Eine tiefgreifende Unruhe hat die griechische Gesellschaft erfasst
Die Massendemonstrationen am 26. Januar 2025 waren kein Blitz aus heiterem Himmel.1 Die aktuellen Ereignisse sind eine Folge der Krise des neoliberalen Modells, das in Griechenland nur durch die Etablierung einer Diktatur der Gläubiger – repräsentiert durch die Troika aus IWF, der EZB sowie der EU – aufrecht erhalten werden konnte. Die Auswirkungen der EU-Krisenpolitik ab 2010, in deren Folge die griechische Ökonomie um mehr als ein Viertel einbrach, Arbeitslosigkeit, Armut und Verelendung immer neue Rekorde erreichten, haben tiefe Wunden in die griechische Gesellschaft geschlagen. Ebenso bleibt die brutale staatliche Repression gegen den massiven sozialen Widerstand – wiederholt wurden Regierungen gestürzt – im kollektiven Gedächtnis.
Der Versuch, im »Athener Frühling« 2015 mit veränderten parlamentarischen Mehrheiten eine Krisenpolitik im Interesse der Mehrheit der griechischen Bevölkerung durchzusetzen, scheiterte am ökonomischen und politischen Druck der EU unter maßgeblicher Führung des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble. Die nach den Wahlen im Januar gebildete Koalitionsregierung aus der Linkskoalition SYRIZA und den Unabhängigen Griechen (AnEl) vollzog im Sommer eine 180-Grad-Wende: Unter der massiven Drohung der Europäischen Zentralbank, die Geldzirkulation zusammenbrechen zu lassen, kapitulierte die Regierung Tsipras trotz eines mit über 60 Prozent gewonnenen Referendums bedingungslos.
Der lange Schatten der Troika
Dieser Kotau vor der Troika hatte eine Parteispaltung und eine weitreichende Demobilisierung des sozialen Widerstandes und der gesamten politischen Linken zur Folge. Zwar konnte SYRIZA die Wahlen vom September 2015 noch gewinnen, mittelfristig verlor die Partei aufgrund ihres Glaubwürdigkeitsverlustes jedoch an Einfluss. Zwar war die Regierung Tsipras ein unwilliger Vollstrecker der Troika-Politik, aber sie setzte ihr keinen Widerstand entgegen. Das nahm vielen Menschen den Mut.
Vor diesem Hintergrund gewann 2019 die selbst angeschlagene konservative Nea Dimokratia (ND) die Wahlen und konnte die Politik der Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der Oberschicht sowie der Gläubiger fortsetzen. Flankiert wurde diese Politik durch eine Machtkonzentration auf einen kleinen Kreis von Funktionären rund um Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis: Im Sommer 2019 wurde das Gesetz über den Epiteliko Kratos, den Führungsstab-Staat, verabschiedet, der nicht zufällig an Offiziers- oder Krisenstäbe erinnert: So wurden verschiedene Institutionen der staatlichen Kontrolle und Verwaltung zur Nationalen Behörde für Transparenz EAD zusammengefasst und dem Ministerpräsidenten unterstellt, ebenso der öffentliche Rundfunksender ERT, der Geheimdienst EYP und die Athenisch-Mazedonische Presseagentur (APE-MPE).
Das war jedoch nur die legale Seite der neuen staatlichen Führungsstruktur: Im April 2022 wurde bekannt, dass zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens vom EYP abgehört worden waren. Neben Politikern der Oppositionsparteien waren Journalisten, hohe Militärs und Beamte, Geschäftsleute sowie führende, mit Staatschef Mitsotakis konkurrierende Funktionäre der regierenden ND unter den Abgehörten, darunter das halbe Kabinett. Selbst Außenminister Nikos Dendias gehörte zu den Ausgespähten, was zu diplomatischen Verstimmungen mit befreundeten Staaten führte. Besonders pikant: Eine hochrangige Ermittlerin der Polizei, die den Mord an dem Investigativ-Journalisten Giorgos Karaivaz aufklären sollte, zählte zu den Opfern der Überwachung. Karaivaz, auf Organisierte Kriminalität spezialisiert, war im April 2021 auf offener Straße ermordet worden.2
Ein Staat gegen seine Bürger:innen
Das Agieren in diesem griechischen Watergate gab die Blaupause für alle weiteren Skandale ab. Ob Waldbrand-Katastrophen im Sommer oder Überschwemmungen im Winter, illegale Push-Backs von Migranten wie die Katastrophe von Pylos mit 600 Toten, die Novartis- und Siemens-Bestechungsskandale oder die Kooperationsbeziehungen der Polizei mit der Mafia: Es wurde vertuscht und verschleiert, Kritiker wurden bedroht, Opfer diffamiert oder gar kriminalisiert, Sündenböcke markiert und Verantwortliche nicht bestraft, sondern befördert. Die Verantwortung wurde bei ausländischen Mächten gesucht, etwa der Türkei und Russland, oder es wurde die Karte des Rassismus ausgespielt. Bei der Durchsetzung der Regierungsposition waren willfährige private Medien sowie der vom Premier und seinen Leuten kontrollierte staatliche Rundfunk ERT stets behilflich. Die Opposition im Parlament blieb zersplittert und zahnlos. Die außerparlamentarische Opposition wurde eingeschüchtert und b edroht.
Während ihrer ersten Legislaturperiode spielte der Regierung die Corona-Pandemie in die Hände. Mitsotakis und die hinter ihm stehenden Interessengruppen legten keine besondere Priorität auf die Bekämpfung der gesundheitlichen Risiken, sondern betrieben Symbolpolitik und nutzten die Pandemie als Vorwand für den weiteren Abbau der öffentlichen Infrastruktur, die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse und die Einschränkung des Streikrechts. Die allgemeine Panikmache in den regierungsfreundlichen Medien ließ kritische Stimmen weitgehend verstummen. Im Fall von SYRIZA kulminierte die Zersetzung der parlamentarischen Linken im innerparteilichen Putsch des griechisch-US-amerikanischen Reeders und Investment-Bankers Stefanos Kasselakis – mit der Folge einer weiteren Parteispaltung.
Dennoch gab es immer wieder teilweise heftigen Widerstand. Der Versuch, die Demonstrationen zum 1. Mai 2020 zu verschieben, scheiterte ebenso wie die Einführung einer speziellen Polizeieinheit zur Überwachung der Universitäten 2021, mit der die Hochschulen als Ort sozialer Unruhe autoritär befriedet und der soziale Widerstand der Studierenden gegen die Privatisierung des Bildungssystems gebrochen werden sollten.3 Die spontanen, heftigen Streiks und Proteste nach der Katastrophe von Tempi im März 2023 bildete die nächste Etappe im Kampf gegen das System Mitsotakis.
Gegenöffentlichkeit
Die politische Initiative verlagerte sich immer weiter aus der Blase der Parteipolitik in den gesellschaftlichen Raum. Die Gegenöffentlichkeit, die sich in den sozialen Medien insbesondere seit 2008 entwickelt hat, spielte eine gewichtige Rolle dabei, das kritische Bewusstsein aufrecht zu erhalten. So ging 2023 anlässlich des Todes durch unterlassene Hilfeleistung an einem geistig behinderten Mann das Video des Satirikers Antonis Atzarakis viral, der jede mögliche und unmögliche Art und Weise aufzählte, auf die Menschen in Griechenland zu Tode kommen können.4 Ein anderes Beispiel ist Luben.TV, mit 1,5 Mio Zugriffen im Monat insbesondere junger Leute mittlerweile eine wichtige Stimme in Griechenland. Gegründet wurde der satirische Youtube-Kanal 2010 von Studierenden der Polytechnischen Hochschule Kreta in Chania. Der Slogan des Kanals »Fast so gut wie die griechische Wirklichkeit« ist programmatisch: Luben.TV schneidet Aussagen von Politikern und Prominenten so mit Schnipseln aus der Kulturindustrie zusammen, dass die dahinter liegende Wahrheit kenntlich wird. So werden etwa in dem Video »Vertuschung – aber für einen guten Zweck« charakteristische Aussagen von Premier Mitsotakis über die angeblichen Verschwörungstheorien über die Katastrophe von Tempi mit seinen späteren Aussagen sowie denen von Kritikern montiert. Medienprojekte wie das 2010 gegründete ThePressProject5 und die 2012 aus der Krise der Tageszeitung Eleftherotypia hervorgegangene »Zeitung der Redakteure«6 gehören zum Kern des gesellschaftlichen Gegenbewusstseins.
Zu einem Zentrum des Widerstandes entwickelte sich der Verein der Überlebenden und Angehörigen der Opfer »Tempi 23«,7 der konsequent die Aufklärung der Katastrophe verfolgt und schließlich Mitsotakis zur öffentlichen Korrektur zwang. Unterstützt wird der Verein von der außerparlamentarischen Linken, der sich als ein untergründig ebenso einflussreicher wie stabiler Faktor erwiesen hat. Dazu gehören neben den Basisgewerkschaften eine Vielzahl von Organisationen, von denen ANTARSIA ein wichtiger Akteur ist.8 Hinzu kommen Künstler, Kulturschaffende, zahlreiche Einzelpersonen und nicht zuletzt die kommunistische Partei KKE, die sich traditionell als antagonistischer Faktor im politischen Leben Griechenlands versteht.
Die Manifestationen am 26. Januar 2023, die innerhalb weniger Tage organisiert worden waren, sind eine Konsequenz des zähen Widerstandes gegen das System Mitsotakis, der von der sozialen Krise genährt wird. Die für den Jahrestag des Verbrechens von Tempi geplanten Streiks und Proteste am 28. Februar bilden die nächste Etappe des Kampfes für die Demokratie und gegen den autoritären Maßnahmenstaat á la Mitsotakis. Das Motiv der Plakate zur Mobilisierung – eine gestreckte Faust – belegt das erstarkte Selbstbewusstsein der Bewegung.
Gregor Kritidis, Jahrgang 1971, war Redakteur des Magazins Sozialistische Positionen.
Anmerkungen:
1 lunapark21.net/zwei-jahre-nach-tempi
2 2023 wurden Karaivaz mutmaßliche Auftragsmörder festgenommen, im Juli 2024 wurden sie von einem Schwurgericht in Athen mehrheitlich für nicht schuldig befunden und freigelassen. Von dem Drahtzieher des Mordes fehlt bis heute jede Spur.
3 Rückzieher der Regierung: Aus für die »Griechische Universitätspolizei«. https://griechenlandsoli.com/2023/07/16/ruckzieher-der-regierung-aus-fur-die-griechische-universitatspolizei/
4 In Griechenland sterben. https://griechenlandsoli.com/2023/09/16/in-griechenland-sterben/
5 https://thepressproject.gr/
6 https://www.efsyn.gr/
7 https://tempi2023.gr/
8 https://www.kathimerini.gr/society/563447503/to-chroniko-tis-anazopyrosis-poioi-kai-pos-gemisan-tis-plateies/