Revolte gegen das System Mitsotakis

Eine tiefgreifende Unruhe hat die griechische Gesellschaft erfasst

Die Massendemonstrationen am 26. Januar 2025 waren kein Blitz aus heiterem Himmel.1 Die aktuellen Ereignisse sind eine Folge der Krise des neoliberalen Modells, das in Griechenland nur durch die Etablierung einer Diktatur der Gläubiger – repräsentiert durch die Troika aus IWF, der EZB sowie der EU – aufrecht erhalten werden konnte. Die Auswirkungen der EU-Krisenpolitik ab 2010, in deren Folge die griechische Ökonomie um mehr als ein Viertel einbrach, Arbeitslosigkeit, Armut und Verelendung immer neue Rekorde erreichten, haben tiefe Wunden in die griechische Gesellschaft geschlagen. Ebenso bleibt die brutale staatliche Repression gegen den massiven sozialen Widerstand – wiederholt wurden Regierungen gestürzt – im kollektiven Gedächtnis.

Der Versuch, im »Athener Frühling« 2015 mit veränderten parlamentarischen Mehrheiten eine Krisenpolitik im Interesse der Mehrheit der griechischen Bevölkerung durchzusetzen, scheiterte am ökonomischen und politischen Druck der EU unter maßgeblicher Führung des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble. Die nach den Wahlen im Januar gebildete Koalitionsregierung aus der Linkskoalition SYRIZA und den Unabhängigen Griechen (AnEl) vollzog im Sommer eine 180-Grad-Wende: Unter der massiven Drohung der Europäischen Zentralbank, die Geldzirkulation zusammenbrechen zu lassen, kapitulierte die Regierung Tsipras trotz eines mit über 60 Prozent gewonnenen Referendums bedingungslos.

Der lange Schatten
der Troika

Dieser Kotau vor der Troika hatte eine Parteispaltung und eine weitreichende Demobilisierung des sozialen Widerstandes und der gesamten politischen Linken zur Folge. Zwar konnte SYRIZA die Wahlen vom September 2015 noch gewinnen, mittelfristig verlor die Partei aufgrund ihres Glaubwürdigkeitsverlustes jedoch an Einfluss. Zwar war die Regierung Tsipras ein unwilliger Vollstrecker der Troika-Politik, aber sie setzte ihr keinen Widerstand entgegen. Das nahm vielen Menschen den Mut.

Vor diesem Hintergrund gewann 2019 die selbst angeschlagene konservative Nea Dimokratia (ND) die Wahlen und konnte die Politik der Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der Oberschicht sowie der Gläubiger fortsetzen. Flankiert wurde diese Politik durch eine Machtkonzentration auf einen kleinen Kreis von Funktionären rund um Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis: Im Sommer 2019 wurde das Gesetz über den Epiteliko Kratos, den Führungsstab-Staat, verabschiedet, der nicht zufällig an Offiziers- oder Krisenstäbe erinnert: So wurden verschiedene Institutionen der staatlichen Kontrolle und Verwaltung zur Nationalen Behörde für Transparenz EAD zusammengefasst und dem Ministerpräsidenten unterstellt, ebenso der öffentliche Rundfunksender ERT, der Geheimdienst EYP und die Athenisch-Mazedonische Presseagentur (APE-MPE).

Das war jedoch nur die legale Seite der neuen staatlichen Führungsstruktur: Im April 2022 wurde bekannt, dass zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens vom EYP abgehört worden waren. Neben Politikern der Oppositionsparteien waren Journalisten, hohe Militärs und Beamte, Geschäftsleute sowie führende, mit Staatschef Mitsotakis konkurrierende Funktionäre der regierenden ND unter den Abgehörten, darunter das halbe Kabinett. Selbst Außenminister Nikos Dendias gehörte zu den Ausgespähten, was zu diplomatischen Verstimmungen mit befreundeten Staaten führte. Besonders pikant: Eine hochrangige Ermittlerin der Polizei, die den Mord an dem Investigativ-Journalisten Giorgos Karaivaz aufklären sollte, zählte zu den Opfern der Überwachung. Karaivaz, auf Organisierte Kriminalität spezialisiert, war im April 2021 auf offener Straße ermordet worden.2

Ein Staat gegen
seine Bürger:innen

Das Agieren in diesem griechischen Watergate gab die Blaupause für alle weiteren Skandale ab. Ob Waldbrand-Katastrophen im Sommer oder Überschwemmungen im Winter, illegale Push-Backs von Migranten wie die Katastrophe von Pylos mit 600 Toten, die Novartis- und Siemens-Bestechungsskandale oder die Kooperationsbeziehungen der Polizei mit der Mafia: Es wurde vertuscht und verschleiert, Kritiker wurden bedroht, Opfer diffamiert oder gar kriminalisiert, Sündenböcke markiert und Verantwortliche nicht bestraft, sondern befördert. Die Verantwortung wurde bei ausländischen Mächten gesucht, etwa der Türkei und Russland, oder es wurde die Karte des Rassismus ausgespielt. Bei der Durchsetzung der Regierungsposition waren willfährige private Medien sowie der vom Premier und seinen Leuten kontrollierte staatliche Rundfunk ERT stets behilflich. Die Opposition im Parlament blieb zersplittert und zahnlos. Die außerparlamentarische Opposition wurde eingeschüchtert und b edroht.

Während ihrer ersten Legislaturperiode spielte der Regierung die Corona-Pandemie in die Hände. Mitsotakis und die hinter ihm stehenden Interessengruppen legten keine besondere Priorität auf die Bekämpfung der gesundheitlichen Risiken, sondern betrieben Symbolpolitik und nutzten die Pandemie als Vorwand für den weiteren Abbau der öffentlichen Infrastruktur, die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse und die Einschränkung des Streikrechts. Die allgemeine Panikmache in den regierungsfreundlichen Medien ließ kritische Stimmen weitgehend verstummen. Im Fall von SYRIZA kulminierte die Zersetzung der parlamentarischen Linken im innerparteilichen Putsch des griechisch-US-amerikanischen Reeders und Investment-Bankers Stefanos Kasselakis – mit der Folge einer weiteren Parteispaltung.

Dennoch gab es immer wieder teilweise heftigen Widerstand. Der Versuch, die Demonstrationen zum 1. Mai 2020 zu verschieben, scheiterte ebenso wie die Einführung einer speziellen Polizeieinheit zur Überwachung der Universitäten 2021, mit der die Hochschulen als Ort sozialer Unruhe autoritär befriedet und der soziale Widerstand der Studierenden gegen die Privatisierung des Bildungssystems gebrochen werden sollten.3 Die spontanen, heftigen Streiks und Proteste nach der Katastrophe von Tempi im März 2023 bildete die nächste Etappe im Kampf gegen das System Mitsotakis.

Gegenöffentlichkeit

Die politische Initiative verlagerte sich immer weiter aus der Blase der Parteipolitik in den gesellschaftlichen Raum. Die Gegenöffentlichkeit, die sich in den sozialen Medien insbesondere seit 2008 entwickelt hat, spielte eine gewichtige Rolle dabei, das kritische Bewusstsein aufrecht zu erhalten. So ging 2023 anlässlich des Todes durch unterlassene Hilfeleistung an einem geistig behinderten Mann das Video des Satirikers Antonis Atzarakis viral, der jede mögliche und unmögliche Art und Weise aufzählte, auf die Menschen in Griechenland zu Tode kommen können.4 Ein anderes Beispiel ist Luben.TV, mit 1,5 Mio Zugriffen im Monat insbesondere junger Leute mittlerweile eine wichtige Stimme in Griechenland. Gegründet wurde der satirische Youtube-Kanal 2010 von Studierenden der Polytechnischen Hochschule Kreta in Chania. Der Slogan des Kanals »Fast so gut wie die griechische Wirklichkeit« ist programmatisch: Luben.TV schneidet Aussagen von Politikern und Prominenten  so mit Schnipseln aus der Kulturindustrie zusammen, dass die dahinter liegende Wahrheit kenntlich wird. So werden etwa in dem Video »Vertuschung – aber für einen guten Zweck« charakteristische Aussagen von Premier Mitsotakis über die angeblichen Verschwörungstheorien über die Katastrophe von Tempi mit seinen späteren Aussagen sowie denen von Kritikern montiert. Medienprojekte wie das 2010 gegründete ThePressProject5 und die 2012 aus der Krise der Tageszeitung Eleftherotypia hervorgegangene »Zeitung der Redakteure«6 gehören zum Kern des gesellschaftlichen Gegenbewusstseins.

Zu einem Zentrum des Widerstandes entwickelte sich der Verein der Überlebenden und Angehörigen der Opfer »Tempi 23«,7 der konsequent die Aufklärung der Katastrophe verfolgt und schließlich Mitsotakis zur öffentlichen Korrektur zwang. Unterstützt wird der Verein von der außerparlamentarischen Linken, der sich als ein untergründig ebenso einflussreicher wie stabiler Faktor erwiesen hat. Dazu gehören neben den Basisgewerkschaften eine Vielzahl von Organisationen, von denen ANTARSIA ein wichtiger Akteur ist.8 Hinzu kommen Künstler, Kulturschaffende, zahlreiche Einzelpersonen und nicht zuletzt die kommunistische Partei KKE, die sich traditionell als antagonistischer Faktor im politischen Leben Griechenlands versteht.

Die Manifestationen am 26. Januar 2023, die innerhalb weniger Tage organisiert worden waren, sind eine Konsequenz des zähen Widerstandes gegen das System Mitsotakis, der von der sozialen Krise genährt wird. Die für den Jahrestag des Verbrechens von Tempi geplanten Streiks und Proteste am 28. Februar bilden die nächste Etappe des Kampfes für die Demokratie und gegen den autoritären Maßnahmenstaat á la Mitsotakis. Das Motiv der Plakate zur Mobilisierung – eine gestreckte Faust – belegt das erstarkte Selbstbewusstsein der Bewegung.

Gregor Kritidis, Jahrgang 1971, war Redakteur des Magazins Sozialistische Positionen.

Anmerkungen:

1 lunapark21.net/zwei-jahre-nach-tempi

2 2023 wurden Karaivaz mutmaßliche Auftragsmörder festgenommen, im Juli 2024 wurden sie von einem Schwurgericht in Athen mehrheitlich für nicht schuldig befunden und freigelassen. Von dem Drahtzieher des Mordes fehlt bis heute jede Spur.

3 Rückzieher der Regierung: Aus für die »Griechische Universitätspolizei«. https://griechenlandsoli.com/2023/07/16/ruckzieher-der-regierung-aus-fur-die-griechische-universitatspolizei/

4 In Griechenland sterben. https://griechenlandsoli.com/2023/09/16/in-griechenland-sterben/

5 https://thepressproject.gr/

6 https://www.efsyn.gr/

7 https://tempi2023.gr/

8 https://www.kathimerini.gr/society/563447503/to-chroniko-tis-anazopyrosis-poioi-kai-pos-gemisan-tis-plateies/

Scheinbar aus dem Nichts? Protestwelle in Griechenland zwei Jahre nach dem Zugunglück von Tempi

„Mein Kind fuhr auf einen Ausflug und ich bekam es in einem Leichensack zurück“

(Maria Karystianou, Mutter von Martha, die bei dem Zugunfall von Tempi ums Leben kam; sie ist Vorsitzende des Verein der Betroffenen des Zugunfalls „Tempi 2023“)

Es war wie das untergründige Grollen eines Vorbebens, das tektonische Verschiebungen gigantischen Ausmaßes in der Tiefe ankündigt: Am 26. Januar versammelten sich hunderttausende Menschen auf den zentralen Plätzen der Städte und Dörfer Griechenlands, um gegen die Vertuschung der Ursachen der Eisenbahnkatastrophe in der Nähe von Tempi vor zwei Jahren durch die griechische Regierung zu protestieren und Aufklärung zu verlangen. Selbst Dörfer auf abgelegenen Inseln mit nur wenigen hundert Einwohnern erlebten die vielleicht erste Kundgebung ihrer Geschichte. Es waren vergleichsweise stille, von Trauer und Wut gekennzeichnete Manifestationen, zu denen der Verein der Angehörigen der Opfer und der Überlebenden der Katastrophe aufgerufen hatte. Scheinbar aus dem Nichts erhob sich die griechische Bevölkerung, um eine scheinbare Selbstverständlichkeit zu fordern: Die Ermittlung und Bestrafung der Verantwortlichen für das Verbrechen von Tempi.

Am 28. Februar 2023 war ein von Athen kommender Intercity in Mittelgriechenland mit einem entgegenkommenden Güterzug kollidiert. 57 Menschen starben, über 80 wurden teilweise schwer verletzt. Unter den Toten und Verletzten befanden sich viele Studierende aus Saloniki, die über das verlängerte Wochenenden die Hauptstadt besucht hatten. In den folgenden Tagen kam es zu spontanen Streiks, und es versammelten sich zehntausende Menschen, um das anzuprangern, was in Griechenland ein offenes Geheimnis ist: Seit den Jahren der Austeritätspolitik nach 2008 ist das Eisenbahnsystem in einem beklagenswerten Zustand. Digitale Sicherheitssysteme sind zwar installiert, aber teilweise außer Funktion; es fehlt überall an Personal, und diejenigen, die eingestellt werden, sind aufgrund von Patronage und Vetternwirtschaft nicht oder nur schlecht qualifiziert; Wartung und Überwachung von Zügen und Gleisen sind teilweise mangelhaft. Dass es nicht schon zuvor zu größeren Unfällen gekommen ist, lag einzig am Engagement derjenigen Eisenbahner, die mit Überstunden die Lücken im System zu kompensieren versuchten. Wiederholt hatte die Eisenbahner-Gewerkschaft auf die zahlreichen Sicherheitsmängel hingewiesen und diese auch zum Gegenstand von Arbeitskämpfen gemacht.

Die Proteste vom Frühjahr 2023 verebbten jedoch; die konservative Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) versprach eine rückhaltlose Aufklärung des Unfalls, betrieb jedoch faktisch das Gegenteil. Mehr noch, den Angehörigen der Opfer wurde vorgeworfen, mit ihrer Forderung nach Aufklärung lediglich hohe Entschädigungszahlungen erzielen zu wollen. Die Proteste seien „gesteuert“ und würden von der Opposition „instrumentalisiert“. Bei der – zutreffenden – Behauptung, bei dem Unfall sei es zu einer Explosion gekommen, handele es sich um eine Verschwörungstheorie. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis verstieg sich sogar zu der Aussage, es habe im Güterzug keinen 13. Wagon mit illegaler Fracht gegeben – eine glatte Lüge, wie sich herausstellen sollte.

Die Taktik der Regierung schien zunächst aufzugehen. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni 2023 erzielte die ND aufgrund des Mehrheitsbonus die absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Selbst der für die Eisenbahn zuständige Verkehrsminister Kostas Achilleas Karamanlis, ein Cousin des ehemaligen Ministerpräsidenten, konnte seinen Wahlkreis im nordostgriechischen Serres gewinnen. Nur wenige Tage vor der Katastrophe bei Tempi im Februar 2023 hatte Karamanlis auf eine Frage der Opposition nach der Sicherheit im Schienenverkehr geantwortet: »Ich schäme mich dafür, dass Sie Sicherheitsfragen aufwerfen und möchte, dass Sie diese sofort zurücknehmen. Eine Schande ist das! Wir sind diejenigen, die die Sicherheit im Schienenverkehr gewährleisten.«1

Am ersten Jahrestag des Zugunfalls kam es erneut zu Protesten, bei denen zahlreiche Widersprüche bei den Ermittlungen der Behörden aufgeworfen wurden. Konsequenzen hatte das jedoch nicht, nur vereinzelt wurden in den Medien die Ungereimtheiten der Ermittlungsarbeit thematisiert.

„Ich habe keinen Sauerstoff“

Die im Verein „Tempi 2023“ organisierten Überlebenden der Katastrophe und Angehörigen der Opfer gaben jedoch nicht auf. Anfang diesen Jahres veröffentlichte der von ihnen beauftragte Gutachter Vasilis Kokotsakis einen Bericht, der es in sich hatte: Kokotsakis konnte nachweisen, dass die Mehrzahl der Opfer nicht durch den Zusammenstoß der Züge, sondern durch Sauerstoffmangel, der infolge der Explosion und des Brandes des Güterzuges entstanden war, ums Leben kamen. Bei ihren Anrufen in der Notrufzentrale, die routinemäßig aufgezeichnet werden, sagten die im Zug eingeklemmten Opfer, dass sie keinen Sauerstoff bekämen – und nicht etwa, dass sie nicht atmen könnten. In Verbindung mit Aufnahmen von der Explosion an der Unfallstelle konnte Kokotsakis zeigen, dass dieser Sauerstoffmangel in den entgleisten Waggons eine Folge der Explosion und des nachfolgenden Brandes gewesen ist.2

Dieser Nachweis ist nicht nur deswegen brisant, weil Mitsotakis zuvor behauptet hatte, es gebe keinen 13. Waggon, sondern weil dieser Waggon mit leicht entflammbarem Material – es handelt sich um Xylol und Toluol, Kohlenwasserstoffe, die als Lösungsmittel dienen – entgegen der Sicherheitsbestimmungen im Zug mitgeführt wurde. Auf einem Video-Mitschnitt der Rettungskräfte sind zudem Personen am Unfallort zu sehen, die nicht zu den Rettungskräften gehören und die die Unfallstelle absuchen.

Im Zuge der Proteste wurde deutlich, dass die Ermittlungen zum Tathergang systematisch verschleppt und behindert worden sind: Beweismittel wurden im großen Stil vernichtet oder manipuliert. So wurden die Blutproben der Opfer, in denen toxische Substanzen hätten nachgewiesen werden können, vorschriftswidrig vernichtet. Aus dem Mitschnitt des Funkverkehrs zwischen dem Lokführer und dem Stellwerk wurden elf Minuten herausgeschnitten, zudem wurde die Aufnahme manipuliert. Die Aufnahmen der Überwachungskameras auf den Bahnhöfen, die Aufschluss über die Beladung und Fahrt des Güterzuges hätten geben können, wurden gelöscht. Lediglich die Überwachungskamera eines Mini-Markets zeigt, dass ein in den Frachtpapieren nicht auftauchender Waggon Teil des Zuges war. Die Trümmer der Züge wurden samt der sterblichen Überreste der Opfer innerhalb kürzester Zeit an einen unbekannten Ort verbracht, die Unfallstelle ausgekoffert und zubetoniert, der Aushub ebenfalls an unbekanntem Ort entsorgt.

Eine auf Betreiben der Opposition eingeleitete parlamentarische Untersuchung lief ins Leere. Der „Untersuchungsausschuss der Schande“ beerdigte alle offenen Fragen in den Archiven des Parlaments, die beteiligten Abgeordneten der ND wurden später für ihre offensichtliche Obstruktion mit Ministerposten belohnt. Auch die gerichtliche Untersuchung hat bisher keine substantiellen Ergebnisse gebracht. Die mutmaßlich Verantwortlichen sind nach wie vor nicht belangt, teilweise nicht einmal befragt worden. Faktisch sind alle Details erst durch die Recherchen der Angehörigen oder mutiger Journalisten ans Licht gekommen.

Demokratie und Aufklärung als Luft zum Atmen

Nach den Protesten vom 26. Januar gab Ministerpräsident Mitsotakis dem Sender Alfa ein Interview, bei dem er sich ahnungslos gab und die Verantwortung für die Desinformationen der Feuerwehr und der Betreiberfirma Hellenic Train, einer Tochterfirma der italienischen Staatsbahn Ferrovie dello Stato Italiane, zuzuschieben versuchte. Zudem bemühte er sich, die politische Verantwortung auf enge Mitarbeiter und politische Freunde abzuwälzen. Im Kreuzfeuer der Kritik stehen nun der ehemalige Staatssekretär im Ministerpräsidentenamt, Christos Triantopoulos,3 der ehemalige Parlamentspräsident und Kandidat der ND für das Amt des Staatspräsidenten, Konstantinos Tasoulas, sowie der Vorsitzende der Untersuchungskommission zum Unfall bei Tempi, Dimitris Markopoulos.

Triantopoulos wird vom Untersuchungsgericht die „Veränderung des Tatortes“ und die Vernichtung möglicher Beweismittel zur Last gelegt. Tasoulas wird vorgeworfen, Ermittlungsakten und Anzeigen der Eltern von Opfern dem Parlament vorenthalten zu haben. Und Markopoulos hat als Vorsitzender der parlamentarischen Untersuchungskommission eine zentrale Rolle bei der Verhinderung der Aufklärung der Katastrophe gespielt. Unter dem Druck der Massenproteste und immer neuer Enthüllungen in den Medien haben die Parteien der Opposition nun einen neuen Untersuchungsausschuss beantragt.4 Die Wahl von Tasoulas zum Staatspräsidenten zieht sich vor diesem Hintergrund bereits über drei Wahlgänge, bei denen er jedes Mal gescheitert ist. Doch die Hürde sinkt im vierten Wahlgang auf eine einfache Mehrheit, die zur Wahl benötigt wird. Wenn die Regierungspartei am 12. Februar zusammenhält, kann er es schaffen.

Die Staatskrise in Griechenland – um nichts geringeres handelt es sich – ist im deutschsprachigen Raum bisher kaum ein Thema gewesen. Die Dimensionen des Eisenbahnunfalls von Tempi könnten größer nicht sein. Die Berichterstattung der Medien in Deutschland über die Massenproteste in Griechenland vom vor-vergangenen Sonntag steht in umgekehrten Verhältnis zu deren Bedeutung. Praktisch werden nur den Sachverhalt völlig verkürzende Agenturmeldungen verbreitet. Der Schweizer Rundfunk SRF bildet eine Ausnahme, auch wenn die angegebene Zahl von 30.000 Demonstranten in Athen Polizeiangaben sind – es waren mindestens zehnmal so viel.5

Gegenwärtig überschlagen sich die Ereignisse, und es ist nicht absehbar, was noch alles ans Licht der Öffentlichkeit gebracht wird und wer dabei unter die Räder kommt. Ministerpräsident Mitsotakis, soviel steht fest, ist angezählt.

Die Berichterstattung wird in Heft 64 von Lunapark21 fortgesetzt. Schon (wieder) Abonnent:in?

1 Zitiert nach Neues Deutschland vom 19.5.2023.

2 Diese These wird vom Vorab-Bericht einer Untersuchung der Universität Gent bestätigt. Kathimerini vom 5.2.2025: https://www.kathimerini.gr/visual/infographics/563453143/tempi-olo-to-apokalyptiko-porisma-gia-tis-ekrixeis-to-chroniko-tis-fotias-meta-ti-sygkroysi/; ebenso vom Draft der Nationalen Organisation zur Aufklärung von Luftfahrt- und Eisenbahnunfällen sowie Sicherheit des Verkehrs (EODASAAM). Zeitung der Redakteure vom 3.2.2025: https://www.efsyn.gr/politiki/461799_kaiei-proshedio-gia-porisma-soreia-lathon-kai-paraleipseon

3 Nach den Wahlen vom 25. Juni 2023 wechselte Triantopoulos auf den Posten des Staatssekretärs im Ministerium für Klimakrise und Zivilschutz. Am 6. Februar 2025 kündigte er seinen Rücktritt.

4 Zeitung der Redakteure vom 4.2.2025: https://www.efsyn.gr/politiki/boyli/461982_pasok-zita-proanakritiki-kata-triantopoyloy-gia-mpazoma-sta-tempi

5 SRF vom 29.1.2025: https://www.srf.ch/news/international/proteste-in-griechenland-massenproteste-fuer-aufklaerung-von-zugkatastrophe-ein-ueberblick

Hellas-Monopoly

Dauerkrise & Ramschverkauf & Reeder-Macht

Griechenland war jahrelang Thema Nummer ein in den Medien. Inzwischen taucht das Land kaum mehr in Meldungen auf. Und wenn – so im Sommer 2018 – dann ist die Rede davon, das Land sei gerettet worden. Es gehe aufwärts. Die Troika habe gute – für alle Beteiligten segensreiche – Arbeit geleistet. Das Gegenteil ist der Fall – wie die Autoren Nikos Chilas, Gregor Kritidis und Winfried Wolf auf den folgenden Seiten belegen: Die soziale und wirtschaftliche Krise dauert an; seit der Griechenland-Krise weitet sich die Kluft in der EU aus. Die staatlichen Strukturen sind geschwächt, was die Brandkatastrophe im Sommer 2018 auf Attika begünstigte. Derweil bilden die griechischen Reeder einen Club der Superreichen und Mächtigen, ohne in der Krise zu Hilfe herangezogen zu werden.

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Waldbrände und kapitalistische Entwicklung

„In Griechenland gibt es zwei Hemmnisse für das ökonomische Wachstum: Der archäologische Dienst und die Forstbehörde“


Konstantin Mitsotakis

„Könnten diese Waldbrände, so fragen mich Journalisten, für Athen nicht der Moment sein, zu rebellieren und das Ende der Sparmaßnahmen zu fordern, die für das Überleben von Griechenland so schädlich sind? Natürlich! Jeder Moment ist ein guter Moment, um der Troika die Zwangsjacke menschenfeindlicher Sozialpolitik, die zu einer dauerhaften humanitären Krise in Griechenland geführt hat, zu entreißen. Im letzten Jahrzehnt hat uns die Tragödie, die uns von der EU-Elite auferlegt wurde, viel mehr Menschenleben gekostet als jede Flut und jedes Feuer. Seit 2011 haben über 20.000 Menschen Selbstmord begangen. Zehn Prozent der Griechen im arbeitsfähigen Alter sind wegen der wirtschaftlichen Depression ausgewandert.“


Yanis Varoufakis, Auszug aus dem Text „Was steckt hinter den tödlichen Waldbränden in Griechenland“ vom 26. Juli 2018

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Schuldenturm, Ausverkauf und soziale Misere

Kein Ende der sozialen und ökonomischen Krise Griechenlands

Am 21. August 2018 erklärte Alexis Tsipras den Ausstieg Griechenlands aus den Memoranden. Der Ort, an dem er die frohe Botschaft verkündete, war die Insel Ithaka, die Heimat des homerischen Helden Odysseus, die er nach zehnjährigem leidvollem Herumirren wiedergefunden hatte. Tsipras sah darin eine Duplizität der Ereignisse – die Wirklichkeit imitierte den Mythos. „Wir haben seit 2010 eine Odyssee erlebt“, sagte er in Anspielung auf die Leiden seiner Landsleute. Das griechische Volk habe es jedoch geschafft, die Herrschaft der Troika abzuschütteln. Dies sei nun der Tag der Erlösung. „Ithaka wird wieder mit dem Ende einer modernen Odyssee identifiziert werden“. Das Land gewönne nun, nach der achtjährigen Herrschaft der Troika, seine Souveränität zurück.
Die Wirklichkeit sieht anders aus und ist eine dreifach bittere. Erstens wird das Land grundsätzlich eine Schuldenkolonie bleiben. Zweitens findet ein umfassender Ausverkauf statt. Und schließlich – drittens – bleibt die soziale Lage für den Großteil der Bevölkerung katastrophal.

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Griechenland vor einer autoritären Wende?

Aus: LunaPark21 – Heft 18

Die Wahlen in Griechenland vom 6. Mai haben ein politisches Erdbeben ausgelöst, dessen Schockwellen bis nach Paris und Berlin spürbar geworden sind. Beide große Parteien, die konservative Nea Dimokratia (ND) und die ehemals sozialistische PASOK, wurden für ihre Unterstützung der Krisenpolitik der Troika (bestehend aus Vertretern der EZB, der EU-Kommission und des IWF) massiv abgestraft. Aber auch die rechtsradikale LAOS, die sich zeitweise an der Regierung der großen Koalition unter dem ehemaligen Zentralbanker Lukas Papadimou beteiligt hatte, musste Federn lassen und verpasste den Wiedereinzug in das griechische Parlament.

Die von den Gläubigern des Landes diktierte und von der Troika umgesetzte soziale und wirtschaftliche Zerrüttung des Landes, die Hunderttausende Menschen in teilweise bitterste Armut gestürzt hat, hat

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