Der Brexit: Symptom des wachsenden kapitalistischen Chaos.

„We‘re in the Brex-shit“, titelte das britische Boulevardblatt Sun, als der Entwurf des zwischen EU und Großbritannien ausgehandelten Austrittsvertrages endlich auf dem Tisch lag. Diese durch und durch reaktionäre Zeitung hat in ihrer Geschichte immer ein besonderes Talent gehabt: Nämlich mit Überschriften Stimmungslagen zusammenzufassen.

Und die obige Überschrift trifft auf viele der am Brexit-Drama beteiligten Fraktionen zu. Der Brexit entblößt gleich mehrfach miteinander verschränkte Krisenprozesse. Da sind zum einen die zunehmenden Schwierigkeiten der EU selbst. Wo man hinschaut, es hakt einfach überall. Die Interessen der EU-Elefanten Deutschland und Frankreich sind immer schwerer unter einen Hut zu bringen. Politische Instabilität im Inneren hat längst beide Länder erreicht. In Frankreich waren die Proteste der Gelbwesten der jüngste Ausdruck, in Deutschland lässt sich dies an den andauernden Unstimmigkeiten innerhalb der großen Koalition festmachen. Hinzu kommt, dass budgetpolitische Gründungsdogmen der EU unter Druck geraten sind. Italien möchte die Staatsausgaben erhöhen und Frankreich musste den Gelbwesten Zugeständnisse machen.

Der Kapitalismus zeigt sich auf weltpolitischer Ebene in brennenden Fragen zunehmend handlungsunfähig. Das trifft auf die Klimakrise zu, und wird auch auf die kommende Weltwirtschaftskrise zutreffen. Phänomene wie der Brexit sind auch Ergebnisse der Wirtschaftskrise von 2007/8. Eine neue Wirtschaftskrise wird noch stärkere Fliehkräfte dieser Art entfalten.

Brexit als Krisenprotest

Hauptursache des Entschlusses einer knappen Mehrheit der britischen Bevölkerung für den Brexit zu stimmen, waren die durch Wirtschaftskrise und Jahrzehnte neoliberaler Politik verursachten sozialen Verwerfungen. Großbritannien ist heute ein Land, in dem zehntausende Kinder hungrig zur Schule gehen, weil die Eltern nicht genug Geld haben, um ihnen ein Frühstück auf den Tisch zu stellen. Ein Land, dessen Sozialpolitik von einem im Herbst erschienenen UN-Bericht als „bewusst unmenschlich“ gebrandmarkt worden ist. Ein Land, in dem 120.000 Kinder obdachlos sind und die Menschen von 80.000 Haushalten nicht wissen, ob sie mittelfristig noch ein Dach über den Kopf haben werden.

Das Brexit-Votum war vor allem ein Protest gegen diese Zustände. Ein Ergebnis dieses Votums war, dass die politische Klasse nun selbst in einer Krise steckt, aus welcher es kein Zurück gibt. Selbst Versuche, die Lage irgendwie zu kitten, führen zu neuen Verwerfungen. Das lässt sich beispielhaft am Entwurf des EU-Austrittsvertrages festmachen. Seine Intention ist es, Großbritannien in den kommenden Jahren so nahe an der EU wie möglich zu halten. Doch gerade diese Intention hat alle möglichen Spannungen erzeugt, welche sowohl die regierende Konservative Partei als auch das Vereinigte Königreich selbst in ihrer Existenz bedrohen. Und auch für die EU beinhaltet der Vertrag Fallstricke.

Diese Fallstricke sind von Geoffrey Cox, dem Generalanwalt der britischen Regierung, präzise herausgearbeitet worden. Im Auftrag von Premierministerin Theresa May hat er den Vertragsentwurf analysiert. Die Sprengkraft dieser Analyse war derart, dass die britische Regierung nichts unversucht ließ, um eine Veröffentlichung dieser Analyse zu verhindern. Es brauchte eine Revolte des britischen Unterhauses, um die Veröffentlichung zu bewirken. Erstmals in der britischen Nachkriegsgeschichte hat ein Parlamentsbeschluss die amtierende Regierung der „Verachtung gegenüber dem Parlament“ beschuldigt. Das ist nur ein Aspekt der vielschichtigen, sich entwickelnden britischen Staatskrise.

Austrittsvertrag mit Fallstricken

Cox widmete sich insbesondere den Auswirkungen des Austrittsvertrages auf Nordirland. Zuerst betrachtete er diese aus britischer Perspektive, um danach auf Probleme aus der Sicht der EU hinzuweisen. Insgesamt entsteht ein Bild eines Vertrages, welcher die Quadratur des Kreises versucht: Großbritannien soll sich EU-Regeln und Gesetzen unterwerfen, gleichzeitig aber als Drittstaat behandelt werden.

Hier seien einige der von Geoffrey Cox herausgearbeiteten Punkte genannt: Großbritannien als Ganzes (einschließlich Nordirland) soll für eine Übergangsperiode eine Zollunion mit der EU bilden. Diese Zollunion wird aber für Nordirland und den Rest Großbritanniens jeweils unterschiedlich gehandhabt. Demnach bleibt Nordirland für die Dauer der Übergangszeit in der derzeit bestehenden Zollunion mit der EU. Die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof haben somit Gerichtsbarkeit über Nordirland. So sollen Güter zwischen Nordirland und der Republik Irland transportiert werden können, ohne dass eine EU-Außengrenze nötig wird. Gleichzeitig kann Nordirland während der Übergangsperiode Güter via Republik Irland in die EU exportieren, ohne sich Kontrollen oder Zöllen zu unterwerfen, wie sie normalerweise für Drittstaaten gelten würden.

Für den Rest Großbritanniens gilt dies in dieser Form nicht. Zwar soll zwischen der britischen Hauptinsel und Nordirland Zollfreiheit herrschen. In allen anderen Belangen werden jedoch die außerhalb Nordirland liegenden Teile Großbritanniens als Bestandteile eines Drittstaats behandelt. Somit stehen England, Wales und Schottland ab dem 29. März 2019, dem offiziellen Austrittsdatum, zwar nicht mehr unter der direkten Aufsicht der EU-Kommission und des Europäischen Gerichtshofes. Wollen diese Landesteile aber nach Nordirland exportieren, müssen sie sich an EU-Regularien und Einfuhrbedingungen halten. Das bedeutet, dass es für Güter, die von der britischen Hauptinsel nach Nordirland exportiert werden, Inspektionen und Kontrollen durch Zollbeamte geben wird.

Würde der Austrittsvertrag so implementiert, wie Cox dies hier beschreibt, würde dies einer Annäherung Nordirlands an die Republik Irland und im Umkehrschluss einer schleichenden Entfremdung Nordirlands vom Rest Großbritanniens gleichkommen. Gleichzeitig erhält Nordirland damit Privilegien, wie sie Schottland nicht zugestanden werden. Während der Austrittsvertrag also Gift für nordirische Unionisten ist, ist er gleichzeitig für die auf den europäischen Exportmarkt schielenden schottischen Industriellen problematisch. Deshalb sind sowohl nordirische unionistische Parteien als auch die schottische Unabhängigkeitspartei SNP gegen den Vertragstext.

Bollwerk gegen linke Politik

Cox wendet sich nun der Frage staatlicher Beihilfen zu. Hier geht es darum, ob der Austrittsvertrag beispielsweise die Stützung der britischen Stahlindustrie oder die Verstaatlichung von öffentlichen Dienstleistungen erlauben würde. Cox ist ein Tory. Weder er noch Premierministerin May würden dergleichen tun wollen. Doch die Brexit-Verwerfungen könnten einen Jeremy Corbyn an die Macht spülen, dessen Wahlprogramm sehr wohl Verstaatlichungen vorsieht.

Der Generalanwalt macht in seinen Einschätzungen deutlich, dass eine Regierung mit Corbynscher Programmatik Probleme mit der EU bekommen würde. Denn der Austrittsvertrag sieht die Schaffung „unabhängiger Institutionen“ vor, welche von Vertretern der EU und Großbritanniens besetzt werden sollen. Diese „Institutionen“ haben die Autorität, EU-Recht gemeinsam mit britischen Gerichten und der EU-Kommission in Großbritannien für die Dauer des Austrittsvertrages durchzusetzen. EU-rechtswidrige staatliche Beihilfen würden, so Cox, zu „Aktionen“ der EU-Kommission in diesem Sinne führen. Hier sind ähnliche Szenarien wie in Griechenland unter der Syriza-Regierung vorstellbar. Selbst der Begriff „Institutionen“ ist anrüchig, nachdem die Troika in Griechenland zeitweilug mit „die Institutionen“ umschrieben wurde. Die EU könnte selbst nach einem formalen Austritt Großbritanniens zu einem Instrument werden, um einen linken Politikwechsel zu verhindern.

Cox spricht in seiner Analyse davon, dass das Austrittsabkommen eine „potentiell unendliche Gültigkeitsdauer“ hat. Zwar geht der Vertragstext von der Notwendigkeit der Aushandlung von Folgeabkommen aus. Allerdings warnt Cox davor, dass im Austrittsabkommen bereits Vorbedingungen für ein erfolgreiches Folgeabkommen festgelegt sind. Dazu gehören offene Grenzen zwischen Nordirland und der Republik Irland. Offene Grenzen zwischen der EU und Drittstaaten sind aber eigentlich nicht vorgesehen, wie man am Umgang mit Flüchtlingen im Mittelmeer gut erkennen kann. Die Irlandfrage bleibt also ungelöst.

Dies führt Cox zu einer weiteren Schlussfolgerung. Er analysiert, dass die oben beschriebenen Grenzregelungen für Nordirland laut Austrittsvertrag so lange bestehen bleiben, bis ein neuer Vertrag beschlossen wird. Kommt es aufgrund der komplexen Lage zu keinem neuen Vertrag, behält der Austrittsvertrag seine Gültigkeit. Cox verweist darauf, dass ein Ausstieg aus dem Vertrag nach seiner Ratifizierung nur „durch gemeinsamen Konsens“ möglich ist. Man braucht sich nur den bisherigen Verhandlungsverlauf anzuschauen, um zu sehen, wie unwahrscheinlich ein solcher Konsens ist. Cox stellt außerdem fest: „Der derzeitige Vertragsentwurf bietet Großbritannien keine legale Möglichkeit, um einseitig aus der Zollunion mit der EU auszutreten.“

Unzufriedene Kapitalfraktionen

Das hat im Herbst 2018 der US-amerikanische Präsident Donald Trump ähnlich analysiert. Er erklärte den Vertragsentwurf via Twitter zu einem „sehr guten Deal für die EU“. Damit brachte er den Unmut amerikanischer Kapitalinteressen zum Ausdruck, die sich durch den Brexit eine Öffnung des britischen Marktes für landwirtschaftliche und chemische Produkte sowie Zugang zum Gesundheitsmarkt erhoffen. Befürworter eines harten Brexits innerhalb der Konservativen Partei Großbritanniens lehnen den Vertragsentwurf auch deshalb ab: Sie wollen von zukünftigen Handelsverträgen mit den USA profitieren und sehen diese Pläne nun gefährdet.

In der Brexit-Debatte, wie sie im politischen Mainstream und den meisten Medien geführt wird, ist vor allem von den Risiken eines „harten“ Brexit die Rede. Ende des Jahres 2018 wurden diese Risiken auch vom britischen Finanz- und Großkapital noch einmal mit einem am 19. Dezember veröffentlichten offenen Brief aller großen Unternehmerverbände ins Feld geführt. Britische Unternehmen seien über den Zustand der Politik „verzweifelt“, ein harter Brexit würde zu „massiven“ Verlusten führen, so der Tenor. Gleichzeitig erhöhte die britische Regierung den Panikfaktor mit Ankündigungen, im Fall eines harten Brexit das Militär im Landesinneren mobilisieren zu wollen.

Tatsächlich bedeutet ein harter Brexit einen harten Bruch. Die Bruchlinien, die mit einem „weichen“ Brexit, wie er zwischen britischer Regierung und der EU im Austrittsvertrag ausgehandelt wurde, entstehen, werden jedoch kaum thematisiert. Das gleiche gilt für die sozialen Ursachen des Brexit. Als sich Theresa May im Dezember 2018 einem Misstrauensantrag aus ihrer eigenen Fraktion stellen musste, sagte Oppositionsführer Jeremy Corbyn: „Der Ausgang dieser Abstimmung ist für die Menschen in unserem Land völlig irrelevant“.

Das stimmt. Während die Eliten streiten, hungern Kinder, steigen Mieten und erodiert die Wirtschaft. Auf kapitalistischer Grundlage wird weder der „harte“ noch der „softe“ Brexit daran etwas ändern.

Christian Bunke ist als freier Journalist in Wien und Großbritannien aktiv.