Kritischer Proprietarismus?

Thomas Piketty „Kapital und Ideologie“ – Versuch, einen Misserfolg zu erklären

spezial 1: kapital, reichtumsakkumulation & ideologie

In seinem 2013 auf Französisch, 2014 auf Deutsch erschienenen Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ beschrieb Thomas Piketty eine Art U-Kurve: Die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen hatte im 19. Jahrhundert zugenommen und 1913 einen Höchststand erreicht, nahm seit dem Ersten Weltkrieg ab, wies zwischen 1950 und 1980 besonders niedrige Werte auf, stieg danach wieder an und kam 2013 fast wieder auf das gleiche Niveau wie hundert Jahre vorher. Armut der öffentlichen Haushalte verhindere aktuell eine nachhaltige Infrastruktur-, Sozial-, Umwelt und Bildungspolitik. Piketty plädierte deshalb für eine steuerpolitische Umverteilung. Sein Buch hatte große publizistische Resonanz und blieb praktisch wirkungslos. Letzteres veranlasste ihn dazu, nach den Ursachen seines – politischen – Misserfolges zu fragen. So entstand ein zweites Werk: „Kapital und Ideologie“. Hier werden die Gründe für die zähe Aufrechterhaltung von gesellschaftlicher Ungl eichheit untersucht. Sie seien ideologischer Art.

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Pelzhändler und Kosmographen

Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), Physiker und Philosoph in Göttingen, notierte 1789 in einem seiner „Sudelbücher“ folgende Überlegung: „Die Kosmographen werden freilich keine nordwestliche Durchfahrt finden, aber die Pelzhändler, man würde selbst in philosophischen Dingen sehr viel weiter sein, wenn man die Untersuchungen so einrichten könnte, dass der Gewürz- oder Pelzhandel dadurch befördert würde.“*

Diese Zeilen können verschiedenartig interpretiert werden: 1. als Lobpreis der Marktwirtschaft, 2. als eine Vorwegnahme des Historischen Materialismus. Ad 1: Lichtenberg beobachtet, dass das Profitmotiv eher zu neuen Erkenntnissen führen kann als Grundlagenforschung oder dass Letztere durch Ersteres eher auf den Weg zu bringen ist als durch ausschließlich wissenschaftlichen Antrieb.

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Engels mit Brille

Am 29. Oktober 1840 schrieb der Kaufmannslehrling Friedrich Engels aus Bremen an seine Schwester Marie: „Augenblicklich haben wir Freimarkt, und wenn ich auch nicht die Ehre habe, Ihrer Königlichen Hoheit, einer Großherzogin und vielen allerdurchlauchtigsten Prinzessinnen vorgestellt zu werden, so haben wir doch Spaß. Ich bin glücklicherweise so kurzsichtig, daß ich gar nicht weiß, wie die paar hohen, höchsten und allerhöchsten Personen, die die Ehre gehabt haben, an mir vorbeizufahren, aussehen.“ (MEW, Ergänzungsband, Zweiter Teil, S. 462/463). Welche Fürstlichkeiten gemeint waren, erfahren wir nicht. Engels jedenfalls hielt aus gegebenem Anlass seine Augenschwäche für einen Vorteil. Der Obrigkeit fiel sie auch auf: „Spricht sehr rasch und ist kurzsichtig.“ So charakterisierte ihn ein amtliches Signalement in der Revolution 1848/49. Als er in Manchester eine Wohnung für sich und seine Freundin Mary Burns mietete, notierte die zust e4ndige kommunale Behörde, er sei „shortsighted“. Das war ein, wie der Lokalforscher Roy Whitfield kommentierte, ungewöhnlicher Eintrag. Der betagte Friedrich Engels galt wegen seiner Fitness zwar auch noch in seiner Londoner Zeit als einer der jüngsten alten Männer, aber ein Zeitgenosse bemerkte doch, in einem Punkt sei er wie die meisten Deutschen: Sie würden mit kleinen Brillen geboren, und Letztere wüchsen im Laufe der Jahre mit.

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Geld für Anfänger


Im Herbst 2017 ging auf dem Konto der Bodensee-Kreisorganisation der AfD eine Spende in Höhe 132.000 Euro ein, für den Wahlkampf der Bundesvorsitzenden und stellvertretenden Kreisvorsitzenden Alice Weidel. Absender war die schweizerische Firma „PWS Pharmaserve Wholesale AG“. Später, als der Fall ruchbar geworden war, gab diese auf Nachfrage an, das Geld nur treuhänderisch im Auftrag eines „Geschäftsfreundes“ weitergegeben zu haben. Der Kreiskassiererin kam die Sache etwas blümerant vor. Sie wandte sich an den Landesschatzmeister, erhielt aber keine Antwort, mit der sie etwas anfangen konnte. Nach neun Monaten überwies sie das Geld zurück. Ein kleiner Teil der Summe war von Frau Weidel für politische Zwecke entnommen worden. Er musste, damit die Rücküberweisung komplett wurde, nachgeschossen werden. 8000 Euro, angeblich von Alice Weidel „übersehen“, wurden nicht zurückgeschickt und sollen nun der Bundestagsverwaltung übergeben werden.

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Suspendierte Krise


Es lassen sich einerseits zyklische, andererseits systemische Krisen unterscheiden. In beiden werden Überkapazitäten abgebaut.

Während nach den zyklischen Krisen wieder business as usual einkehrt, ist dies bei den systemischen anders. Mit ihnen ist ein innerkapitalistischer Umbruch verbunden. Hier ändern sich die innere Organisation des Kapitals und der Arbeiterklasse, die Beziehungen der beiden zueinander und auch zum Staat (also die Regulation dieser Gesamtheit). Die bürgerliche Gesellschaft bleibt nach einem solchen Einschnitt erhalten, aber es ist jetzt nichts mehr wie vorher.

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Seziertisch <180>

Kommando Altmaier

Justizministerin Barley plant ein Gesetz, wonach die „Mietpreisbremse“ effizienter werden soll. Auch tritt sie für mehr sozialen Wohnungsbau ein. Die Basis für solche Vorschläge bildet der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD.

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Ungleichzeitigkeit

lexikon


Bücher sind keine Tageszeitungen. Man kann von ihnen erwarten, dass sie länger aktuell bleiben und dass es deshalb lohnt, sie immer wieder einmal zu lesen. Dies gilt auch für einen schmalen Band, den Jürgen Kuczynski 1992 veröffentlichte: „Asche für Phoenix. Aufstieg, Untergang und Wiederkehr neuer Gesellschaftsordnungen“ und sein Buch „Vom Zickzack der Geschichte. Letzte Gedanken zu Wirtschaft und Kultur seit der Antike“, 1996.

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Freihandelskrieg

Auf dem G7-Gipfel in Kanada kam es zu keiner Einigung im Handelsstreit mit den USA. Trump beharrt auf Zollerhöhungen für Aluminium und Stahl.

Über seine Manieren und seine allgemeinen Ansichten muss hier nicht geredet werden. Beschränken wir uns auf die Ökonomie.

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Binnenmarkt und Weltmarkt

In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts fand in Russland eine Diskussion über die Perspektiven des Kapitalismus in diesem Land statt. Sie orientierte sich an den so genannten Reproduktionsschemata im zweiten Band des „Kapital“ von Karl Marx.

Liberale Ökonomen sahen in ihnen eine Bestätigung ihrer Ansicht, dass der Kapitalismus auch für Russland das Richtige sei, denn bei Marx sei nachgewiesen, wie harmonisch z.B. Produktionsmittel- und Konsumgüterindustrie ihre Erzeugnisse austauschen könnten.

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Visionen und Erneuerung

In den Quälereien um eine neue Bundesregierung wird CDU/CSU und SPD immer wieder vorgehalten, es fehle ihnen an Visionen. Sie benötigten eine Erneuerung.

Was den ersten der beiden Begriffe angeht, so spricht lediglich für ihn, dass einst ein schneidiger Bundeskanzler sich an ihm störte und schnarrte: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Wer solche Feinde hat, verdient Freunde. Einerseits. Andererseits ist auch bei radikal Zukunftsorientierten seit geraumer Zeit eine Umkehr der einst durch Friedrich Engels beschriebenen Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft zu bemerken. Ihr Zug fährt in die Gegenrichtung: von der Wissenschaft zur Utopie. In dieses Nirgendwo weist auch das Reden von den Visionen.

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