Das Italien-Bashing, das Darling Frankreich und eine drohende Euro-Krise II
Seit Sommer 2018 mehren sich in den westeuropäischen Medien die Beiträge über eine italienische Krise. Es heißt: „Italys new rulers could shake the euro“ – die neue Regierung in Rom könnte den Euro erschüttern.
So Martin Wolf in der britischen Tageszeitung Financial Times vom 23. Mai 2018. Liest man die deutsche Boulevard-Presse, dann drängen sich Parallelen zu 2015 und der Griechenland-Krise auf. Damals ging es um „den faulen Griechen“. Jetzt rückt der „faule Italiener“ ins Zentrum vieler Stammtischgespräche. Und wieder ist es die „Bild“-Zeitung, deren Hetze oft ankommt. In dem Springer-Blatt hieß es unter der Überschrift „Stinkstiefel-Alarm“: „Italiens Populisten pöbeln gegen Deutschland.“ Es gab bereits die direkte Verbindung von der Hetze gegen „verschuldete Griechen“ zur Hetze gegen „klamme Italiener“. So hieß es in „Bild“: „Alarm in der Euro-Zone. Die wichtigste Frage: Könnten wir – nach den Griechen – auch die chronisch klammen Italiener retten? BILD hat die Antwort!“ Selbst im Handelsblatt, das ja eher Akademiker, Manager und Bosse lesen, gab es eine Story unter der arroganten Überschrift: „Ciao, bella!“. Dort stand: „Schwaches Wachstum, riesige Schuldenlast und Populisten, die am liebsten noch mehr Geld ausgeben wollen: Der politische und wirtschaftliche Abstieg Italiens bedroht die gesamte Eurozone“.[1] Clemens Fuest, Präsident des wichtigen Ifo-Instituts, schrieb über den „italienischen Patienten“ und plädierte sogar dafür, „Italien finanziell zu isolieren“. Es gehe jetzt darum, „die Finanzstabilität bei einer Staatspleite Italiens zumindest im Rest der Eurozone aufrechtzuerhalten.“ Diese aggressive Forderung hatte sogar das US-Kapitalblatt Wall Street Journal derart alarmiert, dass dort ein italienischer Staatsbankrott ins Auge gefasst wurde.[2]
Der „Ciao, bella“-Artikel im Handelsblatt ist mit sechs vollen Zeitungsseiten enorm umfangreich. Ich studierte und prüfte rund hundert Zahlen und ein Dutzend Grafiken. Dabei fällt auf, dass fast immer Italien mit Deutschland verglichen wird: bei der Größe der Konzerne, bei der Produktivität, beim Haushaltssaldo, bei der „Staatsquote“ und beim „Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung“. Warum eigentlich kein Vergleich Italiens mit Spanien? Oder – und das wäre wohl die richtige Liga – mit dem Lieblingspartner der Merkel-Regierung, mit Frankreich?
Um es vorweg klar zu sagen: Die Regierung di Maio-Salvini spielt mit dem Feuer. Ohne Zweifel ist der Lega-Boss und Innenminister Matteo Salvini ein Rassist. Und der Umgang dieser Regierung mit den Flüchtlingen, dann noch mit Flüchtlingen auf umherirrenden Schiffen, ist beschämend.
Das festzustellen ist das eine. Das andere jedoch ist, dass vieles von dem, was da in Bild geschmiert und im Handelsblatt scheinbar seriös abgehandelt wird, schlicht einseitig dargestellt ist. So wie damals, 2015, „die Griechen“ herausgepickt wurden, wird jetzt Italien als Prügelknabe aufgebaut. Längst gibt es in Italien selbst eine heftige Debatte über die ungerechtfertigten Angriffe aus Deutschland – beispielsweise im Corriere della Sera.[3]
Um diese Einseitigkeit deutlich zu machen, scheint mir ein Vergleich der wirtschaftlichen und sozialen Lage in Italien mit derjenigen in Frankreich aufschlussreich. Schließlich schrieb der EU-Kommissar Pierre Moscovici am 19. Oktober in einen sogenannten Brandbrief: „Rom verstößt gegen die Schuldenregeln der EU in einem noch nie dagewesenen Maß“. Nun, Herr Moscovici hat einen französischen Pass; er war zwischen 2012 bis 2014 sogar französischer Finanzminister. Vergleichen wir also die italienischen und die französischen Haushaltsdefizite in jüngerer Zeit. Siehe Tabelle 1.

* 2018 = vorläufige Zahlen
Richtig ist, dass Frankreich und Italien nach der schweren Krise 2008/2009 die Maastricht-Messlatte rissen und Haushaltsdefizite von mehr als 3 Prozent hatten. Doch seit 2012 liegt das italienische Defizit unter 3 Prozent. Das französische lag bis 2016 über diesem Wert. Es ist auch 2017 und 2018 höher als das italienische. Und 2019 wird es, nach den jüngsten Zugeständnissen von Macron, sogar erneut höher als 3 Prozent sein – und erneut deutlich höher als das italienische Defizit liegen.
Richtig ist auch, dass die italienische Schuldenquote von rund 130 Prozent [Anteil der öffentlichen Schulden am jeweiligen BIP Italiens; d. LP21-Red.] deutlich höher ist als die französische. Allerdings liegt sie seit 2013 auf diesem Niveau. Die französische ist seither um 6 Prozentpunkte auf rund 100 Prozent gestiegen. Und in den Jahren 2013 bis März 2018 regierten in Rom mit Monti, Letta, Renzi und Gentiloni enge Verbündete von CDU/CSU und SPD. Wo blieb damals der Aufschrei über die 130 Prozent?
Nun behaupten die EU-Kommissare Moscovici und Oettinger, der italienische Schuldenberg sei „eine Bedrohung für die Stabilität der Eurozone“. Das kann schon sein. Doch der französische Schuldenberg ist inzwischen ebenso groß wie der italienische (siehe die Tabelle und die von der LP21-Redaktion ergänzend erstellte Grafik). Der französische Schuldenberg hat sich systematisch dem italienischen angenähert, wobei beide stiegen, der italienische jedoch langsamer als der französische.
Meine Zwischenbilanz: Ja, Italien ist hoch verschuldet. Doch Frankreich folgt dem Land aufdem Fuße. Ja, der absolute Schuldenberg Italiens ist bedrohlich. Doch der französische ist seit 2018 gleich groß. Und ja, der italienische Haushalt ist seit vielen Jahren durchgehend defizitär. Doch das französische Defizit ist seit 2012 durchweg größer als das italienische. Vor allem riss seit 2012 nur die Regierung in Paris die 3-Prozent-Marke, und dies gleich vier Mal. Die Regierung in Rom konnte das seit 2012 durchweg vermeiden.
Die Ökonomie als solche
Doch kommen wir zu den harten Fakten der Ökonomie. Dazu habe ich ein paar Zahlen zusammengestellt – erneut immer mit einem Vergleich Frankreich / Italien. Siehe Tabelle 2:

* 2018 = vorläufige Zahlen // Quellen: OECD; Eurostat; ISTAT – Isituto Nazionale di Statistica // 2018= provisorisch und nach aktuellen Artikeln im Corriere della Sera
Beide Länder wurden von der Weltwirtschaftskrise 2008/09 getroffen – Italien deutlich stärker als Frankreich. Beide Länder konnten sich danach wirtschaftlich kaum mehr erholen. Die Wachstumsraten lagen seit 2012 zwischen 0 und 1,5 Prozent. Italien erlebte in den Jahren 2012/13 sogar eine zweite Rezession. Diese hing mit dem Libyen-Krieg zusammen. Die italienische Wirtschaft hatte sich in den vorausgegangenen Jahrzehnten erheblich in Libyen engagiert, u.a. im Ölsektor (mit ENI). Mit dem Bombardement, das im Zeitraum 19. März 2011 bis August 2011 von US-amerikanischen, britischen und vor allem französischen Kampfflugzeugen (offiziell zur Unterstützung der Aufständischen gegen Gaddafi) auf Libyen niederging, wurde auch Italien aus diesem Wirtschaftsgebiet „herausgebombt“.
Beide Länder haben auch ähnlich hohe Arbeitslosenquoten – jeweils nahe 10 Prozent. Wobei die Jugendarbeitslosigkeit in Italien (mit 32%) und in Frankreich (mit 23%) traurige Rekorde erreicht.
Doch dann schauen wir uns die Warenexporte an. Danach exportiert Italien (2017: 509 Mrd. Euro) fast ebenso viel wie Frankreich (537 Mrd. Euro). Dabei ist Italien deutlich kleiner als Frankreich. Und kommt es für die deutschen Wirtschaftsprofessoren nicht oft auf die Leistungsbilanz an – wie sieht es da aus? Tatsächlich kann Italien mehr Waren und Dienstleistungen exportieren als importieren; die Bilanz ist seit 2013 deutlich positiv. Und dies in immer deutlicherem Umfang – 2017 mit einem Plus von 47 Milliarden Euro. Umgekehrt ist die Leistungsbilanz unserer westlichen Nachbarn durchweg negativ.
Und was wird des Weiteren insbesondere in Deutschland immer als besonders aussagekräftig angesehen? Doch wohl der Anteil der industriellen Produktion an der Gesamtwirtschaft! Wie erwähnt vergleicht der zitierte „Ciao-Bella-Artikel“ bei diesem Indikator die Pflaume Italien mit dem Apfel Deutschland. Der eher aussagekräftige Vergleich mit Frankreich ergibt ein ganz anderes Bild. Italien hat – gemessen an der gesamten Ökonomie – mit 21,4 Prozent Anteil einen deutlich stärkeren industriellen Sektor als Frankreich (mit 17,2%). Was dann auch den hohen Warenexport und teilweise auch das Leistungsbilanz-Plus erklärt.
Im Übrigen schwiegen die Herren EU-Kommissare im Frühsommer 2018, als Salvini seine rassistischen Angriffe auf die Flüchtlinge startete. Sie reagierten erst im Herbst so harsch, als die Regierung in Rom ein etwas höheres Haushaltsdefizit eingehen wollte, um Maßnahmen zu finanzieren, die sozial angemessen sind. Auch das ist bezeichnend für das Ungleichgewicht in der EU-internen Debatte.[4]
Meine Bilanz lautet: Das, was sich in Italien zusammenbraut, ist eine schwere Finanz- und Wirtschaftskrise. Diese ist aber „nur“ typisch für viele EU-Länder. Sie wird Teil einer neuen weltweiten Krise und vor allem Teil der nächsten Krise des Euro sein. Wir sollten klarstellen, dass das eine kapitalistische Krise ist. Und wir sollten die Gemeinsamkeiten betonen, die die Kollegen in Wolfsburg, Turin, Lyon und anderswo in Europa haben.
Beppe Coniglio arbeitete fast drei Jahrzehnte bei VW in unterschiedlichen Werken. Er lebte viele Jahre lang bei Hannover und ist inzwischen wieder in seine ursprüngliche Heimat Süditalien zurückgekehrt. Er schrieb zuletzt in LP21 in Heft 30 zu Dieselgate und VW.
Anmerkungen:
[1] Handelsblatt vom 1. Juni 2018. Der zuvor zitierte Artikel aus „Bild“ vom 30. 5. 2018
[2] Siehe „Wall Street online“: „Risikowarnung vom ifo Chef – Panik am Kapitalmarkt könnte Italien in die Insolvenz schicken“ vom 12.11.2018
[3] Siehe z.B. den Disput hier: http://italians.corriere.it/2018/06/01/lettera-636/ In einem im „Corriere“ wiedergegebenen Leserbrief geht es um die Häme, die es in deutschen Medien beim Untergang der „Costa Concordia“ vor der Insel Giglio 2012 gab. Damals stellte der „Spiegel“ die rhetorische Frage, ob denn Vergleichbares einem deutschen oder britischen Kapitän hätte widerverfahren können. [“Ci si potrebbe mai immaginare che… possa capitare con un capitano tedesco o piuttosto britannico?”] Der Leserbriefschreiber verwies auf den britischen Kapitän Edward John Smith, der die Titanic in die Katastrophe gesteuert hatte. Und auf den deutschen Flugkapitän Andreas Lubitz, der 2015 absichtlich ein Flugzeug gegen einen Berg in den französischen Alpen steuerte und den Tod aller Fluggäste verursachte. [“Ora, a un capitano britannico era già capitato in precedenza di affondare un transatlantico di nome Titanic giusto perche’ voleva battere un record di velocità, e qualche anno dopo il naufragio della Costa Concordia un pilota di aereo tedesco superò di gran lunga la sciaguratezza di Schettino andando a schiantarsi deliberatamente contro una montagna con centinaia di passeggeri a bordo.”]
[4] Finanziert werden sollen mit den größeren Staatsausgaben ab 2019: erstens ein bescheidenes „Grundeinkommen“ für 6,5 Millionen arme Menschen; zweitens ein niedrigeres Renteneintrittsalters für eine Gruppe weniger Begüterte und drittens eine Reduktion der Besteuerung bei 400.000 Kleinbetrieben.