Suspendierte Krise


Es lassen sich einerseits zyklische, andererseits systemische Krisen unterscheiden. In beiden werden Überkapazitäten abgebaut.

Während nach den zyklischen Krisen wieder business as usual einkehrt, ist dies bei den systemischen anders. Mit ihnen ist ein innerkapitalistischer Umbruch verbunden. Hier ändern sich die innere Organisation des Kapitals und der Arbeiterklasse, die Beziehungen der beiden zueinander und auch zum Staat (also die Regulation dieser Gesamtheit). Die bürgerliche Gesellschaft bleibt nach einem solchen Einschnitt erhalten, aber es ist jetzt nichts mehr wie vorher.

Zyklische Krisen treten normalerweise etwa alle zehn Jahre auf, mit starken Abweichungen nach unten und oben. (Die längste Spanne in der Geschichte Westdeutschlands betrug ca. 20 Jahre: 1947-1966/67.) Systemische Krisen sind seltener. Bislang gab es in Europa und den USA nur drei oder vier: 1873, 1929, 1975 und vielleicht 2008. Sie reichen über die Wirtschaft hinaus in weitere Bereiche der Gesellschaft. Dadurch unterscheiden sie sich von ausschließlich ökonomischen – wie 1857 –, lediglich militärisch-politischen (z.B. 1914-1923) oder vom Einbruch der Kriegsproduktion 1945/1946.

Die erste systemische Krise 1873 leitete eine Periode nur noch verlangsamten Wachstums (bis 1896) ein. Der Kapitalismus der freien Konkurrenz ging in eine andere Form über: Bildung von Trusts, Kartellen und Monopolen, Ablösung des Freihandels durch Schutzzölle auch für hochindustrielle Gesellschaften, staatlich und militärisch unterstützter aggressiver Waren- und Kapitalexport, Kampf um Kolonien und Einflusssphären (Imperialismus). In der Industriellen Revolution (ca. 1780 bis ca. 1873) war der typische Einzel-Unternehmer ein Gründer, oft in Kombination mit einem Finanzier, gewesen. Jetzt trat die Aktiengesellschaft an seine Stelle. Allerdings blieb der größte Anteils-Eigner der Leiter der Firma.

1924 bezeichnete der sozialdemokratische Theoretiker Rudolf Hilferding diese Regulationsform als „Organisierten Kapitalismus“. Teile der Arbeiterklasse schlossen sich in Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien zusammen. Die blieben zunächst von der Mitgestaltung des Organisierten Kapitalismus ausgeschlossen.

Während der Industriellen Revolution waren Textil- und Montanindustrie die ausschlaggebenden Bereiche gewesen, dann zusätzlich der Eisenbahnbau. Jetzt traten die Chemie- und die Elektrobranche hinzu.

Überkapazitäten, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufbauten, wurden im Ersten Weltkrieg in Europa beseitigt, wuchsen in den USA in den zwanziger Jahren weiter an, bis die Weltwirtschaft (1929-1933) in der zweiten systemischen Krise zusammenbrach.

Wieder entstand ein neuer Kapitalismustyp. Der Staat griff noch aktiver als vorher in die Wirtschaft ein. Durch Einbeziehung der Arbeiterorganisationen entstand der „Korporatismus“ aus Big Business, Big Government und Big Labour – entweder auf freiwilliger Basis oder, im Faschismus, durch Zwang. Neue Branchen waren die Produktion für den Massenkonsum, schließlich die Automobilindustrie. Die Mehrheitsaktionäre wurden an der Spitze der Unternehmen durch angestellte Manager abgelöst.

Soweit halbwegs demokratisch verfasst, stärkte der Organisierte Kapitalismus die Stellung der Gewerkschaften. Unternehmer klagten im Übergang von den sechziger zu den siebziger Jahren über „Profit-Squeeze“, über eine „Profit-Klemme“. Die Ersetzung von Arbeitskraft durch numerisch gesteuerte Maschinen bot ihnen die Chance, das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu verändern. Eine – die dritte – systemische Krise leitete 1975 das Ende des Organisierten Kapitalismus und die Wiederkehr des Marktradikalismus ein. Die Industriemanager wurden von den Verwaltern großer Fonds in die zweite Reihe gedrängt: finanzmarktgetriebener Kapitalismus.

2007/2008 geriet dieser in eine Krise. Sie begann mit dem Ausfall großer Immobilienkredite, setzte sich mit dem offenen oder verschleppten Zusammenbruch von Banken fort und mündete 2009 in eine Rezession der Realwirtschaft. Staatliche Rettungsmaßnahmen führten zu einer Krise der öffentlichen Finanzen. Die Wachstumsraten im Euro-Raum blieben gedämpft (mit zeitweiser Ausnahme in Deutschland). Zwecks Rettung von Gläubigerbanken, bei denen ganze Staaten verschuldet waren und sind, sowie zur Stimulierung der Konjunktur ging die Europäische Zentralbank 2012 zum Ankauf von öffentlichen Anleihen und zu einer Niedrigzinspolitik über.

Ein konventioneller Weg zur Überwindung von zyklischen Krisen war einst das Wirken von angeblichen Selbstheilungskräften des Marktes. Seit Keynes wird stattdessen die Stimulierung von Investitionen durch die Geldpolitik angewandt. Gegenwärtig scheint das nicht zu verfangen: Billige Kredite führen nicht zu Investitionen in die Produktion, sondern zu einem Spekulationsboom (u.a. auf dem Immobilienmarkt). Weder eine Beseitigung von Überhang (in diesem Fall: von Liquidität) noch ein neue lange Welle der Konjunktur findet statt.

Was also war die Krise von 2007/2008? Offensichtlich keine nur zyklische, denn sie wurde ja nicht kurzfristig überwunden. Um eine systemische Krise handelt es sich aber auch nicht, denn es ist keine neue Regulierung jenseits des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus entstanden. Der Bankensektor gilt nach wie vor als labil. Die seit den achtziger Jahren dort rasch aufgewachsene Beschäftigung geht zurück, auch durch die fortschreitende Computerisierung von Arbeitsvorgängen. Inwieweit die Digitalwirtschaft die Finanzbranche als Leitsektor ablöst oder deren Stellung sogar stärkt, ist unklar.

Also: Weder eine zyklische noch kurzfristig schon eine systemische, sondern eine suspendierte Krise, die aber letztlich wohl doch einen neuen Kapitalismus-Typ hervorbringen wird. Es geht ja weiter.