„Bei der Rente leben die Alten auf Kosten der Jungen!“

Märchen des Neoliberalismus Nr. 15

Zuerst erschienen im September 2018 im Heft 43

Es war einmal ein Zentralorgan des deutschen Kapitals, das sich der Interessen seines Publikums sehr bewusst war. Diese Frankfurter Allgemeine Zeitung wusste im April 2016 zu verkünden: „Die Regierung beschenkt die Rentner mit einem deutlichen Plus. Bezahlen muss dafür die junge Generation: Entweder steigen die Rentenbeiträge oder aber das Renteneintrittsalter.“ Dass solcherlei Alarmismus längst auch im Mitte-Links-Lager verfangen hat, zeigte sich im Spätsommer 2017. Die SPD, die nach eigener Aussage „Gerechtigkeit“ ins Zentrum ihres damaligen Bundestagswahlkampfs stellen wollte, versprach zwar, ein weiteres Absinken des Rentenniveaus zu verhindern, beeilte sich aber sofort zu ergänzen: „Gleichzeitig sollen die Beiträge in die Rentenkasse die junge Generation nicht erdrücken.”

FAZ und SPD unterstellen hier, dass ausreichende bzw. bessere Leistungen der Gesetzlichen Rentenversicherung ältere Menschen auf Kosten junger Menschen bevorteilten. Ältere bekämen Leistungen, die die Jüngeren zu bezahlen hätten. Was eine übermäßige Belastung darstelle. Wer so argumentiert, übersieht allerdings, dass die Jüngeren später auch selbst Renten beziehen. Genau das ist die Idee des so genannten Generationenvertrags: Abhängig Beschäftigte finanzieren während ihres Arbeitslebens die Renten der Nicht-Mehr-Arbeitenden, um später selbst eine Rente zu beziehen, die von den dann abhängig Beschäftigten finanziert wird. Damit aber sind hohe Renten durchaus im Interesse auch der Jüngeren: Denn unter heute durchgeführten Rentenkürzungen werden sie später selbst zu leiden haben, weil auch ihre eigenen Renten dann niedriger ausfallen.

Genau genommen werden Jüngere durch heutige Rentenkürzungen sogar doppelt benachteiligt. Denn in Deutschland und vielen anderen Ländern werden Renten keineswegs nur durch abhängig Beschäftigte finanziert, sondern auch durch deren Arbeitgeber. In Deutschland müssen sich letztere – im Regelfall – zur Hälfte beteiligen. Kürzt eine Regierung nun die Renten für Ältere, so sinken zwar rechnerisch auch die von den jüngeren abhängig Beschäftigten zu zahlenden Beiträge. Das ist für sie aber nur scheinbar von Vorteil. Denn von den schlechteren Rentenleistungen sind sie alleine betroffen, während von den niedrigeren Beiträgen auch ihre Arbeitgeber profitieren. Vereinfacht gesagt: Jede Rentenkürzung um einen Euro (oder jede unterlassene Leistungsverbesserung um einen Euro), von denen aktuelle oder zukünftige Rentnerinnen und Rentner betroffen sind, führt für sie nur zu 50 Cent niedrigeren Beiträgen. Auf einen Euro zu verzichten, um 50 Cent mehr in der Tasche zu haben – so schlecht wirtschaftete nicht einmal der bayerische König Ludwig II. mit seinen Märchenschlössern!

Was aber, wenn wegen des demografischen Wandels der Generationenvertrag massiv unter Druck gerät? Genau das unterstellt, wer das eingangs dargestellte Rentenmärchen erzählt: Es steige bekanntlich die Zahl der Rentnerinnen und Rentner beständig an, während die Zahl der beitragszahlenden abhängig Beschäftigten tendenziell zurückgehe. Damit wüchsen die Rentenlasten für die Jüngeren auf ein untragbares Maß. Dabei handelt es sich allerdings schlicht um ein weiteres Rentenmärchen. Denn diese Argumentation lässt völlig außen vor, dass auch in Zukunft die Produktivität weiter ansteigen wird. Dank technologischer Neuerungen und zunehmender Bildung produzieren die Menschen pro Arbeitsstunde immer mehr. Eine solche steigende Produktivität aber führt (entsprechende Lohnsteigerungen vorausgesetzt) dazu, dass auch eine sinkende Zahl abhängig Beschäftigter immer höhere Einkommen erwirtschaftet. Zwar sind steigende Beitragssätze zu erwarten, aber dieser Anstieg führt nicht zu geringen Nettolöhnen – der Anstieg der Produktivität wird trotz höherer Rentenbeiträge für höhere Löhne nach Abzug aller Steuern und Sozialabgaben sorgen.

Auf diese Weise werden sich steigende „Rentenlasten“ finanzieren lassen – zu Gunsten der heutigen wie auch der zukünftigen Rentnerinnen und Rentner. Nur die Arbeitgeber haben dann das Nachsehen, denn sie müssen weiter zur Hälfte mitfinanzieren. Das ist zwar weder schlimm noch ungerecht, dürfte aber der tatsächliche Grund für das Jammern über die angebliche Belastung der Jungen sein.

Kai Eicker-Wolf ist Ökonom und arbeitet als Gewerkschafter in Frankfurt/Main – Patrick Schreiner arbeitet als Gewerkschafter in Berlin und betreibt den Blog www.blickpunkt-wiso.de .