Serbien im Reformmodus

Die Weltbank ist zufrieden, die Bevölkerung weniger

Die makroökonomischen Indikatoren zeigen nach oben. Weltbank und serbische Nationalbank verbreiten hoffnungsfrohe Zahlenreihen. Demnach ist das serbische Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2018 um 4,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Das renommierte Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) legt nach und betont in seinem aktuellen Forschungsbericht, dass die tatsächliche Wachstumsrate für 2018 um 0,8% höher zu veranschlagen sei als prognostiziert.[1] „In den kommenden Jahren wird das Wachstum in Serbien stark und nachhaltig bleiben“, resümiert die serbische Nationalbank in ihrem vorweihnachtlichen Bericht.[2]

Ein Lokalaugenschein im Belgrader Winter kann den behördlich verbreiteten Optimismus nicht bestätigen. Straßen und Gehwege sind in schlechtem Zustand, die öffentlichen Verkehrsmittel bestehen aus andernorts ausrangierten Garnituren, Obdachlose bevölkern die Unterführungen und in besten Geschäftslagen an der Knez Mihailova-Straße werden Flohmärkte abgehalten. Ein befreundeter Journalist, der knapp 100 Kilometer außerhalb der Hauptstadt wohnt, muss ein gemeinsames Treffen absagen, weil er aktuell das Geld für die Fahrtkosten nicht aufbringen kann.

Auf dem Weg in die Europäische Union

Nach sechsjähriger Vorbereitung im Rahmen des sogenannten Stabilitäts- und Assoziierungsabkommens, in dem auch entsprechende personelle Weichenstellungen in Politik und Justiz vorgenommen wurden, erklärte der EU-Rat im Juni 2013 seine Bereitschaft zur Einleitung von EU-Aufnahmegesprächen mit Serbien. Am 1. Januar 2014 begann dann der konkrete Unterwerfungsprozess Belgrads unter das Brüsseler Regelwerk. Seitdem dominiert die Debatte um die Übernahme des in eine Vielzahl von Kapiteln unterteilten EU-Rechtsbestands in serbische Gesetzestexte den politischen Diskurs. Die Weltbank begleitet mit ihrer „Rahmenpartnerschaft 2016-2020“[3] den EU-Erweiterungsprozess.

Während die Europäische Union ihr bereits an elf osteuropäischen Ländern praktiziertes Aufnahmeprozedere routiniert abspielt, konzentriert sich die Weltbank auf die Neuformierung wirtschaftlicher Kernbereiche. Zentral dabei sind die Eigentumsverhältnisse, weshalb großes Augenmerk auf möglichst vollständige Privatisierungen gelegt wird. Diese haben in Serbien bereits eine lange, wiewohl wechselhafte und nicht sehr erfolgreiche Tradition. Eine erste Privatisierungswelle fand in den 1990er-Jahren unter Slobodan Milošević statt. Betriebe aus der Periode der titoistischen Arbeiterselbstverwaltung fanden teilweise neue Eigentümer, wobei das damals bestehende internationale Wirtschaftsembargo gegen (Rest-)Jugoslawien korrupte Machenschaften bei Eigentümerwechseln geradezu herausforderte. Der NATO-Krieg im Frühjahr 1999 zerstörte dann Infrastruktur und Industrie im großen Stil. Brücken und Eisenbahnstrecken brachen unter dem Bombenhagel genauso zusammen wie petrochemische und Metallbetriebe. Das legendäre Auto- und Waffenkombinat in Kragujevac litt unter heftigen Kriegsschäden. Die Donauschifffahrt, eine der wichtigsten Verkehrsadern des Landes, war durch zerstörte Eisenbahn- und Autobahnbrücken über ein Jahr lang blockiert.

Nach der Machtübernahme durch Zoran Đinđić Anfang der 2000er-Jahre setzte eine neue Welle von Privatisierungen ein, die nun auch durch den Druck westlicher Investoren vorangetrieben wurde. Das Autowerk Zastava in Kragujevac erhielt mit Fiat einen italienischen Mehrheitseigentümer, das Stahlwerk in Smederewo mit US-Steel einen US-amerikanischen; mittlerweile übernahm der chinesische Stahlriese HBIS den Stahlkocher. Ein letzter größerer, selbstverwalteter Betrieb, das Pharmaunternehmen Jugoremedija in Zrenjanin wurde in den Konkurs getrieben.

Die Weltbank ist dennoch unzufrieden. In ihrer „Rahmenpartnerschaft“ beklagt sie die Schwäche der serbischen Regierung, Reformen umzusetzen, wobei sie attestiert, dass der politische Wille zwar vorhanden sei, aber die Umsetzung vor Ort oft scheitere.[4] Der für Serbien zuständige Weltbank-Manager Stephen Ndegwa zerfließt zwar vor Selbstlob, wenn er die „exzellente Zusammenarbeit mit serbischen Verantwortlichen und die finanzielle Unterstützung (gemeint sind Kredite, d.A.) durch die Weltbank“ anspricht, „mit der ein guter Teil des Erbes der Betriebe in Staatseigentum gelöst werden konnte (gemeint sind Privatisierungen, d.A.)“. Gleichzeitig weist Ndegwa aber darauf hin, dass es noch viel zu tun gibt und nimmt konkret die nach wie vor staatlichen Betriebe Petrohemija, den Chemiekomplex MSK, die Kupfermine RTB Bor und die Resavica-Minen ins Visier.[5]

Geradezu euphorisch reagieren EU- und Weltbankökonomen auf die in den vergangenen Jahren angestiegenen ausländischen Direktinvestitionen. Während die neuen osteuropäischen EU-Mitglieder seit 2016 einen Rückgang von ausländischen Direktinvestitionen von durchschnittlich 25 Prozent vermelden, steigen selbige im sogenannten „Westbalkan“ um fast 20 Prozent an. Besonders viele ausländische Geldgeber finden sich in Serbien ein, wo ihre Investitionen 2017 bereits 30 Prozent des gesamten Kapitalstocks ausmachen.[6]

Die Freude der Liberalen hat einen einfachen Grund: Das Kapital zieht den billigen Produktionsbedingungen hinterher. Und diese können sich in Serbien sehen lassen. Der Durchschnittslohn liegt zur Zeit bei 420 Euro netto, die Körperschaftssteuer ist mit 10 Prozent eine der niedrigsten in Europa. Zusätzlich schießt der serbische Staat bei dem, was er als Start-up-Unternehmen definiert, pro geschaffenem Arbeitsplatz bis zu 10.000 Euro zu. Er lässt sich die Senkung der Arbeitslosigkeit, die Ende 2018 bei 13,6 Prozent lag, etwas kosten – zum Nutzen von Investoren.

Internationale IT-Konzerne werden von der jungen Ministerpräsidentin Ana Brnabić, einer gelernten Unternehmensberaterin, besonders hofiert. Giganten wie Microsoft, IBM und Intel haben längst Programmier-Center eröffnet oder diese an Subunternehmer ausgelagert. Dort verdienen dann junge IT-affine Serben bis zu 1500 Euro monatlich, das Dreifache des Durchschnittseinkommens.[7]

Neben Weltbank-Krediten und EU-Programmen ist es vor allem chinesisches Kapital, das Serbien als wichtigen Standort für das Großprojekt der neuen Seidenstraße, die Belt-and-Road-Initiative, entdeckt hat. Die Bahnstrecke Belgrad-Budapest wird bereits ausgebaut, wobei Belgrad darauf geachtet hat, dass die Hälfte der Arbeitskräfte Einheimische sind.

Die Kehrseite: Armut und Auswanderung

EU-Fortschrittsberichte und Weltbank-Prospekte zeichnen ein geschöntes Bild des Landes. Schon die Exportstatistik bringt einen auf den Boden der Wirklichkeit einer strukturschwachen Peripherie zurück. Denn die Hauptausfuhrgüter in die EU sind zum großen Teil nicht verarbeitete landwirtschaftliche Produkte wie Getreide, Zucker und – an der Spitze – Himbeeren.[8]

Das wertvollste „Gut“ fand in die Exportstatistik überhaupt keinen Eingang, es ist der Mensch. Jährlich emigrieren 30.000 bis 60.000 mehrheitlich junge, flexible, ungebundene Männer und Frauen meist in Richtung Europäische Union. Seit 1990 waren es über eine Million.

Nach der in EU-Europa gültigen und auch von Serbien adoptierten Definition von relativer Armut, die dann eintritt, wenn man unter 60 Prozent des Median-Einkommens zur Verfügung hat, gelten aktuell 24,6 Prozent der serbischen Bevölkerung als arm.

Emigration scheint vielen als Hoffnung, der grassierenden Armut zu entrinnen. Betrug die Einwohnerschaft Serbiens am Ende der Tito-Ära im Jahr 1981 noch 9,3 Millionen, so ist diese bis zum Jahr 2018 auf 7 Millionen geschrumpft.[9] Zig-tausende Ärzte und Ingenieure haben dem Land den Rücken gekehrt. Der dadurch verursachte volkswirtschaftliche Schaden ist enorm. Nimmt man beispielsweise die Ausbildungskosten für einen Arzt, die in Deutschland ca. 250.000 Euro betragen, so gehört Serbien zu den großen Verlierern dieser Art von Weltoffenheit.

Von Hannes Hofbauer ist zum Thema erschienen: Kritik der Migration. Wer profitiert und wer verliert, Wien 2018.

Anmerkungen:

[1] Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (Hg.), MOSOE: Konjunkturzenit überschritten. Wirtschaftsanalyse und Ausblick für Mittel, Osten und Südosteuropa, Wien 2018, S.1

[2] National Bank of Serbia (Hg.), Macroeconomic Developments in Serbia. Belgrad, im Dezember 2018, S. 5

[3] World Bank Group, Republic of Serbia. Country Partnership Framework 2016-2020. Report No. 100464-YF vom Mai 2015 [4] Ebd., S. 14

[5] https://emerging-europe.com/intelligence/serbias-economy-looks-positive-but-problems-remain

[6] Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche, FDI in Central, East and Southeast Europa. Declines due to Disinvestment, Wien 2018, S. 13-15

[7] https://www.reuters.com/article/us-serbia-tech/serbia-turns-to-tech-industry-to-fight-economic-stagnation-idUSKBN1L117Z

[8] https://www.serbia.com/about-serbia/economy/

[9] World Bank Group/Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche, Western Balkans. Labor Market Trends 2018, S. 42; siehe auch: Fischer Weltalmanach 1990. Frankfurt/M. 1989, S. 323