Die Kluft wird größer

Griechenlandkrise und die alte und neue EU

Als die Krise in Griechenland offen ausbrach wurde argumentiert, Griechenland sei ein Sonderfall – jetzt müsse mit vereinten Kräften dem Land „geholfen“ werden. Auf diese Weise werde auch der Zusammenhalt der EU gestärkt bzw. wiederhergestellt.

Tatsächlich erleben wir – wie in der Grafik dokumentiert – einen entgegengesetzten Prozess. Die EU driftet auseinander. Dies ist politisch der Fall. Siehe der Brexit-Beschluss. Siehe Katalonien. Siehe die Migrationskrise mit menschenfeindlichen Abschottungen an den EU-Grenzen und sogar innerhalb ein und desselben Landes – in Griechenland, wo Tausende Flüchtlinge abgeriegelt auf Inseln in menschenunwürdiger Lage verharren müssen.

Und es gibt eine wachsende ökonomische Kluft.

Vor der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 und vor dem offenen Aufbrechen der Griechenland-Krise 2010 waren die EU-Arbeitslosenquoten relativ nah beieinander. Mitte 2018 ist diese Kluft massiv vergrößert; sie reicht inzwischen von 3,6 Prozent in Deutschland bis zu 21 Prozent in Griechenland.

Ähnlich bei der Schuldenquote. 2006 betrug diese in Deutschland 66,5 und in Österreich 67,3 Prozent und in Griechenland und Italien etwas mehr als 100 Prozent. Heute liegt die deutsche bei 62,9 Prozent. Die griechische 180,4 Prozent. Doch nun liegen auch diejenigen in Italien (133,4%) und Portugal (126,7%) deutlich über der 100-Prozent-Marke. Frankreich (97,7%), Spanien (98,8%) und Zypern (94,7%) liegen nahe an dieser Schwelle.

Vergleichbar die wachsende Wohlstandskluft. 2005 lag das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Deutschland und Österreich bei 26.500 bzw. 27.400 Euro. Dieser Indikator lag damals in Frankreich und Italien bei 95 bzw. 86,1 % des deutschen Levels. Das griechische BIP pro Kopf entsprach damals 53 Prozent des BRD-Niveaus. 2018 liegt das deutsche und österreichische BIP pro Kopf liegt bei 39.500 bzw. bei 42.000 Euro. Das französische und italienische macht nun mit 34.100 und 28.400 Euro nur noch 86,3 bzw. 71,9 Prozent des deutschen BIP pro Kopf aus. Das griechische BIP pro Kopf ist mit 16.600 Euro auf 42 Prozent des deutschen gesunken.

Die griechische Wirtschaftsmisere ist aus Sicht der EU-Granden und der großen Konzerne und Banken verkraftbar. Nicht verkraftbar ist, was sich inzwischen in Italien und Frankreich an Krisenpotential entwickelt.

Italiens Schuldenquote ist heute höher als diejenige Griechenlands zu Beginn der dortigen Krise 2010. Das Gewicht der italienischen Wirtschaft ist jedoch zehn Mal größer als das der griechischen. Die Ratingagenturen vergeben an Italien nur noch Bonitätsnoten, die nahe am Ramschstatus liegen. Am 23. August kennzeichnete der Kommentator der Börsen-Zeitung die Lage in Italien wie folgt: „Der Zusammenbruch der Autobahnbrücke bei Genua ist ein Symbol für den Zustand Italiens. Viel Substanz aus der Vergangenheit, aber mangels Investitionen zum Erhalt brechen die Strukturen allmählich zusammen. […] Die Stunde der Wahrheit ist nah. Die Märkte halten den Atem an. Nicht auszuschließen, dass die Lust am Untergang der Regierung zu einem Vertrauensverlust der Märkte führt – mit unabsehbaren Folgen. Ein Fall Italiens würde […] womöglich die ganze EU in die Knie zwingen.“

Dabei suchen sich die Austeritätsfanatiker bereits ihr nächstes Opfer. Der damalige deutsche Finanzminister Schäuble hatte im April 2015 kaum verhüllt darauf hingewiesen, dass Frankreich in Bälde im Zentrum einer neuen Operation Troika stehen könnte. Er plädierte damals zur Durchsetzung von „Arbeitsreformen“ unter Umgehung der Demokratie: „Frankreich könnte froh sein, wenn jemand das Parlament [zu diesen Reformen] zwingen würde. […] Aber das ist schwierig. So ist halt die Demokratie.“ Schäubles Wunsch scheint mit Emmanuel Macron als Präsident in Erfüllung zu gehen. Macron bezeichnete den Sozialhaushalt offen als „irren Zaster“ („pognon fou“): Unternehmenssteuern wurden gesenkt (u.a. Abschaffung der Vermögensabgabe ISF), Errungenschaften der arbeitenden Klasse abgeschafft (so bei der Staatsbahn SNCF das „statut“, eine Art Beamtenstatus). Privatisierungen werden vorangetrieben (Zerschlagung von Alstom). Die Staatsbahn SNCF wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die Restbestandteile der vor zwei Jahrzehnten eingeführten 35-Stunden-Woche wurden abgeschafft.

Das Beispiel „Kaputtsparen und Sozialkahlschlag wie in Griechenland“ macht EU-weit Schule. 2015 präsentierte die EU-Kommission das Programm „Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden“. Danach sollen die Regierungen überprüfen, „ob die Löhne wettbewerbsfähig sind im Vergleich zu anderen Handelspartnern“. Wettbewerbsfähig ist demnach der EU-Staat, der den Investoren die niedrigsten Arbeits- und Sozialkosten bietet. Mehrere EU-Regierungen haben danach „Reform-Pakete“ geschnürt. Siehe der „Jobs Act“ in Italien. Siehe das Projekt 60-Stunden-Woche in Österreich (S.12f). Doch genau eine solche Austeritätspolitik muss die Krisentendenzen verschärfen – wie die Beispiele Griechenland 2010ff und Deutschland 1930ff gezeigt hat.

Das Gesamtbild der EU-Ökonomie ist durch drei Charakteristika geprägt.

Erstens. Es gibt trotz neun Jahren Konjunkturaufschwung (2010-2018) nur ein minimales reales Wachstum, das im Übrigen erheblich von Deutschland generiert wird.

Zweitens. Es existiert im Euroraum eine deutlich sich vergrößernde Kluft zwischen den wenigen leicht prosperierenden Ökonomien und der Gruppe der Peripherieländer Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, Zypern und Griechenland.

Drittens. Der tiefe Fall der griechischen Ökonomie ist in der Eurozone einmalig. Griechenland erlebte einen Absturz, wie es Vergleichbares nur in historischen Krisen gab. Das griechische Bruttoinlandsprodukt sank im Zeitraum2010 bis 2018 real um rund 20 Prozent. Auf dem Tiefpunkt 2016 lag das Minus bei knapp 25 Prozent. Zum Vergleich: während der Weltwirtschaftskrise schrumpfte die deutsche Volkswirtschaft real um 16 Prozent (1928-32) – ebenfalls, wie bereits beschrieben, als Folge einer verantwortungslosen Sparpolitik.