Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), Physiker und Philosoph in Göttingen, notierte 1789 in einem seiner „Sudelbücher“ folgende Überlegung: „Die Kosmographen werden freilich keine nordwestliche Durchfahrt finden, aber die Pelzhändler, man würde selbst in philosophischen Dingen sehr viel weiter sein, wenn man die Untersuchungen so einrichten könnte, dass der Gewürz- oder Pelzhandel dadurch befördert würde.“*
Diese Zeilen können verschiedenartig interpretiert werden: 1. als Lobpreis der Marktwirtschaft, 2. als eine Vorwegnahme des Historischen Materialismus. Ad 1: Lichtenberg beobachtet, dass das Profitmotiv eher zu neuen Erkenntnissen führen kann als Grundlagenforschung oder dass Letztere durch Ersteres eher auf den Weg zu bringen ist als durch ausschließlich wissenschaftlichen Antrieb.
1968 hielt der Marktradikale Friedrich August von Hayek einen Vortrag mit dem Titel: „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“. Demnach spüre die Konkurrenz in der gesamten Gesellschaft, also nicht nur in der Wissenschaft, die letztlich besten Lösungen auf. Während in jenem aufregenden Jahr noch der Sozialismus auf der Tagesordnung zu stehen schien, lieferte Hayek bereits die zentrale Losung für das, was ein Jahrzehnt später als Neoliberalismus zum Durchbruch gelangte.
Wie anders war es doch 1931! Da hielt der sowjetische Physiker und Philosoph Boris Michailowitsch Hessen auf dem Zweiten Internationalen Kongress für Wissenschaftsgeschichte in London einen Vortrag mit dem Titel „Die sozialen und ökonomischen Wurzeln von Newtons ´Principia´“. Für ihn waren die Interessen des Handelskapitals und des Bergbaus, die Erschließung von Verkehrswegen zu Lande und vor allem über die Meere, die Beobachtung der Himmelskörper mithilfe von besonderen Instrumenten in der Navigation die Voraussetzung für die Entwicklung der klassischen Mechanik. Lichtenberg wäre mit dieser Argumentation wohl einverstanden gewesen: Die Bewältigung praktischer Aufgaben führte zu großer Theorie.
Hessens Vortrag erregte großes Aufsehen und provozierte auch Widerspruch. Seit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 war die kapitalistische Welt in Unordnung, viele ihrer Intellektuellen wurden von panischen Selbstzweifeln geplagt. Einige gingen auf sozialistische Positionen über, andere betätigten sich als Apologeten des Bestehenden. 1930 hatte John Maynard Keynes mit einem Vortrag über „Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“ beruhigend zu wirken versucht: Es werde auch wieder einmal besser. Für dessen „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ von 1936 stellt sich übrigens dieselbe Frage nach dem Verhältnis von Henne und Ei wie bei Newton: Entstand der sogenannte Keynesianismus zuerst im Kopf eines Gelehrten und wurde dann zur Anleitung für die Praxis oder wurde hier im Nachhinein nur formuliert, was längst schon im Gange war? (Einstmals wird man diese Überlegungen vielleicht auch angesichts der he utigen Modern Monetary Theory anstellen.) Boris M. Hessen seinerseits verstand seine Ausführungen unter expliziter Berufung auf Marx, Engels und Lenin als historisch-materialistisch: die Ökonomie als Basis, Newtons Genie als Überbau.
„Geschenkt! So´n Bart! It´s the economy, stupid!” – werden heutige Neoliberale ausrufen. Dass die Wirtschaft die Grundlage sei, auf der sich Alltag, Kultur, Recht und Politik erhöben, wisse schließlich jedes Kind, und die etwas Begriffsstutzigen, die es noch nicht begriffen hätten, müssten es eben in der Schule lernen, wo zumindest in Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen – begrüßt von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften – das Fach „Wirtschaft“ eingeführt wurde. Und an den Unis grassiert eine »Neue Politische Ökonomie« oder »Ökonomische Theorie der Politik«, die Politik auf die Umsetzung von Marktgeschehen zurückführt. Auch die Kanzlerin sagt es: „Marktkonforme Demokratie“. Hat Marx etwa auf der ganzen Linie gesiegt?
Nicht ganz. Die Wirtschaft, auf die sich jetzt alles zu beziehen hat, ist nämlich die des Herrn von Hayek. Sie besteht aus Waren-, Dienstleistungs-, Kapital und Arbeitsmärkten, wo die Gesetze von Angebot und Nachfrage gelten und der Grenznutzen für deren Ausgleich sorgt. Was fehlt, ist der von Marx entdeckte Mehrwert. Marktkonforme Ökonomen behaupten, dass es ihn nicht gebe. Darüber wird seit eineinhalb Jahrhunderten gestritten. Auch hier wäre zu fragen, ob es sich um eine ausschließlich fachinterne Auseinandersetzung von Gelehrten im Elfenbeinturm handelt oder um den Kampf zwischen intellektuellen Interessenvertreter(inne)n des Kapitals einerseits, des Proletariats andererseits. Aber das lassen wir jetzt mal.
Wenden wir uns stattdessen wieder den Pelz- und Gewürzhändlern zu. Sie sind nicht die Freunde der Kosmographen, sondern ihre Feinde. Sobald nämlich die Gelehrten Himmel und Erde vermessen haben, bleibt das bisherige Erfahrungswissen der Trader nicht länger deren Geheimnis. Ein Monopol wird gebrochen.
Damit kommen wir zu einem Begriff, der sich zu dem des Wettbewerbs zugleich gegensätzlich und komplementär verhält. Friedrich Engels hat das 1844 in seinen „Umrissen zur Kritik der Nationalökonomie“ herausgefunden: Konkurrenz führt zum Monopol, das aber durch den Wettbewerb wieder gebrochen werden kann. Beruht es – das interessiert Engels hier nicht – auf Erfindungen, wird es durch Patentrecht für einige Zeit geschützt. Der Gesetzgeber, also eine politische Instanz, legt fest, wie lange diese Sicherung gilt, implizit also auch, wann sie ausläuft. Lenin meinte später feststellen zu können, dass in der imperialistischen Phase des Kapitalismus diese angestrebte Balance zwischen Urheberschutz und Wettbewerb zugunsten der Monopole aufgehoben sei: Das führe zu „Parasitismus und Fäulnis des Kapitalismus“.
Da alle Menschen von Natur aus gleich sind, ist anzunehmen, dass kapitalistische Köpfe ebenso so groß und leistungsfähig sind wie leninistische und sie die Gefahr der Stagnation durch Monopole deshalb ebenfalls erkannt haben. Ausdruck dieser Erkenntnis sind unter anderem die Kartellgesetze. Wie wirksam sie sind, lassen wir – wie so manches Andere ja auch – dahingestellt, halten aber fest, dass die Zahl der Akteure, mit denen zu rechnen ist, immer größer wird: Neben Pelzhändlern und Wissenschaft tritt nun auch noch die Politik hinzu.
Selbst am Beispiel der Corona-Krise lässt sich das zeigen.
Wir sehen den Virologen Christian Drosten, der sich aus der Sicht seines Fachs auf die Pandemiebekämpfung konzentriert. Seine Vorschläge gefallen den Pelz- und Gewürzhändlern, der Luftfahrt und der Automobilindustrie (zuweilen nebst anhängenden Gewerkschaften) wenig, die „BILD-Zeitung“ ist eine Lautsprecherin dieser Interessen, Sorgen und Ängste der so genannten Querdenker sind auch noch da. Dazwischen steht eine wissenschaftsaffine Kanzlerin, die aber ein Parallelogramm der Kräfte zu verwalten hat. Ergebnis ist ein Kompromiss zu Lasten des Lebens: einerseits Lockdown so weit wie nötig, um die seit Jahrzehnten heruntergesparten Kliniken nicht zu überfordern – andererseits business as usual so weit wie möglich. So kam es, dass mehr Menschen sterben mussten, als vermeidbar gewesen wäre – markgerechte Virologie eben. Damit man ihm zuhört, bemüht sich Drosten darum, höflich zu bleiben: Er spreche ja nur aus wissenschaftlicher Sicht. S oll heißen: Er weiß, welcher Knüppel bei welchem Hund liegt. So mag es sein, dass Lichtenbergs Aphorismus nicht nur eine marktwirtschaftliche oder eine historisch-materialistische Betrachtung zulässt, sondern auch eine resignative.
*Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Erster Band. 3. Auflage. München 1994. S. 753/7554)
Georg Fülberth lebt als emeritierter Professor in Marburg. Zu seinem 80. Geburtstag erschien 2019 eine Auswahl seiner LP21-Beiträge: Georg Fülberth, Unter der Lupe – Analysen und Betrachtungen zum gewöhnlichen Kapitalismus, 200 Seiten, 14,90 Euro, Papy Rossa.