Schuldenturm, Ausverkauf und soziale Misere

Kein Ende der sozialen und ökonomischen Krise Griechenlands

Am 21. August 2018 erklärte Alexis Tsipras den Ausstieg Griechenlands aus den Memoranden. Der Ort, an dem er die frohe Botschaft verkündete, war die Insel Ithaka, die Heimat des homerischen Helden Odysseus, die er nach zehnjährigem leidvollem Herumirren wiedergefunden hatte. Tsipras sah darin eine Duplizität der Ereignisse – die Wirklichkeit imitierte den Mythos. „Wir haben seit 2010 eine Odyssee erlebt”, sagte er in Anspielung auf die Leiden seiner Landsleute. Das griechische Volk habe es jedoch geschafft, die Herrschaft der Troika abzuschütteln. Dies sei nun der Tag der Erlösung. „Ithaka wird wieder mit dem Ende einer modernen Odyssee identifiziert werden“. Das Land gewönne nun, nach der achtjährigen Herrschaft der Troika, seine Souveränität zurück.
Die Wirklichkeit sieht anders aus und ist eine dreifach bittere. Erstens wird das Land grundsätzlich eine Schuldenkolonie bleiben. Zweitens findet ein umfassender Ausverkauf statt. Und schließlich – drittens – bleibt die soziale Lage für den Großteil der Bevölkerung katastrophal.

Griechische Schuldenkolonie von EU-Gnaden


Die Staatsverschuldung Griechenlands befindet sich auf einem Niveau, das unter normalen Bedingungen einen Staatsbankrott rechtfertigt. Und dieses Niveau stieg, je mehr die EU respektive die Troika – bestehend aus EU, EZB und IWF – dem Land „half“. Lag die Staatsschuldenquote – der Anteil aller öffentlichen Schulden am Bruttoinlandsprodukt – zu Beginn der Krise 2009 bei 127 Prozent des BIP, so stieg sie bis Mitte 2018 auf 180 Prozent an. In absoluten Zahlen nahmen die Staatsschulden bei gleichzeitig sinkender Wirtschaftsleitung von 301 Milliarden auf 326 Milliarden Euro zu. Mit der Konkurrenzfähigkeit, die vorgeblich mit der als „innere Abwertung“ bezeichneten Senkung von Löhnen und Sozialleistungen wiederhergestellt werden sollte, sieht es nicht besser aus. Nach wie vor ist die Handelsbilanz negativ, d.h. es wird mehr importiert als exportiert. Die Investitionen bewegen sich noch immer weit unter Vorkrisenniveau. Gleiches gilt für das Konsumniveau, das auch 2017 weiter gesunken ist.
Dabei wird das Land unter verschärfter Beobachtung. Die Vertreter der Gläubiger werden in den griechischen Ministerien ein- und ausgehen und prüfen, ob alle Auflagen eingehalten werden. Die Kontrollen werden so lange durchgeführt werden, bis das Land 75 Prozent seiner Schulden beglichen hat. Das ist nach aktuellem Plan im Jahr 2050. Für mögliche „Verfehlungen“ sind weitere Sanktionen vorgesehen. Dieses Kontrollsystem ist bei weitem strenger als das „Post Programme Monitoring“ für Portugal, Irland, Spanien und Zypern, Lände, die bereits aus dem Programm entlassen wurden.
Laut Tsipras könne das Land sich nun selbst helfen – u.a. durch Kredite auf dem offiziellen Finanzmarkt. Doch die Rendite des griechischen zehnjährigen Bonds – das, was Griechenland im Fall der Ausgabe neuer Staatsanleihen bezahlen muss – lag Ende August 2018 bei mehr als 4 Prozent. Das ist für eine schwache Wirtschaft wie die griechische unerträglich hoch. Zum Vergleich: Für die irischen zehnjährigen Staatsanleihen muss Dublin eine Rendite von nur 0,8 Prozent gewähren. Was also in Griechenland in der realen Wirtschaft gewonnen wird, geht durch die hohen Zinsen mehrmals verloren.
Der Zustand der Wirtschaft ist prekär. Mit den minimalen Überschüssen kann nicht einmal ein Bruchteil der riesigen Schulden bedient werden. Dies entlarvt die Erklärung von EU-Kommission und Tsipras, Griechenland sei „gerettet“, als Euphemismus. Dazu die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Hermann: „Zwei Fakten reichen aus, um dieses Wunschdenken zu zertrümmern: Griechenland verzeichnet das schwächste Wachstum in der Eurozone – muss aber die höchsten Zinsen zahlen, wenn es Kredite bei Banken aufnehmen will. Das kann nicht funktionieren. Hohe Realzinsen lassen sich nur finanzieren, wenn auch das Wachstum hoch ist. […] Daher wurde – zweitens – beschlossen, dass Griechenland eine ´Schatztruhe´ erhält, die 24,1 Milliarden Euro umfasst. Diese Mittel würden reichen, damit die Griechen alle Zahlungen bis Mitte 2020 erfüllen können. Berlin und Brüssel wissen also genau, wie unwahrscheinlich es ist, dass sich die Griechen allein finanzieren können. Sonst hätten sie keine Schatztruhe angeboten. Aber niemand hatte Lust auf weitere Rettungspakete, sodass man lieber hofft, dass es bis 2020 in Griechenland irgendwie zu rasantem Wachstum kommt. Leider ist genau dieses Wachstum unwahrscheinlich, weil die Eurozone noch immer abstruse Sparvorgaben macht.“ [1]

Gnadenloser Ausverkauf


Seit Jahren findet in Griechenland – aufgezwungen durch die Gläubiger und die Troika – ein umfassender Ausverkauf von Unternehmen und Immobilien statt. Vorbild für diese Entstaatlichung des Landes ist das DDR-Privatisierungsmodell. Ausgerechnet die Treuhand, die für die skandalöse Abwicklung des gesellschaftlichen Vermögens der ehemaligen DDR berüchtigt ist, steht für den Verkauf griechischen Staatseigentums Pate.[2] Einerseits ist es Zynismus pur, wenn diese Einrichtung mit all ihren Skandalen als Vorbild für die griechische Privatisierungsgesellschaft mit Namen TAIPED herhalten muss.[3] Andererseits kommt darin auch eine gewisse Ehrlichkeit zum Ausdruck: Man sagt einigermaßen offen, dass man das Gaunerstück der DDR-Treuhand 1990-1994 in Griechenland wiederholt.
Die Aufgabe von TAIPED liegt darin, den sogenannten „privaten Staatsbesitz“ zu verwerten; das heißt, jenen Besitz, der nach Vorgaben der Troika nicht unabdingbar mit der Erfüllung von Hoheitsaufgaben des Staates verknüpft sind. Diese waren früher breiter gefasst. Bereiche wie öffentliche Schulen, Gesundheitssektor und Sozialeinrichtungen oder Haftanstalten zählten neben Amtsgebäuden und dergleichen dazu. Seit der Neoliberalismus auch in der EU-Politik Einzug gefunden hat, änderte sich dies schon in den 1990er Jahren. Viele dieser Aufgaben wurden dem „privaten staatlichen Bereich“ zugewiesen. Nun spiegelt sich dies auch im Portfolio der TAIPED wider, das sogar Gebäude von Ministerien und anderer rein staatlicher Behörden beinhaltet.
Dabei hatte es in Griechenland bereits seit den 1990er Jahren mehrere massive Privatisierungswellen gegeben, insbesondere unter der Regierung von Kostas Simitis (1996- 2004), sodass nicht mehr viele staatliche Betriebe übriggeblieben waren. Eine weitere Entstaatlichung konnte daher hauptsächlich durch den Verkauf von Immobilien erfolgen: Das Land musste buchstäblich filetiert werden – auch wenn diese Filets oft die Form von Wertpapieren und somit virtuellen Charakter annehmen. [4]
Diese Landnahme in Griechenland erfolgt unter spezifischen Bedingungen. Das Land befindet sich nicht auf in einem „freien“ Markt, sondern im Korsett der Troika-Politik mit ihren „Memoranden“. Die Landnahme wird schlicht von den Gläubigern erzwungen, TAIPED ist das Mittel zum Zweck. Sie organisiert, in Ermangelung anderer nennenswerten Ressourcen, die Rückzahlung der griechischen Schulden durch einen widerrechtlichen Landkauf.
Die „Verwertung“ kann in unterschiedlichen Formen erfolgen, sei es als Pacht, als Joint Ventures oder durch den direkten Verkauf der Objekte. Die Erlöse der TAIPED sind in erster Linie für die Bedienung der Schulden bestimmt. Sie müssen binnen kurzer Frist auf ein Sonderkonto der Gläubiger fließen.
Die Homepage der TAIPED mutet wie eine Wundertüte für Investoren an: Ein Album voll mit hochkarätigen Objekten, die bereits verwertet sind oder noch ihrer Verwertung harren. Es handelt sich zumeist um Immobilien, deren tatsächlicher Wert um ein Vielfaches höher liegt als der von den Investoren angebotene und von der TAIPED akzeptierte Preis. Dazu gehören Airports, Häfen, die Eisenbahn, fast alle im Staatsbesitz noch verbliebenen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen (darunter die Öl-, Gas- , Wasser- und Elektrizitätsgesellschaften); hunderte Gebäudekomplexe, Landstriche mit Naturschutzgebieten, Bergmassive und Strände im Tourismusbereich sowie tausende kleinere und größere Grundstücke.
Nadja Valavani beschreibt in ihrem Buch „Der Raub Griechenlands“ Dutzende krasse Skandalfälle. [5] Hier drei Beispiele:
Der Verkauf des ehemaligen Athener Flughafen Ellinikon ist nach Angaben eines der potentiellen Investoren das „größte an der Küste gelegenes Grundstück Europas“. Das 620 Hektar große Areal umfasst neben dem Flughafen auch den kilometerlangen Strand von Agios Kosmas, einem der nobelsten Bezirke an der Bucht von Argosaronikos. Das Interesse an seinen Kauf war dennoch beinahe Null. Dies gab der Gesellschaft Lambda Development der Reeder-Familie Gelegenheit, ein Schnäppchen daraus zu machen. Die Kontrakte wurden Ende 2017 unterschrieben. Der Preis von 130 Euro pro Quadratmeter, den die Käuferin bezahlen wollte, ist 8,5 Mal niedriger als der ortsübliche Preis. Zwischendurch konnte die Regierung den Preis erhöhen – was auch die einzige Schadensbegrenzung war.
Lambda Development will auf diesem Gelände ein Casino und riesige Hochhäuser samt Shopping Malls wie in Dubai bauen und die Anlage zu einem „Ghetto für Reiche“ verwandeln. Diverse Bürgerinitiativen und auch die angrenzenden Gemeinden hatten hingegen gefordert, hier einen großen Park anzulegen, welcher der Bevölkerung als Naherholungsgebiet dienen sollte, und der auch das Mikroklima vom Großraum Athen positiv beeinflussen würde. Dieses Vorhaben wurde mit der Verschleuderung des Grundstückes zunichte gemacht.
Auch das Wasserversorgungsunternehmen von Thessaloniki (EYATh) steht zur Disposition. Der wichtigste Interessent ist der französische Konzern Suez, einer der weltweit größten Unternehmen im Bereich Wasserversorgung. Der Mischkonzern kontrolliert bereits die Wasserwerke in anderen Großstädten Europas und verfügt auch über einen 5-Prozent-Aktienanteil an den Wasserwerken von Athen. Die EYATh hatte bisher viel Profit abgeworfen, ihre Gewinne werden für die nächsten fünf Jahre auf 100 Millionen Euro geschätzt. So hoch bzw. so niedrig wird auch der geplante Verkaufspreis angesetzt. Was heißt: Alle Gewinne ab dem sechsten Jahr sind für den künftigen Besitzer Reingewinn.
Zum Leidwesen von Suez wehrte sich die Bevölkerung von Thessaloniki bisher erfolgreich gegen den Ausverkauf ihrer Wasserversorgung: Bei einer selbst organisierten Volksbefragung am 18. Mai 2014 sprachen sich 98 Prozent der Abstimmenden gegen die Privatisierung aus. Anfang 2018 wurde ein wichtiger Schritt zur Privatisierung durch die Überführung der Hälfte der EYATh-Aktien in die TAIPED gemacht.
Die staatlichen Bahngesellschaften Trainose (Züge und Transport) und EESSTY (Schienennetz) befinden sich ebenfalls auf der Verkaufstheke. Ihr gesamter Besitz war bereits 2013 der TAIPED übergeben worden. Bisher ist nur der der Verkauf von Trainose gelungen. Sie wurde Anfang 2017 von der staatlichen italienischen Ferrovie dello Stato Italiane zum Spottpreis von 45 Millionen Euro übernommen. „Der Vizegouverneur der Region Attica spottete, dass der Preis niedriger als die Ablösesumme für einen bekannten griechischen Fußballspieler sei“, berichtete darauf die Neue Zürcher Zeitung. „Man schämt sich, diesen Schleuderpreis überhaupt zu nennen“, fügte Valavani hinzu.
Ein Treppenwitz der Geschichte: Eine ausländische Staatsfirma erwirbt griechisches Staatseigentum, was die EU als „Privatisierung“ ausgibt. Man kann den Vorgang auch als Kolonialisierung bezeichnen – weg vom „einheimischen“ Staat, hin zum fremdstaatlichen Eigentum, wobei dieser fremde Staat oft zugleich Gläubiger ist.
Während also der Eisenbahnbetreiber Trainose als Einheit veräußert wurde, kann das Schienennetz hingegen an beliebig viele Interessenten gehen. Hier wird das britische Privatisierungsmodell verfolgt, das bereits in England zu einer dramatischen Verschlechterung der Dienste geführt hatte. Griechenland folgt, dank der Troika-Politik, diesem schlechten Beispiel sklavisch.
Der Ausverkauf in Griechenland ist nicht nur in sozialer Hinsicht ein Desaster. Er hat auch politisch dramatische Folgen. Die größte Gefahr, die aus der finanziellen und politischen Unterwerfung entsteht, besteht in einer Unterhöhlung der staatlichen Institutionen. Das Parlament wurde zu einer Maschinerie degradiert, die ausschließlich die Maßnahmen der Gläubiger durchboxt. Parallel dazu „zerbröseln“ wichtige Behörden im Sozial- und Bildungsbereich sowie im Verwaltungs- und Steuersystem oder sie werden überhaupt ganz aufgelöst. SDOE, die Behörde für die Bekämpfung der Steuerkriminalität, hat seit Oktober 2015 praktisch aufgehört zu existieren: 500 von den insgesamt 730 Kontrolleuren wurden in die Abteilung für die Steuereinahmen versetzt, während den übriggebliebenen 230 die Zuständigkeit der Kontrolle im Steuer- und Zollbereich genommen wurde. So verstauben in den Schubladen der Behörde 39.000 Fälle von Steuerkriminalität, von denen bereits im Jahr 2015 12.500 verjährt waren und der Rest inzwischen verjährt sein dürfte. Der daraus resultierende Verlust für den Staat ist immens: Es beträgt nach vorsichtigen Schätzungen einen zweistelligen Milliardenbetrag. Nadja Valavani spricht von einer Riesenwaschmaschine, in der alle großen Wirtschaftsskandale der letzten Jahre weißgewaschen werden – darunter auch jene im Rüstungs- und Schmuggelbereich. Die politische Seite von diesem „Skandal der Skandale“ sei, sagte sie, dass die Gläubiger, die noch vor kurzem gegen die Unfähigkeit der griechischen Steuerbehörde wetterten, nun dem kriminell handelnden Teil der griechischen Oligarchie zu Hilfe kommen.

Soziale Lage Griechenland


Die Arbeitslosenquote in Griechenland kletterte unter dem Diktat der Troika auf Rekordniveau. Inzwischen ist zwar von 27,6 Prozent auf dem Höhepunkt 2013 auf rund 20 Prozent gefallen. Doch diese Zahlen bringen kaum die Realitäten zum Ausdruck. So hat sich die traditionell hohe Zahl an Unterbeschäftigten seit Beginn der Krise auf 267.000 fast verdreifacht. Gleiches gilt nach Schätzungen des Instituts für Arbeit (INE) des Gewerkschaftsdachverbandes GSEE für die resignierten Arbeitslosen, deren Zahl sich seit 2008 ebenfalls mehr als verdreifacht hat. Ebenfalls nicht berücksichtigt ist in den offiziellen Zahlen die Migration. Nach wie vor verlassen viele junge Menschen das Land. Schätzungen zufolge sind in den Jahren der Krise zwischen 175.000 und 550.000 junge Griechinnen und Griechen ausgewandert. Nach Berechnungen des INE liegt die reale Arbeitslosenquote daher bei 28,7 Prozent, wobei überproportional Frauen und junge Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen sind.
Die zunehmende Entrechtung der abhängig Beschäftigten hat dazu geführt, dass der Bereich der grauen bzw. schwarzen Ökonomie sich rasant ausgeweitet hat. So arbeiten nicht wenige Menschen zwar offiziell halbtags und werden auch entsprechend bezahlt, sehen sich aber – um den Job nicht zu verlieren – zu Überstunden gezwungen, die einer Vollzeitstelle entsprechen. Gut ein Drittel der offiziell Vollzeitbeschäftigten und fast die Hälfte der Teilzeitbeschäftigten erhält unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegende Bezüge. Unter diesen Umständen grenzt es an ein Wunder, dass es immer noch organisierten Widerstand seitens der abhängig Beschäftigten gibt, der vor allem von den gewerkschaftlichen Basisverbänden getragen wird. Es ist bezeichnend für das gegenwärtige Krisenregime in Griechenland, dass das Streikrecht auf Druck der Troika von der griechischen Regierung erheblich eingeschränkt worden ist.
Mit jedem neuen Gesetzespaket, bei dem die Vorgaben der Gläubiger umgesetzt werden, steigen die steuerlichen Belastungen und sinken gleichzeitig die Einkommen immer weiter. Dies ist mit einem massiven Anstieg der inneren Verschuldung verbunden. Immer mehr Unternehmen und Bürger kommen ihren Zahlungsverpflichtungen gegenüber den Finanzämtern und den Sozialversicherungen, aber auch gegenüber Banken und anderen Unternehmen nicht mehr nach. Die Zahl der Bürgerinnen und Bürger mit Steuerschulden hat sich in den letzten Jahren auf vier Millionen vervierfacht. Die Gesamthöhe der Steuerschulden beträgt mittlerweile rund 100 Milliarden Euro. Das ist weit mehr als ein Viertel der gesamten Staatsschulden. Der größte Teil dieser Summe konzentriert sich auf eine relativ kleine Zahl von Personen und Unternehmen, wobei allerdings unklar ist, wie viele dieser Schulden überhaupt eingetrieben werden können. Denn bei hartnäckigen Steuerverweigerern muss man entweder davon ausgehen, dass sie ihre Besitztümer bereits in Sicherheit gebracht haben, oder dass sie infolge einer Insolvenz schlicht nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt zahlungsfähig sind.
Ein ähnliches Problem bilden die sogenannten „rote Kredite“. Das sind Schulden privater Gläubiger gegenüber Banken, die seit über 90 Tagen nicht mehr bedient werden. Deren Summe – überwiegend handelt es sich dabei um Immobilienkredite – beträgt mittlerweile mehr als 100 Milliarden Euro. Diesen „roten Krediten“ bergen einen erheblichen sozialen Sprengstoff, denn gut 70 Prozent der Menschen in Griechenland bewohnen ein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung. Infolge der Austeritätspolitik sind viele Immobilienbesitzer nicht mehr in der Lage, ihre Kredite zu bedienen. Bisher waren selbstbewohnte Immobilien gesetzlich vor Zwangsversteigerungen geschützt. Diese Schutzbestimmungen wurden im letzten Jahr auf Druck der Troika abgeschafft, zudem wurde die griechische Regierung dazu verpflichtet, Schulden gegenüber Banken und der öffentlichen Hand rigoroser einzutreiben.
Allerdings gelang es den Aktionskomitees gegen die Zwangsversteigerungen, die in den letzten zwei Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, oft, die Verfahren an den Amtsgerichten zu verhindern. Zeitweise fanden auch keine Versteigerungen statt, da die Notare die Arbeit niederlegten und die Verfahren boykottierten. Die Behinderung von Notaren und Richtern wurde daraufhin auf Geheiß der Troika kriminalisiert und ist nun mit Haftstrafen bedroht. Zudem wurden elektronische Verfahren zur Zwangsversteigerung eingeführt.
Der von den Gläubigern gesetzte Zeitplan sieht in den kommenden drei Jahren jährlich 40.000 Zwangsversteigerungen vor. Dabei gibt es entgegen den Behauptungen der Regierung keinen Schutz der selbstbewohnten Immobilie, wie Vertreter der Banken öffentlich bekannt gegeben haben. Die Wohnungen und Häuser werden auch nicht mehr zu den – mittlerweile modifizierten – Einheitswerten versteigert, die für die steuerliche Veranlagung maßgeblich sind, sondern zu den weit darunter liegenden Marktwerten, d.h. zu Schleuderpreisen. Den griechischen Banken ist auch gestattet worden, „rote Kredite“ zu bündeln und weiterzuverkaufen. Das ist zwar mit hohen Abschlägen verbunden, sichert aber ihre Liquidität.
Die Bilanz lautet: Die Staatsschulden- und Bankenkrise in Griechenland ist alles andere als gelöst, sondern schlicht auf die Gesellschaft überwälzt worden. Mit den Zwangsversteigerungen gewinnt diese Krisenpolitik eine neue Dimension, geht es doch erstmals in äußerst rabiater Weise an die privaten Immobilien, die selbst für eine Steuerschuld von wenigen hundert Euro unter den Hammer kommen können.
Der Öffentlichkeit wird durch die EU und die Syriza-Regierung ein völlig andres, ein höchst irreales Bild von der tatsächlichen Lage in Griechenland präsentiert. Die Unmöglichkeit, den Schuldenberg tatsächlich abzutragen, wird verschwiegen. Gleichzeitig wird die soziale Realität weitgehend ausgeblendet. In der Basler Zeitung liest sich eine ehrliche Bilanz wie folgt: „Die griechischen Renten wurden […] um bislang 60 Prozent gekürzt, die nächste Kürzung ab Januar 2019 ist beschlossen. […] Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei rund 20 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei über 45 Prozent. Nicht zuletzt deshalb sind bereits mehr als 300.000 junge und meist qualifizierte Griechen ausgewandert. […] Acht Jahre Krise, acht Jahre angebliche Hilfe der EU haben ein Land geschaffen, in dem tiefe Hoffnungslosigkeit, Agonie, Verzweiflung und Zynismus herrschen. […] Bislang hatte jede griechische Tragödie spätestens im Exodus ihr Ende, Zeit für Katharsis, also Sinneswandel und Reinigung. Den Griechen wird das fürs Jahr 2060 versprochen. Mehr als eine Generation später. Woher sollen die Griechen den Optimismus nehmen, dass jedermann sein kleines Glück erreichen kann? […] Man kann nur tiefen Respekt vor den Griechen bezeugen, die diese Folterqualen ohne Ende aushalten.“ [6]
Aus dem Teufelskreis von Wirtschaftskrise und sozialen Verheerungen gibt es kein Entrinnen, solange in Brüssel und Berlin die Neoliberalen und in Griechenland die Troika das Sagen haben. Damit soll nicht einem Fatalismus, sondern dem aktiven Widerstand das Wort geredet werden. Wie er, nicht ohne Teilerfolge, in Griechenland durch die Dutzende Generalstreiks, durch das „Nein“ beim Referendum vom Juli 2015 oder das „movement of piazzas“ nach türkischem, arabischem und spanischem Vorbild im Sommer 2011 geleistet wurde.


Anmerkungen:


[1] Die Tageszeitung von 27.07.2018
[2] Die „Treuhandanstalt“, kurz: Treuhand, wurde 1990 in der DDR gegründet zu dem Zweck, die „Volkseigenen Betriebe“ der DDR zu privatisieren. In den vier Jahren ihres Bestehens hat sie 12.354 Unternehmen entstaatlicht. Davon wurden 6.946 privatisiert, 1.588 reprivatisiert, 310 kommunalisiert und gut 3.700 abgewickelt, also in einen mehr oder weniger ungeordneten Konkurs überführt. Der Gesamtwert des Staatseigentums war 1990 mit 600 Milliarden D-Mark – nicht DDR-Mark! – berechnet worden. Die Treuhand schloss allerdings ihre Bilanz 1994 mit einem Verlust von 256,4 Milliarden D-Mark. Skandale, Unter-Wert-Verkäufe sowie unzählige Betrügereien, die von den bundesdeutschen Behörden kaum verfolgt wurden, hatten zu diesem unglaublichen Verlust geführt. Dazu kam, dass der Staat die oft riesigen Verluste einzelner Unternehmen übernahm, die dann dennoch oft für einen Pappenstiel verkauft wurden. „Das gesamte Industriekapital der DDR wurde mit einem Schlag vernichtet“, bilanzierte später der Grünen-Politiker und Ex-Bürgerrechtler Werner Schulz. „Im Grunde genommen ist es eigentlich das größte Betrugskapitel in der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands“.
[3] Hellenic Republic Asset Development Fund (kurz: HRADF) (griechisch TAIPED – Ταμείο Αξιοποίησης Ιδιωτικής Περιουσίας του Δημοσίου deutsch: Verwertungsfonds für das öffentliche Privatvermögen) ist eine Anonimi etairia (AG) mit dem griechischen Staat als alleinigem  Aktionär. Der HRADF – TAIPED wurde am 1. Juli 2011 durch das Gesetz 3986/2011 „Dringende Maßnahmen für die Anwendung des Mittelfristigen Rahmens der Finanzstrategie“ eingerichtet. Die Aufgaben der AG sind die Veräußerung, Entwicklung oder Abwicklung aller ihr übertragenen  Vermögenswerte (englisch: assets) des Griechischen Staates an private Investoren. Insgesamt sollen staatliche Beteiligungen im Wert von 50 Milliarden Euro privatisiert werden.
[4] Hedge Fonds kaufen Land, das sie in Wertpapiere umwandeln, mit denen sie dann auf den internationalen Märkten spekulieren. Diese Glücksritter erhalten für ihre Griechenland-„Engagements“ eine fürstliche Entlohnung: Ihre jährlichen Gewinne bei diesen Geschäften werden auf 30 bis 40 Prozent geschätzt.
[5] Nadia Valavani: H αρπαγή της Ελλάδας (Der Raub Griechenlands), Verlag Α.Α. Λιβάνη 2015.
[6] René Zeyer: Geplündertes Griechenland, in: Basler Zeitung vom 28. Juni 2018.