Mit Lindner in die Verlängerung

Systemische Krisen und die Rolle der FDP

Die Bestimmung von Artikel 65 des Grundgesetzes, wonach der Bundeskanzler die Grundlinien der Politik bestimmt, dürfte für die Dauer der Ampel-Koalition außer Kraft gesetzt sein. Stattdessen stehe dies dem FDP-Vorsitzenden Christian Lindner zu. Er selbst sieht das zumindest so, und offenbar kann er es sich herausnehmen: als der Mann, der zusammen mit den Grünen darüber entscheidet, welche Regierung zustande kommt und welche nicht, und nun darüber wachen müsse, dass das Kapital dabei nicht zu Schaden kommt.

Das Erstaunen über den Wiederaufstieg der FDP ist gegenwärtig ähnlich groß wie 2013 die Schadenfreude über ihr Ausscheiden aus dem Bundestag. Beide Ereignisse stehen in einem gewissen Zusammenhang miteinander.

Am 9. September 1982 machte der FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff einer von der SPD geführten Koalition den Garaus. In einem Papier mit dem Titel „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ forderte er eine marktradikale Wirtschafts- und Sozialpolitik. Kanzler Schmidt wurde am 1. Oktober gestürzt und durch Helmut Kohl ersetzt. Der hatte es aber nicht eilig mit der Verwirklichung von Lambsdorffs Vorschlägen. Die Wende, die er im Sinn hatte, sollte eine geistig-moralische sein, keine ökonomische, die ihn Wählerstimmen gekostet hätte. Was er weitgehend unterließ, holte 1998-2002 Gerhard Schröder (SPD) nach. Der verfuhr bei der Beschädigung des Sozialstaats so gründlich, dass der Oppositionsführerin Angela Merkel nur übrigblieb, ein noch schnelleres Voranschreiten in die auch von ihr gebilligte Richtung zu verlangen. Auf dem Leipziger Parteitag der CDU 2003 schwen kte sie auf die Positionen des mittlerweile 21 Jahre alten Lambsdorff-Papiers ein und demontierte Norbert Blüm. Im Wahlkampf 2005 verkündete sie, sie wolle „durchregieren“ – gemeint war: in einer Koalition mit der FDP.

Dafür fand sich in der Bundestagswahl 2005 keine Mehrheit. Merkel musste mit der SPD eine Große Koalition eingehen. Das wäre, angesichts dessen, wozu die Schröder-Partei bislang bereit gewesen war, kein Hindernis fürs Durchregieren gewesen, doch die schwere Rezession von 2008 kam dazwischen. In ihr musste Merkel das tun, was ihr davor nie in den Kopf gekommen wäre. Ihre Regierung verließ kurzfristig ihren proklamierten Kurs der Senkung von Staatsausgaben und -quote. Sie nahm Kredite auf, um zwei Konjunkturprogramme aufzulegen, verstaatlichte die insolvente Hypo Real Estate (Bank), beteiligte die öffentliche Hand an der taumelnden Commerzbank und stützte die Automobilbranche durch eine „Abwrackprämie“ (Subventionierung des Kaufes von neuen Kraftfahrzeugen nach Stilllegung der älteren). Als Reverenz an das in der praktischen Politik zumindest zwischenzeitlich aufgegebene Dogma vom schlanken Staat wurde 2009 eine Schuldenbremse ins Grundgesetz aufg enommen. Der Staat, weit davon entfernt, aus der Wirtschaft hinausgedrängt zu werden, steckte wieder tiefer drin als zuvor.

2009 hatte Merkel endlich die von ihr gewünschte Mehrheit aus Union und FDP zusammen. Aber mit dem Durchregieren wurde es wieder nichts. Der Staatshaushalt hatte sich bei der Bewältigung der Rezession überhoben, die FDP konnte Steuersenkungen nicht in dem Maß durchsetzen, das ihre Sponsoren von ihr erwartet hatten, und geriet 2013, bei der nächsten Wahl, unter die Fünf-Prozent-Guillotine.

Als ab 2012 die Europäische Zentralbank die Geldmenge ausweitete, die Zinsen sanken und dennoch kein nachhaltiges Wachstum einsetzte, stellte sich heraus, dass der Einbruch von 2008 nicht nur eine zyklische Krise war, sondern eine suspendierte systemische. Das soll noch einmal erklärt werden, auch wenn es in Lunapark21, Nr. 44, schon geschehen ist: Es handelt sich um Rezessionen, die den Kapitalismus, der als solcher durchaus fortbesteht, eine tiefgreifende Transformation durchlaufen lassen. Er ist danach ein anderer als vorher.

Nach 1873 hatte diese Umwandlung im Übergang zum Organisierten Kapitalismus bestanden, nach 1929 zu einem zunächst vor allem Kriegs-, dann wohlfahrtsstaatlichen Keynesianismus, 1973/1975 zum Neoliberalismus.

Solche Transformationen erfolgen in unterschiedlichem Tempo. Nach 1873 dauerte es lange, bis ca. 1895. Dann nahm der Kapitalismus wieder Fahrt auf – jetzt als Imperialismus mit dem sattsam bekannten Ergebnis von 1914. Nach 1929 ließ die Erholung ebenfalls mehrere Jahre auf sich warten, in Deutschland bis Mitte der dreißiger Jahre, in den USA sogar noch bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Das Lambsdorff-Papier von 1982 war deshalb so dringlich formuliert, weil nach Meinung seines Verfassers bislang nicht adäquat auf die Krise von 1975 reagiert worden war.

Auch jetzt, nach 2008, meldete sich ein Mahner, diesmal zur Abwechslung mal wieder ein linker: 2013 schlug der französische Ökonom Thomas Piketty in seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ steuerpolitische Umverteilung von oben nach unten und zugunsten öffentlicher Investitionen, unter anderem ins Bildungswesen, vor. Das würde nicht das Ende des Kapitalismus bedeuten, wohl aber wieder einmal dessen Übergang in eine neue Form. Nun ist das Kapital ja immer etwas flinker als seine politischen Auftragnehmer. Auf den Märkten reagiert es schnell auf die Signale von Angebot und Nachfrage. Parteien, insbesondere Regierungen, zögern gern, eine Politikvariante zu ändern, mit der sie bislang gut gefahren und für die sie ja gewählt worden sind. Ergebnis dieses Aussitzens waren in Deutschland zwei weitere Große Koalitionen unter Angela Merkel: von 2013 bis 2021. Der SPD-Vorsitzende und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel erteilte 2014 Pikettys Vorstellun gen eine Absage.

2017 wurden die beiden Parteien der Großen Koalition abgestraft. CDU/CSU, FDP und Grüne versuchten ein sogenanntes Jamaika-Bündnis. Mittlerweile war das Umweltproblem unüberhörbar dringlich geworden. Seine Bearbeitung macht unter anderem neue politische Steuerungsformen notwendig, und es stellt sich die Frage, wer die Kosten zu tragen hat. Lindner fürchtete, dass der Marktradikalismus seiner FDP auch diesmal Schaden nehmen und sie erneut unter die Räder kommen werde wie 2013. Deshalb ließ er damals die Verhandlungen platzen.

Mittlerweile ist der Kampf gegen Erderwärmung zum Thema auch einer weltweiten Jugendbewegung geworden. In dem Versuch, nach der Bundestagswahl 2021 eine Koalition aus FDP, Grünen und SPD zu bilden, zeichnet sich ein anders Szenario ab als 2017. Eine sozialökologische Wende, wie von den Grünen und der SPD im Wahlkampf angekündigt, wird von der FDP unter einen Finanzierungsvorbehalt zugunsten des Kapitals gestellt. Allerdings muss Letzteres ebenfalls Interesse an einer Rettung seiner stofflichen Grundlagen haben. Einige seiner Repräsentanten bekunden Sympathien für die Grünen. Das legt einen Kompromiss nahe: eine Art kostenneutralen Umbau, bei dem unter finanzpolitischer Aufsicht der FDP das Kapital geschont, die Lasten also von oben nach unten weitergegeben werden. Durch Vermittlung der SPD sind aber zumindest die von der IG Metall und der IG Bergbau – Chemie – Energie vertretenen Stammbelegschaften der exportorientierten Industrien zu berücksichtigen und soll immerhin mit Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns ein sozialpartnerschaftliches Angebot auch für andere Teile der Arbeiterklasse gemacht werden. Das wäre eine Verlängerung der Suspension. An die Stelle einer fälligen innerkapitalistischen Transformation, die jetzt ausgerufen wird, tritt die Verschleppung.

Georg Fülberth lebt als Professor im Ruhestand in Marburg. Zu seinem 80. Geburtstag erschien 2019 eine Auswahl seiner LP21-Beiträge: Georg Fülberth, Unter der Lupe – Analysen und Betrachtungen zum gewöhnlichen Kapitalismus, 200 Seiten, 14,90 Euro, Papy Rossa.