Internationalismus als permanente Provokation
»Unser Recht, uns vor der Vernichtung zu schützen, gibt uns nicht das Recht, andere zu unterdrücken. Besatzung bedeutet Fremdherrschaft. Fremdherrschaft bedeutet Widerstand. Widerstand bedeutet Unterdrückung. Unterdrückung bedeutet Terror und Gegenterror. Die Opfer des Terrors sind meist unschuldige Menschen. Wenn wir an den besetzten Gebieten festhalten, werden wir zu einer Nation von Mördern und Mordopfern. Lasst uns sofort aus den besetzten Gebieten verschwinden.«
Dieser Aufruf zur sofortigen Beendigung der militärischen Besetzung der Westbank und des Gaza-Streifens erschien m 22. September 1967 in der israelischen Zeitung Haaretz, unterzeichnet von der Israelischen Sozialistischen Organisation, bekannt als »Matzpen«, dem Namen ihrer Zeitschrift, zu deutsch Kompass.
Ausgerecht die extreme Zuspitzung in der israelisch-palästinensischen Konfrontation hat in den vergangenen 20 Jahren in Israel das Interesse an der früheren linken anti-zionistischen Opposition in Israel geweckt, zuletzt im Juli 2024 sogar in einer Theateraufführung in Tel Aviv unter Beteiligung von Veteranen dieser Gruppe. Davon zeugt auch ein israelischer Film von 2003 sowie ein lesenswertes Buch aus Deutschland aus dem Jahr 2017.
Matzpen – Entstehung der Gruppe
Die Matzpen-Gruppe entstand 1962 in Folge von zahlreichen Ausschlüssen und Austritten aus der israelischen Kommunistischen Partei (Maki). Sie wurde spätestens mit dem Beginn der Besatzungspolitik zum Zentrum der radikalen linken Opposition in Israel. In den Jahren zwischen 1962 und 1967 erarbeitete die Gruppe eine entschieden anti-zionistische und internationalistische Programmatik, wobei dies anfangs gar nicht im Mittelpunkt stand. Die Kritik an der Kommunistischen Partei rührte aus deren Weigerung, sich mit dem stalinistischen Erbe auseinanderzusetzen und auch aus ihrer zurückhaltenden Kritik am staatsoffiziellen Gewerkschaftsbund Histadrut.
Moshe Machover, neben dem Gewerkschafter Akiva Orr einer der Gründer der Gruppe, nannte es später ein großes Glück, fünf Jahre Zeit gehabt zu haben, sich programmatisch intensiv mit dem Zionismus in all seinen Varianten auseinandergesetzt zu haben. So wurde Matzpen schon vor 1967 zum Kristallisationspunkt über die Kreise der Kommunistischen Partei hinaus. Es kamen Menschen aus der älteren Generation hinzu – Aktivisten der 1930er Jahre, etwa Jakob Taut und andere aus trotzkistischer Tradition, aber auch der arabische Marxist Jabra Nicola. In der Gründungsphase schloss sich auch Tikva Honig-Parnass an, bis dahin führendes Mitglied der linkszionistischen Partei Mapam. Sie war zeitweilig Generalsekretärin der Mapam gewesen und hatte 1948 als Soldatin auf israelischer Seite gekämpft.
Internationalismus als permanente Provokation
Mit dem Juni-Krieg und dem Beginn der Besatzung 1967 wurde Matzpen zu einer permanenten Provokation in Israel. Die Wirkung der Gruppe stand in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Größe. Fast jede Aktion und jedes öffentliche Statement, nicht selten in Haaretz dokumentiert, führte zu teils heftigen Reaktionen von Seiten des Staates, der Armee und den Parteien. Auch international war die Wirkung, gemessen an der Größe der Gruppe, die nie viel mehr als 150 Mitglieder gehabt haben soll, erheblich. Matzpen wurde international zum Bezugspunkt von Aktivisten der Neuen Linken – und zugleich Stachel für Verteidiger Israels als auch für militante Vertreter der arabischen Linken.
Stein des Anstoßes war immer wieder die geradezu unbeirrbar internationalistische Position Matzpens: Die Gruppe sah Perspektiven nur in einem multinationalen sozialistischen Gemeinwesen – und das möglichst über die Grenzen von »Erez Israel« hinaus. Sie beharrte auf »nationaler Selbstbestimmung« auch für die jüdische Bevölkerung, was etlichen Linken auch in der PLO zuwiderlief.
Nationale Selbstbestimmung, von Moshe Machover bis heute vertreten, bedeutet eben nicht zwingend ein Staat je Nation. Die Idee eines gemeinsamen sozialistischen Gemeinwesens, das nicht Halt machen sollte vor den bestehenden nationalstaatlichen Grenzen auf arabischer Seite, verband Matzpen nun wieder mit der palästinensischen Linken.
Trennen und Bleiben
Selbst eine deutlich größere Gruppe wäre mit solchen Ansprüchen in durchweg feindlicher Umgebung wahrscheinlich überfordert. Die international eskalierenden Auseinandersetzungen und überhitzten Debatten in der alten und Neuen Linken zogen tiefe Spuren in der Matzpen-Gruppe. Ab 1970 kam es zu Trennungen, Spaltungen, zunächst einer kleineren trotzkistischen Gruppe. Dann löste sich eine weitere Gruppe von Matzpen um Ilan Halévy, dem späteren Vertreter der PLO in Frankreich und dann stellvertretender Außenminister der Palästinensischen Autonomiebehörde. Ihm ging es um einen engeren Anschluss an die palästinensische Bewegung.
1972 kam es schließlich zur folgenreichsten Abspaltung einer Gruppe, die sich der trotzkistischen Vierten Internationale anschloss. Noch zehn Jahre konnte die deutlich geschrumpfte Organisation wirken. 1982, in Folge des Libanon-Krieges und der massenhaften Opposition in Israel, durfte man noch einmal auf eine Chance hoffen: Die erfolgreiche Bildung einer linken Parlamentsliste mehrerer Gruppen kam zustande, aber nicht die organisatorische Einheit. Matzpen löste sich im selben Jahr auf.
Etliche Mitglieder blieben nicht nur in konkreten Arbeiten beisammen. Die Verwüstungen, die die israelische Politik hinterlassen hat, führt ihre Kritiker immer wieder zusammen – und das weit über den Kreis der früheren Matzpen-Gruppe hinaus.
Ein Film und ein Buch
20 Jahre nach der Auflösung der Gruppe brachte der Filmemacher Eran Torbiner ehemalige Aktive zusammen. Daraus entstand der Film »Matzpen – Anti-Zionistische Israelis«. In beeindruckenden Interviews und zeitgenössischen Aufnahmen werden die Etappen der innerisraelischen und regionalen Konflikte nachgezeichnet und das Bemühen um eine radikale Veränderung in Israel für eine gemeinsame Zukunft von jüdisch-israelischen und arabisch-palästinensischen Menschen verdeutlicht.
Angeregt auch durch den Film, hat Lutz Fiedler über die Matzpen-Gruppe eine Doktorarbeit geschrieben. Das umfangreiche Buch ist ungewöhnlich sensibel in Beziehung zu Themen und handelnden Personen geschrieben. Eine Organisationsgeschichte ist es nicht, aber ein thematisch gegliederter Durchgang durch fast alles, worum es bei Matzpen ging: von den Gründungsgründen über die Kolonialismus-Begriffe, die »Erfindung einer hebräischen Gegenwart« bis hin zum übergreifenden Thema sowohl hier wie dort: »Jenseits des Holocausts – Jüdische Vergangenheit, hebräische Gegenwart, sozialistische Zukunft…«
Martin Dieckmann, Jahrgang 1956, bis zum Ruhestand ver.di-Gewerkschaftssekretär, wurde in den 1970er Jahren auf Matzpen aufmerksam gemacht und blieb in deren Sinn engagiert in Debatten über Israel und Palästina.
Buch und Film:
Lutz Fiedler: »Matzpen. Eine andere israelische Geschichte«. Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Bd. 25, Göttingen 2017.
Link zum Film: https://matzpen.org/english/eran-torbiners-film-about-matzpen/