Frühgeschichte der Arbeitsmedizin

Die Manufaktur „verkrüppelt den Arbeiter in eine Abnormität, indem sie sein Detailgeschick treibhausmäßig fördert durch Unterdrückung einer Welt von Trieben und Anlagen […] Die besonderen Teilarbeiten werden nicht nur unter verschiedene Individuen verteilt, sondern das Individuum selbst wird geteilt, in das automatische Triebwerk einer Teilarbeit verwandelt.“Karl Marx, Das Kapital I, S. 381 (MEW)

Bereits altägyptische Quellen berichten über Staublungenerkrankungen. Bei der Bearbeitung der Steine für die großen Monumente schädigte der entstehende Staub die Lungen der Steinmetze. Auch die Griechen und Römer wussten von Erkrankungen und Schädigungen, die durch den Beruf verursacht werden und empfahlen deshalb präventive Maßnahmen zu deren Vermeidung und Linderung. So fiel Plato im 4. Jahrhundert vor Christus auf, dass der Körper eines Handwerkers durch seine Berufstätigkeit deformiert werden konnte. Um 450 v. Chr. berichtete der Arzt Hippokrates von berufsbezogenen Haltungsschäden bei Bergarbeitern, Lastenträgern und Schneidern. Er beschrieb auch eindrücklich die Bleikolik eines Grubenarbeiters. Er riet seinen Arztkollegen, „es gibt viele Berufe, die mit mancherlei Gesundheitsgefahren verbunden sind. Darum ist es besonders wichtig, von vorneherein jeden Kranken nach seinem Beruf zu fragen“.

Dem römischen Schriftsteller und Naturforscher Plinius (gestorben 79 n. Chr.) verdanken wir die Beschreibung der bei Bleibergwerks-und Bleihüttenarbeiter häufig auftretende Krankheiten. Zur Verhinderung von Lungenkrankheiten empfahl er das Tragen spezieller Gesichtsmasken u.a. beim Schleifen und Polieren von Metallen.

Im Mittelalter schienen in Europa fast alle bis dahin bekannten arbeitsmedizinischen Kenntnisse aus der Antike abhandengekommen zu sein. Erst Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhundert befassten sich in Europa Gelehrte wie Theophrast Bombast von Hohenheim, genannt Paracelsus (1494-1541), und Agricola / Georg Bauer (1494-1555) mit dem Zusammenhang von Arbeit und Gesundheit. Sie beschäftigten sich außer mit den Schwermetallvergiftungen von Bergleuten auch mit schweren toxischen Erscheinungen bei Arbeitern der Metall-, Glas- und Spiegelverarbeitung, die mit Quecksilber und Blei in Berührung kamen.

Paracelsus, geboren im Kanton Schwyz, fristete als einfacher Landarzt sein Dasein. Erste Einblicke in die bergbauliche Praxis erhielt er in Villach, Kärnten. Dort wurden in den Bergwerken von Paternion, Bleiberg und Hüttenberg Zink-, Blei- und Eisenerze gefördert. 1530 zog Paracelsus nach Schwaz, um unter den damals 12.000 Knappen die „Bergsucht“ zu studieren. Er verfasste darüber ein dreibändiges Werk. Das Schwazer Silber war für die Fugger eine der Quellen ihres Reichtums, die Schwazer Silberproduktion umfasste damals 85 Prozent des gesamten Weltmarktes. Um 1500 war Schwaz nach Wien die zweitgrößte Stadt im Habsburgerreich. Paracelsus war der erste, der davon ausging, dass Lungenkrankheiten von Bergarbeitern durch Einatmen metallischer “Dämpfe” verursacht wurden und nicht von bösen Geistern. Vor ihm hatte auch niemand auf den Zusammenhang zwischen niedrigem Mineralgehalt im Trinkwasser und der Verbreitung von Kröpfen in manchen Gegenden hingewiesen. Seine Beschreibung der Syphilis war eine bahnbrechende Abhandlung, in der erstmals eine Behandlung mit einer Quecksilbermischung vorgeschlagen wurde.

Als Begründer der modernen Arbeitsmedizin gilt der italienische Arzt Bernardino Ramazzini (1633-1714). Er arbeitete wissenschaftlicher und systematischer als Paracelsus und Agricola vor ihm. Mit genau dokumentierten Studien belegte er als Erster, dass sich Krankheiten bestimmten Berufsgruppen zuordnen lassen. 1700 erschien „De morbis artificum diatriba“, die erste geschlossene Darstellung häufiger Krankheiten von Künstlern und Handwerkern. Darin beschreibt er die Krankheiten der „schmutzigen Handwerker“, also die der Rotgerber, Käsemacher, Seifensieder, Totengräber, Hebammen, der „staubigen Handwerker“ wie Bäcker, Müller, Tabakbereiter, der „stehenden, sitzenden und herumgehenden Künstler und Handwerker“ und der „Wasserarbeiter“, zum Beispiel Baader, Fischer, Schiffer. Danach leiden Zimmerleute und Maurer typischerweise unter Krampfadern, schwachen Mägen, Müdigkeit und Mattheit.

Wenn in der Gegenwart arbeitsplatzbedingte körperliche Belastungen zurücktreten und psychomentale dramatisch zunehmen, so wird dabei leicht übersehen, dass manche schweren Arbeiten heutzutage in der Ferne stattfinden: viele „klassische“ Berufskrankheiten wurden „outgesourct“ – nach Indien, Pakistan, Bangladesh usw.

Manfred Dietenberger war zwei Jahrzehnte DGB-Vorsitzender in Waldshut; er schreibt für verschiedene Zeitungen

Erschienen in lunapark21 Heft 46 / Sommer 2019, S. 48f.

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