„In Griechenland gibt es zwei Hemmnisse für das ökonomische Wachstum: Der archäologische Dienst und die Forstbehörde“
Konstantin Mitsotakis
„Könnten diese Waldbrände, so fragen mich Journalisten, für Athen nicht der Moment sein, zu rebellieren und das Ende der Sparmaßnahmen zu fordern, die für das Überleben von Griechenland so schädlich sind? Natürlich! Jeder Moment ist ein guter Moment, um der Troika die Zwangsjacke menschenfeindlicher Sozialpolitik, die zu einer dauerhaften humanitären Krise in Griechenland geführt hat, zu entreißen. Im letzten Jahrzehnt hat uns die Tragödie, die uns von der EU-Elite auferlegt wurde, viel mehr Menschenleben gekostet als jede Flut und jedes Feuer. Seit 2011 haben über 20.000 Menschen Selbstmord begangen. Zehn Prozent der Griechen im arbeitsfähigen Alter sind wegen der wirtschaftlichen Depression ausgewandert.“
Yanis Varoufakis, Auszug aus dem Text „Was steckt hinter den tödlichen Waldbränden in Griechenland“ vom 26. Juli 2018
Die Brandkatastrophe mit fast 100 Toten in Attika in diesem Jahr hat erneut die strukturellen Defizite des griechischen Katastrophenschutzes offen gelegt. Bei Windstärken von über elf Beaufort war die griechische Feuerwehr mit ihrer personellen und technischen Ausstattung nicht in der Lage, zwei große Waldbrände gleichzeitig einzudämmen. Zudem erwies sich als verhängnisvoll, dass es in Griechenland trotz alljährlich wiederkehrender Waldbrände praktisch keinen vorbeugenden Katastrophenschutz gibt. Fehleinschätzungen der Einsatzleitung und der Polizei erwiesen sich vor diesem Hintergrund als fatal. So wurde einerseits davon ausgegangen, dass die vierspurige Schnellstraße nach Marathon quasi als Brandschneise wirkt. Tatsächlich sprang das Feuer über und breitete sich in rasender Geschwindigkeit zur Küste aus. Da im Westen Athens die Raffinerien von dem zweiten Feuer bedroht waren, entschied sich die Einsatzleitung zum Abzug von Kräften im Osten Attikas, also dort, wo es die große Zahl an Toten gab. Zum anderen leitete die Polizei den Verkehr nach Mati Richtung Küste um, also genau an den Ort, aus dem es für viele kein Entkommen gab. Entscheidend waren und sind jedoch die sozial-strukturellen Ursachen der Katastrophe, von deren Überwindung die griechische Gesellschaft nach wie vor weit entfernt ist.
Es brennt bei der Feuerwehr
Die chronisch mangelhafte personelle und technisch veraltete Ausstattung der griechischen Feuerwehr ist seit Jahren ein Dauerthema in der griechischen Öffentlichkeit. Jedes Jahr zu Beginn und zu Ende der Waldbrandsaison weisen die Berufsverbände der Feuerwehrleute, aber auch Umweltschutzverbände und Forstwissenschaftler, auf die unzureichende Ausstattung der Feuerwehr und den mangelnden Katastrophenschutz hin. So beklagt die Vereinigung der Feuerwehroffiziere, dass 20 Prozent der Löschfahrzeuge und 30 Prozent der sonstige Einsatzfahrzeuge nicht oder nur bedingt einsatzbereit seien. [1] Die Löschflugzeuge sind überaltert – einige Löschflugzeuge sind mehr als vierzig Jahre alt – und ebenfalls nur teilweise einsatzfähig. Die Unterstützung der Brandbekämpfung aus der Luft befindet sich auf einem historischen Tiefstand. Gleiches gilt für die technische Ausrüstung der Feuerwehr: Vorschläge des zuständigen Ministers, man solle alle Einsatzfahrzeuge digital mit der Katastrophenschutz-Leitstelle verbinden, kommentierten die Feuerwehrleute sarkastisch, der Vorschlag sei gut, es wäre allerdings zunächst notwendig, ausreichend Reserveräder und funktionierende Funkgeräte zu beschaffen. Durch die Kürzungen im öffentlichen Dienst sind in den letzten Jahren zudem 700 Stellen bei der Berufsfeuerwehr abgebaut worden. Weitere Lücken sind dadurch entstanden, dass Feuerwehrleute für die Feuerwehren der nun privatisierten Regionalflughäfen abgestellt wurden, denn die Verträge mit der neuen Betreiberfirma Fraport sehen vor, dass die öffentliche Hand die Flughafenfeuerwehren zur Verfügung stellt.
Hinzu kommt ein Mangel an Schutzkleidung, sodass beispielsweise 400 freiwillige Feuerwehrleute, die in den letzten Jahren für die Brandbekämpfung gewonnen werden konnten, nicht zu Einsätzen herangezogen werden können.
Neben diesen offenkundigen, von Politik und Öffentlichkeit zumindest im Grundsatz auch anerkannten Defiziten hat die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse die Einsatzfähigkeit der Berufsfeuerwehr nachhaltig geschwächt. So gibt es neben den fest angestellten Einsatzkräften Feuerwehrleute mit einem Fünfjahres-, einem Dreijahresvertrag sowie mit noch kürzer befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Diese Fragmentierung hat unter anderem zur Folge, dass nicht immer das gesamte Personal einsatzbereit ist. Die in den letzten Jahren zunehmend erbittert geführte Auseinandersetzung um die Folgen der Austeritätspolitik, etwa die mangelnde medizinische Betreuung, die Absicherung im Falle von Berufsunfällen oder die Streichung von Zulagen, haben zudem dazu geführt, dass von politischer Seite die Expertise der Berufsverbände nicht mehr abgerufen wird und sich mehr und mehr autoritäre Umgangsformen durchgesetzt haben. [2] So zieht das Generalsekretariat für Zivilschutz zu Beratungen bei Gesetzesänderungen keine Repräsentanten der Verbände der Feuerwehrleute mehr heran. Mit anderen Worten: Um die Kürzungen im Etat durchzusetzen, ist die politische Beteiligung der Vertreter der Berufsverbände eingeschränkt worden. Dass die Brandbekämpfung unter diesen Umständen überhaupt noch funktioniert, liegt vor allem am hohen Berufsethos der Feuerwehrleute.
Politische Ökonomie der Brandstiftung
Ein ebenso großes Problem, das sich im Zuge der Austeritätspolitik weiter verschärft hat, ist die in Griechenland traditionell betriebene illegale Aneignung von Grund und Boden. Da die Waldgebiete durch die Verfassung von 1975 gesetzlich gegen alle Formen der Umnutzung geschützt sind, hat sich die Brandstiftung als probates Mittel zur Vorbereitung der privaten Aneignung von Land und Boden erwiesen – gut 70 Prozent der Waldbrände sind auf diese Ursache zurückzuführen. Daneben haben seit den 1960er Jahren immer mehr Unternehmen und Privatleute ohne jegliche öffentliche Planung halb- oder illegal Gebäude errichtet. Dieser in Griechenland als „willkürlich“ bzw. „eigenmächtig“ bezeichnete Städte- und Siedlungsbau hat zu einem städtebaulichen Flickenteppich geführt, der nachträgliche Infrastrukturmaßnahmen aus nahliegenden Gründen äußerst schwierig bis unmöglich macht: Ist das Land erst einmal durch Käufe und Wiederverkäufe in kleine Grundstücke aufgeteilt, können nur durch Enteignungen die Flächen etwa für Rettungswege oder Schutzräume geschaffen werden. In der Vergangenheit ist aufgrund des politischen Widerstandes der Eigentümer daher nur symbolisch gegen Gesetzesübertretungen vorgegangen worden, indem etwa illegal errichtete Gebäude öffentlichkeitswirksam abgerissen wurden. Bei dem Waldbrand im Osten Attikas in der Siedlung Mati erwies sich diese Struktur als enorm katastrophenverschärfend.
Mati ist exemplarisch für viele ehemals ländliche Gebiete, in denen in den letzten Jahrzehnten Siedlungen entstanden sind. Der weitgehend unbebaute Küstenstreifen östlich von Athen wurde zunehmend für den Tourismus interessant. Zudem konnten sich mit steigendem Wohlstand immer mehr Familien der Mittelschicht ein Ferienhaus am Meer leisten. Viele der dortigen Gebäude wurden ohne Genehmigung errichtet und erst nach und nach legalisiert, faktisch zumeist durch den Anschluss an das Strom- und Wassernetz. Auf diese Weise entstand eine lose Bebauung mit großen Gärten – Geographen sprechen vom urban-rural interface. Diese spezifische Struktur ist für Brandkatastrophen äußerst anfällig, da im Gegensatz zur engen Bebauung in Dörfern und Städten eine große Masse an brennbarem Material zwischen den Gebäuden vorhanden ist. Der Forstwissenschaftler Gavriil Xanthopoulos spricht in diesem Zusammenhang von einem Pulverdepot, in dem sich die Menschen bewegen. [3] Da aufgrund der spezifischen Geschichte des Siedlungsbaus viele enge Straßen in Mati in Sackgassen münden und es kaum Stichstraßen zum Meer gibt, sahen sich die vor dem Brand flüchtenden Menschen hohen Zähnen und Mauern von Privatgrundstücken gegenüber. Im dichten Rauch war selbst für Ortskundige der Weg zum rettenden Meer häufig nicht mehr zu finden.
In den städtischen Ballungszentren wirkt sich die illegale Bautätigkeit ebenso katastrophal aus. Viele im Sommer trockenfallende Wasserläufe sind in den letzten Jahren zugebaut worden. Gebäude in diesen verfüllten Flussläufen sind einerseits im Falle von Erdbeben äußerst einsturzgefährdet. Zum anderen kommt es bei starken Regenfällen im Winter in aller Regelmäßigkeit zu Überschwemmungen, da sich das Wasser neue Wege suchen muss. Erst im letzten Winter starben im Südosten Athens bei Überschwemmungen 14 Menschen.
Beispiel Marathon
Alle diese Infrastrukturprobleme sind seit Jahren bekannt und immer wieder Thema in der griechischen Öffentlichkeit. In der Gemeinde Marathon, zu der Mati gehört, hat sich eine Bürgerinitiative mit Anfragen an den Bürgermeister und den Gemeinderat immer wieder um den Katastrophenschutz bemüht. [4] Dass diese Bemühungen erfolglos geblieben sind, hängt mit der sozialen Zusammensetzung des Gemeinderates zusammen, die charakteristisch für die touristisch geprägten Gegenden Griechenlands ist: Es dominieren die Repräsentanten der Tourismusindustrie, die in der Regel keine langfristigen Strategien der Kapitalverwertung verfolgen und an Fragen des Katastrophenschutzes oder der Ökologie kein Interesse haben. An der Person des Bürgermeisters von Marathon, Ilias Psinakis, läßt sich die Mentalität dieser sozialen Gruppe sowie die Verbindung ökonomischer und politischer Interessen gut illustrieren. Psinakis ist Musikmanager und Fernsehproduzent, eine Art griechischer Dieter Bohlen, vielen Griechen ist er aus Fernsehauftritten und TV-Shows bekannt. In den letzten Jahren hat er in Kooperationen mit der orthodoxen Kirche karitative Suppenküchen für die Opfer der Krisenpolitik initiiert. 2014 ließ er sich zum Bürgermeister von Marathon wählen, um touristische Projekte wie den Bau eines touristischen Zentrums mit einem Yachthafen, Casinos und Golfplätzen voranzutreiben und die von ihm gegründete Marathon-Stiftung mit den höheren Weihen des öffentlichen Amtes der Stadt mit dem antiken Namen versehen zu können. Die Opposition im Gemeinderat beklagt seit seinem Amtsantritt, dass er den Aufgaben seines Amtes nicht gerecht werde und vor allem private Interessen verfolge. Als Psinakis nach der Brandkatastrophe wahrheitswidrig behauptete, seine Villa sei ebenfalls von dem Feuer in Mitleidenschaft gezogen, forderte eine deutliche Mehrheit im Gemeinderat ihn zum Rücktritt auf. Psinakis, hieß es, sei unfähig und eine Gefahr für die Bürger. Eine Abwahl ist allerdings seit der von der Troika dekretierten Gemeindegebietsreform nicht möglich, sodass Psinakis weiter amtieren kann. Es ist fast schon überflüssig zu betonen, dass Psinakis alle Forderungen, Maßnahmen zum Katastrophenschutz umzusetzen, konsequent ignoriert hat.
Auf nationaler Ebene ergibt sich ein ähnliches Bild: Seit 2014 gibt es mit dem Katastrophenschutzplan „Xenokratis“ die gesetzliche Grundlage für einen koordinierten und vorbeugenden Katastrophenschutz. Das Gesetz existiert jedoch weitgehend nur auf dem Papier. Immer wieder haben Feuerwehrverbände, Forstwissenschaftler und ökologische Organisationen vergeblich die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben gefordert. Die Ursache für die Untätigkeit staatlicher Akteure liegt in der erfolgreichen Lobbyarbeit der griechischen Oligarchie, die an einer Einengung ihrer geschäftlichen Tätigkeiten keinerlei Interesse hat. Politische Förderung erhält die griechische Oberschicht dabei von der Troika, wie sich an der von den Gläubigern vorgegebenen Gründung der Privatisierungsagentur TAIPED illustrieren lässt. Die TAIPED, die sich am Modell der deutschen Treuhand zur Privatisierung des staatlichen Vermögens der DDR orientiert, hat die Aufgabe, umfangreiche öffentliche Vermögenswerte an Investoren zu veräußern. Zu diesen Vermögenswerten gehören neben Unternehmen in öffentlichem Eigentum auch zahlreiche Liegenschaften. Besonders umkämpft ist die Privatisierung von Küstenstreifen und Stränden, die in Griechenland traditionell Gemeineigentum sind. Es liegt auf der Hand, dass mit der von der Troika betriebenen Privatisierungspolitik in erster Linie die Interessen der „Grundstücksfresser“ bedient werden.
Treuhand (griechisch)
Eine Kehrtwende in der Raumordnungs- und Städtebaupolitik ist daher nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Die bisherigen Fehlentwicklungen werden in größerem Maßstab auf die Spitze getrieben. Für die mit der Privatisierungspolitik verbundenen Korruption gilt dasselbe: Nicht ohne Grund sind alle Mitarbeiter der TAIPED bei allen dienstlichen Aktivitäten gesetzlich vor der Strafverfolgung geschützt. Die traditionelle Form der kleinkapitalistischen halb- und illegalen Aneignung von Grund und Boden bekommt damit eine neue Qualität: Zunehmend dominieren größere Unternehmen das Landgrabbing. Diese profitieren auf mehrfache Weise von den Brandkatastrophen, sei es durch die infolge der Brände ermöglichte Änderung der Landnutzung oder den Aufkauf von Immobilien der durch die Feuer ruinierten Brandopfer. Der Katastrophenschutz bleibt vor diesem Hintergrund notwendiger Weise defizitär. Es braucht wenig Phantasie, um sich vorzustellen, dass bei der nächsten Brandkatastrophe flüchtende Menschen erneut vor umzäunten Grundstücken stehen.
Gregor Kritidis ist Historiker, als Geschäftsführer der Rosa Luxemburg Stiftung Sachsen-Anhalt tätig und in der Griechenland-Solidarität Hannover aktiv. Gegenwärtig beschäftigt er sich mit der Geschichte des Bauhauses und dessen Vertreibung aus Dessau 1932.
Anmerkungen:
[1] https://www.eaps.gr/?p=4780#more-4780
[2] https://www.eaps.gr/?p=4780#more-4780
[3] Efimerida Syntakton v. 26.7.2018.
[4] http://dynamipolitonmarathona.blogspot.com/2016/03/v-behaviorurldefaultvmlo.html