Ein politisches Leben für menschenwürdige Arbeits- und Lebensverhältnisse
Ein Interview
Wolfgang Hien ist gewerkschaftlicher Aktivist und hat sich während eines halben Jahrhunderts für Gesundheit in der Arbeitswelt eingesetzt.
Lunapark21: Wie kamst Du dazu, Dich gerade für die gesundheitlichen Belange von Beschäftigten zu engagieren?
Wolfgang Hien: Ich begann im April 1965 meine Laborantenlehre in der BASF Ludwigshafen, in einem Großlabor inmitten einer riesigen Chemiefabrik. Ich war gerade 16 geworden, man steckte mich in einen Blaumann, und dann wurde ich erst einmal viele Monate für Putz- und Hilfsarbeiten eingesetzt.
Ich arbeitete mehrere Tage pro Woche im PVC-Technikum, wo die Herstellung von Kunststoffen erprobt wurde, und dort musste ich feste Masse aus riesigen Kesseln herausklopfen. Eine schwere und giftige Arbeit, da monomeres Vinylchlorid ausdampfte, ein narkotisierender und hochgradig krebserzeugender Stoff. Ich litt unter Übelkeit, ich musste oft kotzen. Mein Chef und meine Kollegen meinten, daran gewöhne man sich. Das seien die Anfangserscheinungen. Der Oberchef der Arbeitsgruppe war immer ein promovierter Chemiker, der sich ohnehin nur für „die Technik“ interessierte. Die Menschen waren dem völlig egal. Doch ich gewöhnte mich nicht, wurde immer wieder zur Werksambulanz geschickt. Die Betriebsärzte hatte dann nichts Besseres zu tun, als mir Novalgin zu spritzen und mich wieder an die Arbeit zu schicken. Aus deren Mund, das waren ja noch überwiegend Nazi-Ärzte, kamen dann auch solche Sprüche wie „Simulant“ oder „kränklicher Schwächling“. Das hat mich besonders empört. Und es ging nicht mir allein so.
Schon 1966/67 haben wir Lehrlinge, Jungarbeiter und Junglaboranten uns zu einer Gruppe zusammengetan: der Sozialistischen Betriebsgruppe Ludwigshafen. Wir kamen mit Leuten vom SDS Mannheim und Heidelberg in Kontakt, ebenso mit Trotzkistinnen und Trotzkisten der späteren Gruppe Internationale Marxisten. Hier bekam ich sozusagen mein politisches Grundgerüst. Doch auch die Problematik der Gesundheitszerstörung durch Arbeitsbedingungen ließ mich nicht mehr los. Ein wesentlicher Antrieb wurde dann die Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung. Die kapitalistische Technik und vor allem auch die Chemieindustrie mit ihren unermesslichen Massen an Giften zerstört unsere Lebensgrundlagen und unser aller Leben, wenn wir nichts dagegen tun.
Ich befasste mich schon 1974 intensiv mit Toxikologie und versuchte, Wissen der Umwelt- und Gesundheitsbewegung in die Betriebsbasisgruppen zu bringen. Ich habe noch viele Jahre in der Chemie- und Stahlindustrie gearbeitet und mich an linker Betriebsarbeit mit meinen Themen beteiligt. 1980 engagierte ich mich für ein bundesweites Betriebslinkentreffen, das von der Gruppe oppositioneller Gewerkschafter bei Opel Bochum (GoG) mitorganisiert wurde. Da wurden Themen wie Gifte am Arbeitsplatz und Gesundheitsschäden durch Nachtarbeit diskutiert.
LP21: Haben sich die Bedingungen der Industriearbeit im Laufe Deines Berufslebens verändert, und wie hat die Arbeitsmedizin darauf reagiert?
WH: Noch in den 1980er Jahren konnte man schreckliche Arbeitsbedingungen erleben wie kleingehackte Fließbandarbeit, offener Umgang mit Lösemitteln, überall Stäube, auch die tödlichen Asbeststäube, grauenhafte Dioxinbelastungen zum Beispiel bei Boehringer in Hamburg. Und die Arbeitsmedizin änderte sich nur langsam. Noch in den 1990er Jahren waren führende Arbeitsmediziner der Meinung, dass all diese Belastungen im Bereich des Normalen lägen. Wer das nicht aushalte, der leide eben an „Kränklichkeit“; sei „zu empfindlich“ für die Arbeitswelt. Dafür aber könnten Unternehmer und Staat nicht verantwortlich gemacht werden. Der Schwache gehe eben unter. Ungeheuerlich!
Die Arbeitsbedingungen haben sich zwar verschoben durch technische Veränderungen und Automatisierung. Doch nach wie vor gibt es körperlich extrem anstrengende Arbeit, gerade in den neuen Dienstleistungsbereichen. Gut, die offizielle Arbeitsmedizin hat sich verändert, es gibt sicher mehr Medizinerinnen und Mediziner, für die Betroffenheit im Mittelpunkt steht. Aber leider auch wieder welche, die beispielsweise im Dienst der Autoindustrie stehen und die Emissionen im Verkehr verharmlosen.
LP21: Du und andere Engagierte, ihr habt dann eine andere Medizin, eine Arbeitermedizin gefordert. Was bedeutet das?
WH: Ja, gegen diese menschenfeindliche Medizin haben wir das aus den italienischen Arbeiterkämpfen kommende Konzept der Arbeitermedizin propagiert: Nicht die Arbeit, sondern die Arbeiterin und der Arbeiter sollen geschützt werden! Die Ärzte und die offiziellen Sicherheits- und Gesundheitsexperten haben nicht das Recht, über unseren Körper, Gesundheitszustand und unsere Arbeitsfähigkeit zu urteilen. Wir selbst sind die Experten und Expertinnen unserer Situation, unseres Körpers, unserer Gesundheit! Wir delegieren nichts mehr! Non delegata! Zum Teufel mit den offiziellen Grenzwerten! Wir selbst spüren, wann die Grenze erreicht ist, und wir selbst bestimmen, wann wir die Arbeit verweigern! Das Verrückte ist ja, dass seit 1996 im deutschen Arbeitsschutzgesetz so etwas wie Arbeitsverweigerung enthalten ist, nur dass die Definitionsmacht, ob etwas unerträglich ist oder nicht, wieder bei den akademischen Experten liegt. Das wollten wir nicht akzeptieren.
LP21: Der DGB ermittelt seit einigen Jahren einen Gute-Arbeit-Index auf der Grundlage von Befragungen von abhängig Beschäftigten. Unterstützt das nicht eure Bemühungen um mehr gesundheitliche Selbstbestimmung?
WH: Das ist eine schwierige Frage. Schon beim ersten alternativen Gesundheitstag in Berlin 1980 habe ich mit dem damaligen DGB-Abteilungsleiter Erich Standfest gestritten, wer genau mobilisiert werden müsste. Ich sagte: „Es ist Aufgabe der Gewerkschaften, die Betroffenen, also die vor Ort Arbeitenden zu mobilisieren!“ Er setzte dem den Satz entgegen: „Nein, es ist unsere Aufgabe, die Selbstverwalter zu mobilisieren!“ Daran zeigt sich exemplarisch die ganze Problematik. Auch die Kampagne für „Gute Arbeit“ richtet sich letzten Endes an Institutionen, Berufsgenossenschaft und Staat, mit der Forderung nach besseren Rechtverordnungen, z.B. gegen den Stress. Ich glaube, es wäre wichtiger, die Arbeitenden vor Ort zu ermutigen, Signale ihres Körpers und ihrer Seele ernst zu nehmen und direkten Widerstand gegen Zumutungen und Zurichtungen im Arbeitsleben zu leisten. Nach meiner Überzeugung erleben wir zurzeit eine immer stärker werdende Entfremdung von Körper, Leib und Seele. Jeder soll nun selbst für seine Fitness sorgen. Ich halte das angesichts der Belastungen und Zumutungen für pervers.
Doch die Propaganda für „Eigenverantwortlichkeit“ hat sehr verfangen, und fatalerweise haben sich die Gewerkschaften dafür einspannen lassen. Zwischen 2003 und 2005 war ich Referatsleiter für Gesundheitsschutz beim DGB-Bundesvorstand. Mein Konzept war: „Für gute und gesunde Arbeit für alle! Unabhängig davon, ob einer schnell oder langsam, jung oder alt ist, einheimisch oder migrantisch!“ Damit konnte ich mich nicht durchsetzen. Die sozialpartnerschaftliche Orientierung, der ich mich nicht unterwerfen wollte, und die Umorientierung auf „Employability“ und „Gesundheitsmanagement“, die ich nicht mitmachen wollte, brachten mich an einen Punkt, an dem nichts mehr ging. Ich wurde selbst krank und musste den Job aufgeben.
LP21: Nach der Schließung der Vulkan-Werft 1997 hast Du die Vulkan-Arbeiter nach ihrer Gesundheit und ihrer Lebenssituation befragt und noch einmal zehn Jahre später nachgehakt. Wie siehst Du die heutige Arbeitswelt?
WH: Mir war immer wichtig, das wirkliche Leben hinter den nackten Zahlen zu sehen und dem Leben der belasteten Menschen nachzuspüren. Ich versuchte, ihre Situation zu verstehen, auch der Frage nachzugehen, wie sie ihr alltägliches Leben bewältigen, Widerstand leisten, aber auch ihre kleinen Fluchten suchen. Dass körperliche Schwerstarbeit Knochen und Gelenke kaputtmacht, Asbeststäube und Schweißrauch die Lunge zerstört, all das ist kein vergangenes Thema eines Museums der Arbeit, sondern aktuelle Realität. Was die Werftarbeiter in zahllosen halbkriminellen Leiharbeitsbetrieben erlebten und erleben, passt nicht zu unserer Hochglanzgesellschaft. Wie überhaupt das Thema ältere und gesundheitlich angeschlagene Erwerbstätige: Die Propaganda von den „fitten Alten“ verstellt den Blick auf die Wirklichkeit, darauf, dass jeder und jede zweite über 50 an einer oder mehreren chronischen Krankheiten leidet. Dies sind eben auch Folgen jahrelanger physischer und psychischer Arbeitsbelastungen.
Selbst die Betroffenen versuchen das manchmal zu verdrängen. Ich habe mehrere Studien durchgeführt, zu verschiedensten Berufsgruppen, beispielsweise zu älteren IT-Beschäftigten und zu älteren Pflegekräften. Bei der arbeitswissenschaftlichen Unterstützung von Interessenvertretungen habe ich mehrere Wochen lang die Arbeit auf Krankenhausstationen teilnehmend beobachtet und arbeitswissenschaftlich belegen können, dass Personalkürzungen die Gesundheit der Pflegekräfte wie der Patienten gefährdet. Ich habe schon 2012 eine Mindestpersonalbesetzung gefordert; und keine Alleinarbeit auf Nachtschicht! Meine Gutachten wurden natürlich von den Arbeitgebern angefochten, und die gehen durch alle Instanzen. Ende dieses Jahres wird sich schließlich und endlich das Bundesarbeitsgericht dazu äußern. Wir werden sehen.
Wenn man ins Detail geht, dann entblättert sich die neue schöne Arbeitswelt, und ihr hässlicher Kern wird sichtbar. Viele Menschen machen sich was vor. Sie übernehmen die Ideologie ihres Unternehmens und denken, sie könnten sich irgendwie selbst verwirklichen. Ich halte das für eine gigantische Selbsttäuschung, für ein massenhaftes „Pseudo-Selbst“, wie es Ernst Fromm schon vor langer Zeit für die US-amerikanische Gesellschaft diagnostiziert hat.
Die Kapitalverwertung greift tief in unser Leben ein, bemächtigt sich unserer freien Zeit, schürt die Konkurrenz unter den Kollegen und Kolleginnen, drängt die Älteren und chronisch Kranken in den Abgrund der „Überflüssigen“. Entgrenzung, Spaltung, Unsicherheit, Angst – das sind die Phänomene unter der Hochglanzoberfläche. Das FIT-Programm auf der Bremer Hütte ist so ein Beispiel. Alle Beschäftigten des Stahlwerks mussten sich verpflichten, sich selbst, das Team und den Standort „fit“ zu halten. Ich werde nie verstehen, wie sich Betriebsräte auf so etwas haben einlassen können. Es heißt, der Standort war gefährdet. Ja, der ist im Kapitalismus sowieso immer gefährdet. Daran ändern selbst hohe Profite nichts. Der Höchst-Konzern hat sich in den 1990er Jahren selbst zerlegt, der Bayer-Konzern zerlegt sich jetzt gerade. Sollen wir immer den Winkelzügen des Kapitals hinterherlaufen?
Meine Sicht der Dinge, als Resultat von mehr als 50 Jahren gewerkschaftlicher und politischer Aktivität für die Gesundheit in der Arbeitswelt, ist eine völlig andere: Es geht um das Grundrecht auf Gesundheit und gutes Leben für alle, um ein Menschenrecht, das nicht verhandelbar ist, das nicht betriebs- oder volkswirtschaftlich „verrechnet“ werden kann. Das muss in die Köpfe und Herzen der arbeitenden Menschen hinein, dafür habe ich mich immer eingesetzt. Mobilisierung für menschenwürdige Arbeitsbedingungen – darum geht es. Mobilisierung der Arbeiter und Arbeiterinnen, denn nur sie selbst können die Verhältnisse wirksam ändern. Wir sind als Gewerkschaften nicht dazu da, die Menschen fit zu machen, sondern alle Menschen, so wie sie sind, zu verteidigen, auch die Langsamen, die chronisch Kranken. Wir brauchen eine Arbeitswelt, in der Menschen ihren Platz finden und leben können. Das galt früher und gilt heute und weiterhin.
Die Fragen für lunapark21 stellte Jürgen Bönig.
Wolfgang Hien, Verein für kritische Arbeits-, Gesundheits- und Lebenswissenschaft e.V.
ausführlicher in: Wolfgang Hien im Gespräch mit Peter Birke: Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn
»68« und das Ringen um menschenwürdige Arbeit, VSA: Verlag Hamburg 2018.
Erschienen in lunapark21 Heft 46 / Sommer 2019, S. 26-29.
„Jenseits des jungen, gesunden und fitten Arbeitskörpers …“
Jeder dritte Erwerbstätige leidet unter mindestens einer chronischen Erkrankung. Als solche sind Krankheiten definiert, die länger als sechs Monate anhalten und wiederholt therapeutische Maßnahmen erfordern. Ab dem 50. Lebensjahr ist jeder zweite Erwerbstätige betroffen, oftmals von mehreren chronischen Krankheiten gleichzeitig1.
Häufigste chronischen Erkrankungen in der BRD
- Muskel-Skelett-Erkrankungen mit und ohne Bandscheibenvorfall
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Hochdruck, Herz- und Gehirninfarkt
- Diabetes mellitus (Typ 2) und andere Stoffwechselerkrankungen
- Krebserkrankungen, vor allem der Brust (F) und der Lunge (M)
- Psychische Erkrankungen, vor allem Depression
Krankheitsursachen werden mittels epidemiologischer Forschung ermittelt. Hauptursachen sind die Lebensbedingungen im umfassenden Sinne: Umwelt, Ernährung, Lebensstil, Arbeit. Nur ein kleiner Teil der Krankheiten ist genetisch bedingt. Zumeist liegen vielfache Wechselwirkungen vor, die im Einzelfall nur schwer analysiert werden können.
Arbeitsbedingte Erkrankungen
Der arbeitsbedingte Anteil der chronischen Erkrankungen beträgt etwa 35 Prozent, das heißt die Arbeitswelt trägt gut ein Drittel zur Krankheitslast bei. Die Schätzungen bei Krebs betragen zwischen 5 und 20 Prozent, die Schätzungen bei Rückenerkrankungen liegen zwischen 30 und 50 Prozent. Schweres Heben und Tragen kann diesen Anteil noch erhöhen.
Doch auch die Psyche spielt mit: Jede zweite Rückenerkrankung ist psychisch bedingt. Dauerstress führt zu Verspannungen und chronischen Belastungen der Wirbelsäule. Verheerend ist die Kombination von körperlichen und seelischen Belastungen2.
Nur ein Bruchteil der arbeitsbedingten Erkrankungen überwindet die Hürde zur Berufskrankheiten-Anerkennung (BK). Die BK-Rechtskonstruktion verlangt den Nachweis einer über 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines eindeutigen arbeitsbedingten Faktors. Hinzu kommt die extrem restriktive Anerkennungspraxis der Berufsgenossenschaften. Im Vordergrund des BK-Geschehens stehen physikalische und chemische Faktoren, psychische Faktoren sucht man in der BK-Liste vergebens3.
Häufigste anerkannte Berufskrankheiten in der BRD 2017
- Lärmschwerhörigkeit: 6.649 Fälle
- Hauterkrankungen: 4.448 Fälle
- Asbesterkrankungen: 2.690 Fälle, davon tödlich: 1.613 Fälle
- Infektionskrankheiten (insbesondere Krankenhaus): 996 Fälle
- Silikose, Bronchitis, Emphysem (Bergleute): 724 Fälle, davon tödlich: 433 Fälle.
Wolfgang
Hien
- Robert Koch Institut: Gesundheit in Deutschland 2015. https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GesInDtld/GesInDtld_inhalt.html
- Bödeker, W./Friedel, H./Röttger C, Schroer A. (2002): Kosten arbeitsbedingter Erkrankungen, Bremerhaven 2006.
- Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. DGUV-Statistik für die Praxis 2017. https://www.dguv.de/de/zahlen-fakten/index.jsp
Literatur: Hien, W. / Bödeker, W. (Hg.) (2008): Frühberentung als Folge gesundheitsgefährdender Arbeitsbedingungen. Bremerhaven: NW.
Erschienen in lunapark21 Heft 46 / Sommer 2019, S. 28.
Ein gesundheitswissenschaftliches Krankheitsmodell
Belastungen wirken auf Menschen ein, aber weil sie über gewisse biologische und soziale Ressourcen verfügen, können sie die Wirkungen der Belastung kompensieren – in unterschiedlichem Maße. Aber dauerhafte und eingreifende Belastungen führen zu Gesundheitsstörungen, schließlich zu manifesten Erkrankungen (Morbidität) und erhöhter Sterblichkeit (Mortalität).
Die Wirkung der Belastungen wird durch bestimmte Faktoren verändert – verstärkt oder abgeschwächt.
Belastungsfaktoren: Effektmodifikatoren:
- physikalische ● soziale Lage (Klasse, Schicht, Milieu)
- chemische ● soziale Unterstützung oder Isolation
- biologische ● Empfindlichkeit und Empfänglichkeit
- soziale
- psychische
Ein entscheidender Effektmodifikator ist die soziale Lage: Arme werden häufiger krank und sterben zehn Jahre früher als Wohlhabende.
Fatal ist das Zusammenwirken von schlechten materiellen Bedingungen und höheren Schadstoffexpositionen durch Umwelt und Arbeit mit psychischen Belastungen durch Stigmatisierung, Diskriminierung, Ausgrenzung und Isolation. Der Umstand, dass Arme mehr rauchen und trinken, hängt selbst von der sozio-psychosomatischen Lebenssituation und den Stressbelastungen ab, die selbst wieder gesellschaftlichen Ursprungs sind. Wird der Beitrag von Tabak- und Alkoholkonsum zum Krankheitsgeschehen herausgerechnet, bleiben immer noch starke Unterschiede in Morbidität und Mortalität zwischen den verschiedenen sozialen Lagen bestehen.
Wichtig: Eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Schadstoffbelastungen kann auch schützen, sofern Menschen auf ihre Warnsignale hören.
Wolfgang Hien
Literatur:
Robert Koch Institut: Gesundheit in Deutschland 2015 https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GesInDtld/gesundheit_in_deutschland_2015.html.
Hien, W. / Obenland, H. (2017): Schadstoffe und Public Health. Aachen: Shaker.
Wilkinson, R. / Pickett, K. (2009): Gleichheit ist Glück. Berlin: Haffmans und Tolkemitt.
Kasten erschienen in lunapark21 Heft 46 / Sommer 2019 S. 30.
Epidemiologie
Der Begriff leitet sich aus dem Griechischen her und bedeutet: Die Rede (logos) darüber, was über (epi) das ganze Volk (demos) kommen mag. Man versteht darunter die wissenschaftliche Erforschung der Häufigkeit, der Verteilung und der ursächlichen Zuordnung von Krankheiten in einer bestimmten Population.
Epidemiologische Studien sind Beobachtungsstudien: Erfasst werden die Belastungsfaktoren, denen der Organismus ausgesetzt ist, auch Exposition genannt, und die Krankheitshäufigkeiten im Zeitverlauf. Eine durch bestimmte Expositionen belastete Gruppe, die sogenannte Kohorte, wird hinsichtlich Krankheit oder Todesursache mit einer unbelasteten oder weniger belasteten Gruppe, dem sogenannten Referenzkollektiv, verglichen. Im Ergebnis liefert eine Kohortenstudie den Wert für das ‘relative Risiko’, das sich aus dem Verhältnis der Erkrankungszahlen in der Kohorte zu den Erkrankungen im Referenzkollektiv ergibt. Zählt man beispielsweise vier Fälle in der Kohorte gegenüber drei in der Referenzgruppe, so liegt das relative Risiko bei 1,33 oder bei 33 Prozent.
Prinzip einer Kohortenstudie
Kohorte
Krankheitshäufigkeit (Koh)
= RR (Relatives Risiko)
Vergleichsgruppe Krankheitshäufigkeit (Vgl)
Der Ermittlung des relativen Risikos geht eine sogenannte Adjustierung voraus, wobei Faktoren mit gleicher Wirkungsrichtung herausgerechnet werden, etwa Vorerkrankungen oder Rauchgewohnheiten.
Ebenso wird die Signifikanz bewertet, wobei geprüft wird, ob die Kohorte ausreichend groß war, um Zufallsergebnisse weitgehend ausschließen zu können.
Weitere Qualitätskriterien sind zu berücksichtigen:
- Die Exposition, also die Ursache, muss zeitlich vor der Erkrankung liegen.
- Eine Zunahme der Krankheitshäufigkeit bei steigender Exposition, also bei steigender Dosis, sollte belegt sein.
- Die Krankheit muss hinsichtlich der Exposition biologisch-medizinisch plausibel sein.
- Das Ergebnis muss vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Literatur standhalten.
- Die methodischen Begrenzungen der vorgelegten Studie müssen benannt sein.
Epidemiologie ist multidisziplinäre Wissenschaft, in der Forschende der Bereiche Gesundheit, Medizin, Soziologie, Mathematik, Chemie, Biologie zusammenarbeiten. Sie ist keine „exakte“, sondern eine im sozialen Feld verortete, im besten Falle „quasi-experimentelle Wissenschaft“. Sie beinhaltet viele Abschätzungen, da wir nicht über vollständige und flächendeckende Expositionsdaten verfügen können. Es ergeben sich Wahrscheinlichkeitsaussagen aufgrund von Stichproben über eine (unbekannte) Grundgesamtheit. Epidemiologie hat immer zum Ziel, Aussagen über ursächliche Risiken und damit zugleich Aussagen über Präventionsbedarfe treffen zu können.
Wolfgang Hien
Literatur:
Frentzel-Beyme,
R. (1985): Einführung in die Epidemiologie. Darmstadt:
WBG.
Kreienbrock, L. / Schach, S. (1995): Epidemiologische
Methoden. Stuttgart: Gustav Fischer.
Kasten erschienen in lunapark21 Heft 46 / Sommer 2019 S. 31.