte Bundeskanzler Sebastian Kurz gemeinsam mit seinem Vorgänger Bojko Borissow und Ratspräsident Donald Tusk auf 1900 Meter Seehöhe die Stabsübergabe von Bulgarien an Österreich. Keine 100 Zuseher hatten sich neben den paar Dutzend geladenen Gästen auf den Schladminger Hausberg Planai verirrt; bei der Ankunft der EU-Granden waren die Kamerateams in der Überzahl. Wenige Tage später trat dann EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Wien an der Seite des 31-jährigen österreichischen Regierungschefs vor die Presse und lobte den Jungspund für seine „pro-europäische Haltung“. Auf der riesen Plakatwand hinter den beiden, die im Tagungsort „Austria Center“ aufgespannt war, kreuzten Segelboote am Attersee und vermittelten eine Idylle, die sich nur wenige leisten können. Auch in Wien vermied das Ratsprotokoll den Kontakt mit der Bevölkerung.

Während inszenierte Medienereignisse die reibungslose Zusammenarbeit der österreichischen Regierung mit den Brüsseler Verwaltern ins rechte Licht rückten, versammelten sich auf dem Wiener Heldenplatz 100.000 Gewerkschaftsmitglieder gegen den von Kurz & Co. beschlossenen 12-Stunden-Arbeitstag. Die Bevölkerung – oder zumindest ein wesentlicher Teil von ihr – kämpft gegen den Angriff auf die Grundlagen des Arbeitsrechts und der Sozialversicherung, den die rechte Koalition aus ÖVP und FPÖ ausgerufen hat. Dieser manifestiert sich in zwei wesentlichen Bereichen: der Arbeitswelt und dem Gesundheitswesen.

Zwölfstundentag und Kürzung des Arbeitslosengeldes

Der Schlag gegen den Achtstundentag kam ohne Vorwarnung. Nur einen Tag nach dem Kongress des Österreichischen Gewerkschaftsbundes vom 14. Juni 2018, auf dem der neue Vorsitzende Wolfgang Katzian gewählt worden war, verkündete die rechte Regierung ihr Programm zur Arbeitszeitflexibilisierung. Um im weltweiten Konkurrenzkampf bestehen zu können, so Kanzler Kurz und seine Sozialministerin, sei eine Flexibilisierung der Arbeitszeit nötig. Diese wurde im Schnellverfahren und ohne Absprache mit den Gewerkschaften durch das Parlament gepeitscht und ist mit 1. September 2018 bereits in Kraft getreten. Künftig können Unternehmen ihre Arbeiterinnen, Arbeiter und Angestellten 12 Stunden pro Tag und – maximal – 60 Stunden pro Woche werken lassen. Der spontanen Empörung, die fallweise bis in bürgerliche Medien reichte, begegnete FPÖ-Chef Heinz Christian Strache mit dem Versprechen, die Ausweitung der Arbeitszeit würde auf freiwilliger Basis erfolgen und kein Unternehmer könne seine Arbeiter dazu zwingen. So steht es nun auch im Gesetz; die Wirklichkeit in der Arbeitswelt sieht freilich anders aus. Eine Druckerin an der Maschine oder ein Pflasterer auf der Baustelle werden wohl nicht lange ihre Jobs behalten, wenn sie in Zeiten von Auftragsspitzen auf Freiwilligkeit pochen.

Mit der gesetzlichen Ausweitung der Arbeitszeit auf zwölf Stunden täglich wurde eine gesellschaftliche Wende hin zur weiteren Deregulierung sozialer Maßnahmen vollzogen. Die liberale Agenda der Regierung zeitigt greifbare Erfolge … für das Kapital. Es ist 130 Jahr her, als mit der Novellierung der österreichischen Gewerbeordnung im Jahr 1885 erstmals eine Beschränkung der Arbeitszeit (auf elf Stunden täglich) gesetzlich verankert worden war. Nach dem Ersten Weltkrieg kam dann der Achtstundentag und 1975 die 40-Stunden-Woche. Nun geht es wieder in die andere Richtung. Die 40-Stunden-Woche bleibt zwar formal als Norm bestehen, in der Realität löst sie sich jedoch auf.

Einem gewerkschaftlichen Aufruf, dies nicht hinnehmen zu wollen, folgten am 30. Juni 100.000 Menschen. Die Wiener Innenstadt war fest in den Händen empörter Arbeiterinnen und Arbeiter. Der durchgestrichene 12er auf weißem Grund im Verbotsschild beherrschte das Terrain. Alles, was in der Sozialdemokratie Rang und Namen hat, ließ sich auf der Großdemonstration blicken und vergaß sogar kurzfristig, dass SPÖ-Vorsitzender Christian Kern ein halbes Jahr zuvor in seinem sogenannten „Plan A“ eine Arbeitszeitflexibilisierung inklusive eines Zwölfstundentages angeboten hatte, allerdings im Austausch mit sozialen Kompensationen, die nun nicht mehr zur Debatte standen. Und sogar christlich-soziale Gewerkschafter vor allem aus den westlichen Bundesländern, insbesondere aus Tirol, demonstrierten in die Hauptstadt. Sie trugen den durchgestrichenen 12er auf schwarzen T-Shirts und zeigten damit ihre Ablehnung gegenüber der Kurz’schen ÖVP, die unter der neuen Parteifarbe türkis – und nicht mehr schwarz – segelt.

Die kurzfristige Euphorie in der Linken, den anti-sozialen Angriff der Koalitionsregierung auf die Arbeitszeit als politischen Hebel für Widerstand nutzen zu können, verflog bereits wenige Tage nach der großen Demonstration. Da ging ein sozialdemokratischer Gewerkschafter zum Staatsanwalt und hinterlegte eine Strafanzeige gegen den Parteigenossen Helmut Köstinger, der sich als Vorsitzender der Postgewerkschaft in seiner Rede für einen Sturz der rechten Regierung angesprochen hatte, um dem neoliberalen Vormarsch Einhalt zu gebieten. Sein Gewerkschaftskollege zeigt ihn daraufhin wegen Verhetzung an, weil er „keine Zustände wie 1934 (dem kurzen Bürgerkrieg in Österreich; d. Verf.) oder während der RAF-Zeit“ wolle. Auf Einigkeit selbst innerhalb der sozialdemokratischen Gewerkschaft kann man also nicht zählen. Noch weniger, als dann Anfang August die Postgewerkschaft einen Vorstoß in Richtung Vier-Tage-Woche unternahm, die nun mit dem 12-Stunden-Arbeitstag möglich wäre. Sie würde sich, so der Tenor, mit dem Unternehmen auf eine 48-Stunden-Woche einigen und diese an vier Wochentagen abarbeiten. ÖGB-Boss Katzian sah darin eine positive Entwicklung, meinte aber, trotzdem gegen den 12-Stunden-Tag weiter kämpfen zu wollen. Die Bresche ist jedoch geschlagen. Wenn die Postler die 12-Stunden-Lösung akzeptieren, um im Ausgleich dafür einen Wochentag zu Hause bleiben oder ins Shoppingcenter fahren zu können, dann fehlt die Kraft für Widerstand; und die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung ist gewerkschaftlich vom Tisch. Einzig ein Frauenvolksbegehren hält an der Einführung einer 30-Stunden-Woche fest. Die rechte Regierung und die Unternehmer können sich ins Fäustchen lachen.

Das öffentliche Gesundheitssystem wird kaputtgespart

Mit dem Gesundheitswesen bereitet die türkis-blaue Koalitionsregierung den Abriss einer zweiten Säule des Sozialstaates vor. Die Vorarbeiten finden auf mehreren Ebenen statt. Harte Sparverordnungen sollen die Leistungen der Krankenkassen ausdünnen, auf dass später in einem zweiten Schritt diese Leistungsschwäche als Argument für die Einführung privater Versicherungen wird herhalten müssen. Dazu wird die gesamte Struktur umgemodelt, was einen Angriff auf die bisherige Selbstverwaltung der Kassen darstellt. Künftig werden die Unternehmer weniger in den Gesundheitstopf einzahlen und dafür mehr über dessen Verwendung bestimmen können.

Die bereits ausgesprochenen Sparvorgaben sind existenzgefährdend. So sollen die Krankenkassen bereits im kommenden Jahr einen dreistelligen Millionenbetrag weniger ausgeben und bis 2012 2000 Stellen (von insgesamt 19.000) abbauen; bis 2027 soll das Personal nochmals um 4000 Angestellte schrumpfen. Um die Ernsthaftigkeit ihres Vorhabens zu unterstreichen, verfügte Gesundheitsministerin Beate Hartinger-Klein (FPÖ) einen kompletten Ausgabenstopp bis Ende 2019. Bis dahin dürfen nur mehr befristete Arbeitsverträge mit Ärzten abgeschlossen; sämtliche Bauvorhaben müssen eingestellt werden. Dies betrifft ein Volumen von 400 Millionen Euro für geplante Spitalbauten, Rehabilitationszentren, Ambulatorien und andere Einrichtungen. Das System der öffentlichen Krankenversicherung wird damit kaputtsaniert.

Organisatorisch schlägt sich dieser Kahlschlag in einer völligen Umstrukturierung der Kassen nieder. Anstelle der bisher neun regionalen Krankenkassen wird es künftig eine zentrale sogenannte „Gesundheitskassa“ mit entsprechenden Regionalstellen geben. Der Sinn der Sache erschließt sich, wenn man sich den damit gleichzeitig geänderten Vorstand ansieht. In der bisherigen Selbstverwaltungsstruktur stellten Arbeitervertreter mit 4:1 die Mehrheit gegenüber Unternehmern, was schon deshalb Sinn macht, weil die Mehrheit derjenigen, die die Versicherungsleistungen in Anspruch nehmen, Lohnabhängige sind. In Zukunft wird das Machtverhältnis an der Spitze 2:2 betragen. Damit wird wohl im Konfliktfall die Regierung, die offiziell im Selbstverwaltungskörper nicht vertreten ist, die entscheidende Stimme haben.

Erste – zaghafte – Proteste gegen das Aushungern des öffentlichen Gesundheitswesens fanden in Wien und Linz statt. Ende Juni demonstrierten in der oberösterreichischen Landeshauptstadt mehrere tausend Menschen gegen die Zentralisierung der Krankenkassen und das Kaputtsparen der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA). Auf diese eigenständige Organisation, die insbesondere Arbeitsunfälle behandelt, hat es die rechtsliberale Regierung besonders abgesehen. Sie nützt die Tatsache, dass in den AUVA-Krankenhäusern zunehmend auch Freizeitunfälle behandelt werden, um den Unternehmern eine Beitragskürzung für die Unfallversicherung zuzugestehen und damit die Existenz der Unfallversicherungsanstalt insgesamt infrage zu stellen. Während die Ärzteschaft dagegen mobil macht, versucht man sich in den Büros der Krankenversicherungen weg zu ducken. Die Regierung stößt mit ihren Angriffen auf den Sozialstaat – noch? – auf bedenklich wenig Widerstand.