Ukrainekrieg und Geopolitik

Jeder russische Sieg ist zugleich eine schlimme Niederlage Russlands

These: Zweiter Imperialismus, die Kontinuität des Wettrüstens und die Perspektive, dass Russland zum failed state werden könnte: Dies sind die geopolitischen Koordinaten der Ukraine-Krise.

Zweiter Imperialismus

Eine erste Entwicklungslinie, die zur gegenwärtigen Situation führte, dürfte in der Kontinuität des Imperialismus bestehen. Sie durchlief mehrere Etappen.

Seit etwa 1870 hatten die hochindustrialisierten europäischen Großmächte neue Kolonien erobert und die ökonomische Durchdringung sowie Ausbeutung ihrer bisherigen intensiviert. Sie konkurrierten um Rohstoffquellen und um Absatzgebiete für Waren und für überakkumuliertes Kapital, das auf ihren Binnenmärkten nicht mehr investiert werden konnte. Um 1900 hatten die Vereinigten Staaten von Amerika im Süden ihrer eigenen Hemisphäre sich als dominante Macht etabliert. So waren sie ebenfalls längst eine imperialistische Macht geworden.

Nach einer Übergangsperiode 1941-1945, in der eine systemübergreifende Allianz gegen den deutschen Faschismus kämpfte und siegte, trat der Imperialismus in eine Latenzperiode ein. Die kapitalistischen Mächte beendeten ihre Konflikte gegeneinander und führten unter US-amerikanischer Führung den Kalten Krieg gegen den Sozialismus.

Als in den achtziger Jahren die UdSSR aufgab, kam der Imperialismus in seiner klassischen Form wieder. Eroberung und Beherrschung von Kolonien ist nun ersetzt durch ökonomische Abhängigkeiten formell selbständiger Staaten von den Zentren, wieder vor allem mittels Waren- und Kapitalexports, angetrieben durch Überakkumulation. Es bleiben die Kämpfe um Einflusssphären, um Absatzmärkte für Waren und Kapital sowie den Zugang zu Rohstoffen.

Heute lassen sich ein globaler und ein regionaler Imperialismus unterscheiden. Für ersteren stehen die USA, für letzteren China, die EU und Russland. Die Vereinigten Staaten halten an dem Anspruch auf weltweite direkte oder indirekte Dominanz fest (Siehe dazu auch den Artikel auf Seite 54.).

Der regionale Imperialismus Chinas, der EU und Russlands zielt dagegen auf Kontrolle und Nutzung des mittelbaren und unmittelbaren Umfelds.

Völlig scharf lassen sich die beiden Typen nicht trennen. In der EU gibt es neben der Konkurrenz zu den USA Tendenzen zur kooperativen Teilhabe an deren selektivem globalem Herrschaftsanspruch. Selbst zur Wahrnehmung seiner regionalen Interessen sieht sich China immer mehr zur Errichtung kontinentübergreifender Logistik und von Einflusssphären veranlasst.

Russland fehlt zu einer solchen Politik das ökonomische Potential. Statt wirtschaftlicher Durchdringung ehemaliger Sowjetrepubliken und anderer Staaten aus dem Machtbereich der UdSSR bleibt ihm allenfalls der Versuch, diese militärisch zu kontrollieren. Anders als in den USA, China und den stärksten Ökonomien innerhalb der EU gibt es in Russland kaum Überakkumulation (sieht man in der Anhäufung von Reichtum bei Oligarchen ab). Die Anwendbarkeit des Imperialismusbegriffs ist insofern problematisch. Haltbar ist er allenfalls in einem nichtmaterialistischen Sinn, wenn man ihn auf politisch-militärische Dominanzbestrebungen begrenzt, wie sie für das von ausländischen Anleihen abhängige Zarenreich vor 1917 charakteristisch waren.

Die USA haben China zum Kontrahenten erklärt, gegen den ein neuer Kalter Krieg erklärt wurde. Im Vergleich dazu ist Russland nur ein subalterner Gegner, den bereits Barack Obama zu einer Regionalmacht abstufte. Die von den USA betriebene Einkreisungspolitik richtet sich gegen Russland und China gleichermaßen. Ihr westlicher Hebel ist die NATO. Um sich auf China konzentrieren zu können, versuchen die Vereinigten Staaten ihren europäischen Verbündeten einen größeren eigenen – auch militärischen – Anteil an der Auseinandersetzung mit Russland zuzuweisen.

Wettrüsten und Weltkriegsgefahr

Die zweite Kontinuität, in der die Ukraine-Krise steht, ist ein Rüstungswettlauf, der sofort nach 1945 begann: damals zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten von Amerika, und bis heute – in teilweise veränderter Konstellation – fortdauert. 1983 gewannen die Nato und die USA einen Vorsprung durch die Stationierung von Marschflugkörpern und Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II in Europa, die das Territorium der UdSSR innerhalb von Minuten zu treffen vermögen, während neue sowjetische Waffen vom Typ SS 20 die USA nicht erreichen konnten. Kombiniert mit der anhaltenden und sich ausbreitenden Wirtschaftsschwäche des sozialistischen Lagers führte dies zum Ende der DDR 1989/1990 und der Sowjetunion 1991.

Neuere Entwicklungen deuten auf eine Wiederholung einer solchen Asymmetrie hin, in der Russland auf Dauer unterlegen sein könnte. 2020 siegte das von dem Nato-Land Türkei unterstützte Aserbaidschan im Krieg mit Armenien. Dieser Zusammenstoß wird zuweilen als der erste Cyberkrieg bezeichnet.

Aserbaidschan verfügte über digitale Waffensysteme, die den armenischen Panzern aus russischer Produktion überlegen waren. Nicht umsonst und durchaus im Interesse der USA hat Barack Obama 2009 eine weltweite Abschaffung der Atomwaffen gefordert. In seiner Vision benötigten die Vereinigten Staaten sie aufgrund ihrer informationstechnologischen Überlegenheit in einem geringeren Maß als bisher. Der bisherige Verlauf des Ukraine-Kriegs scheint dies zu bestätigen.

Parallelen zur Zeit vor 1914

In seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ wies der französische Ökonom Thomas Piketty 2013 darauf hin, dass nunmehr weltweit die Ungleichheit wieder nahezu dasselbe Ausmaß erreicht habe wie ein Jahrhundert zuvor. Er stellte keinen Zusammenhang zwischen seinem Befund und der Überakkumulation her, die vor 1914 zum Übergang in den Imperialismus, die daraus resultierende Konfrontation zwischen den Großmächten, zum Wettrüsten und schließlich zum Ersten Weltkrieg führte. Doch sind seine empirischen Aussagen mit der der hier vorgetragenen Interpretation vereinbar.

Die gegenwärtige Konstellation erinnert an Krisen vor 1914: um Marokko (1904-1906, 1911) und Bosnien (1908). Das waren Stellvertreterkonflikte wie heute die bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien, in der Ukraine und 2020 zwischen Aserbaidschan und Armenien.

Eine weitere Parallele ergibt sich für den Zustand Russlands: Wie 1914 ist es in der Reihe der Großmächte, die aufeinanderstoßen, das ökonomisch schwächste Glied. Putin knüpft in seiner Symbolsprache ostentativ an das Zarenreich an. Dessen innere Widersprüche gehören zu den Gründen seiner außenpolitischen Konfliktbereitschaft (1904/05 Krieg gegen Japan), zu seiner Förderung des Panslawismus (vergleichbar mit Putins großrussischem Chauvinismus und seinem Beschützeranspruch für russische Bevölkerungsminderheiten in anderen Ländern) sowie auch der Kriegsbereitschaft des Zarenreichs 1914.

Die russische Katastrophe

Die durch einen etwaigen Nato-Beitritt der Ukraine drohende Komplettierung einer Einkreisung Russlands war Anlass oder Vorwand für den Angriff auf dieses Land, aber kein hinreichender Grund. Es handelt sich um einen ungeheuerlichen Fehler. Für diese Einschätzung spricht, dass auch eine Aufnahme der Ukraine in die EU (zunächst ohne NATO-Mitgliedschaft) von der Putin-Administration bekämpft wurde. Dies könnte ein Zeichen dafür sein, dass die ökonomische Schwäche Russlands zu den Ursachen seines außenpolitischen Verhaltens gehört. Das wirtschaftliche und Wohlstandsgefälle zwischen den europäischen kapitalistischen Zentren und ihren östlichen und südlichen Peripherien und Semi-Peripherien erzeugt eine Drift, die sich in massenhafter Süd-Nord-Migration und Westorientierung ganzer Staaten äußert. Dagegen helfen im letzteren Fall keine Drohungen oder gar Kriege.

Für Russland ist kein Sieg vorstellbar, der nicht zugleich eine weit schlimmere Niederlage wäre. Eine Besetzung der ganzen Ukraine würde ihm ein zweites Afghanistan bringen, eine Abtrennung des Donbass einen kräfteverzehrenden Dauerkonflikt mit der Nato, die alsbald die Ukraine als neues Mitglied begrüßen dürfte. Die USA und der Westen konnten 2021 gegen die Taliban, wie auch früher in Vietnam, gelassen eine Niederlage quittieren, ohne dadurch schwächer zu werden – anders als einst die Sowjetunion und jetzt Russland.

Angesichts dieser Perspektiven verwundert es nicht, dass die Verfechter einer „wertebasierten Außenpolitik“ jetzt sogar von ihrem Sieg träumen. Er würde Russland als ein zweites Afrika hinterlassen: ein gewaltiges Rohstofflager, das dem Zugriff des Westens offenläge, verwaltet von einem neuen Jelzin oder in einen weiteren Zerfall mündend.

Wer in der ökonomischen und politischen Verfasstheit Russlands eine Ursache für Putins Herrschaftsform und seine Fehlentscheidung sucht, kommt zu einem blamablen Ergebnis besonderer Art: Es gibt gegenwärtig offenbar keine angemessene – auch keine marxistische – Analyse der russischen Gesellschaft, aus der sich eine Erklärung für die Aggression herleiten ließe.

Wiederherstellung und Erweiterung des „kollektiven Westens“

Donald Trump und Joe Biden stimmen in ihrer Konfrontationspolitik gegenüber China überein. Zugleich unterscheiden sie sich in der Rollenzuweisung für Europa.

Trump wollte das Konfliktpotential der USA ausschließlich auf die Bekämpfung Chinas konzentrieren und Europa sich selbst überlassen. Deshalb behandelte er die Nato als überflüssig, verhielt sich nicht konfrontativ gegenüber Russland und kündigte die Liquidierung von Truppenstandorten in Deutschland an. Wenn die EU-Staaten Wert darauf legten, weiterhin von den USA geschützt zu werden, dann müssten sie ihre Rüstungsanstrengungen so erhöhen, dass die Vereinigten Staaten ihre Ziele im indo-pazifischen Bereich entlastet von ihrem europäischen Ballast verfolgen könnten. Hierher gehören seine Forderungen, dass alle Nato-Staaten endlich ihre Militärausgaben auf zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts erhöhen sollten.

Auch Biden verlangt das, will aber eine Revitalisierung der Nato. Durch den russischen Angriffskrieg brachte er die EU-Staaten und schließlich auch die Bundesrepublik dazu, seinen Druck auf China dadurch zu effektivieren, dass sie die westliche Flanke sicherten. Dies wird große Belastungen für Mittel- und Westeuropa bringen – nicht nur durch die Aufwendungen für Rüstung, sondern auch durch den Verzicht auf die bisherigen energiepolitischen Vorteile durch russische Lieferungen von Erdöl und Gas. Ob die betroffenen bisherigen Abnehmerländer sich dies auch längere Zeit zumuten wollen, wird sich noch zeigen. Fürs Erste allerdings sind die Verhältnisse geklärt: Unterordnung der europäischen Nato-Staaten, zu denen künftig auch Finnland und Schweden gehören dürften, unter die US-amerikanische Strategie.

Vor einem neuen Take off?

Mit der Weltwirtschaftskrise von 2007-2009 endete die Periode der nach dem Ende des Sozialismus ausgebrochenen scheinbar gefahrlosen neoliberalen Hemmungslosigkeit. Offenbar war es nicht nur eine zyklische Krise, sondern sie hatte das Zeug zu einer systemischen, wie sie bereits 1873, 1929 und 1975 stattgefunden hatten. Darunter sind Rezessionen zu verstehen, die den Kapitalismus, der als solcher durchaus fortbesteht, tiefgreifend ändern.

Nach 1873 hatte diese Variierung im Übergang zum organisierten Kapitalismus bestanden, nach 1929 zu einem zunächst vor allem Kriegs-, dann wohlfahrtsstaatlichen Keynesianismus, 1975 zum Neoliberalismus. Dessen Dynamik war 2007-2009 bereits gebrochen, doch ist eine nun offenbar wieder anstehende kapitalismusinterne Transformation durch geldpolitische Maßnahmen suspendiert worden. Die Behebung der Krise, die damals ausbrach, wurde in Teilen der kapitalistischen Welt nicht der angeblichen Selbstheilung durch die Märkte überlassen. An deren Stelle traten umfangreiche staatliche Kredit- und Ausgabenprogramme, zunächst auf der nationalstaatlichen Ebene, seit 2010 mit massivem Aufkauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank, in der Corona-Krise auch durch einen Aufbaufonds der Europäischen Union, erstmals verbunden mit der Aufnahme von Schulden durch diese und mit der Ankündigung eines Billionenprogramms gegen die Erderwärmung. Die Effizienz dieser Politik war daran zu messen, ob sie gleichzeitig die bisherige Tendenz zu wachsender Ungleichheit und zur Belastung der Biosphäre stoppen, umkehren oder verstärken konnte oder ob sie noch einmal lediglich die Suspendierung einer Transformation bedeutete.

Sollten die Schwächung und die ökonomische Ausschlachtung Russlands sowie der weitergehende Rüstungswettlauf mit China der westlichen Variante des globalen Kapitalismus einen neuen Schub geben, dann wäre die seit 2007-2009 suspendierte Krise doch eine systemische geworden, die in einen Kapitalismus neuen Typs führt. Mit seiner konkreten Beschreibung sollte man sich – nach den gemachten Erfahrungen bei vorschnellen Vorhersagen – zunächst noch so lange Zeit lassen, bis sich seine Merkmale voll entfaltet haben.

Fortsetzung mit ungewissem Ausgang

Für den Nachweis, Russland sei inzwischen so beeinträchtigt, dass es keine ernsthafte Konkurrenz mehr für die USA ist, hätte es seiner selbstverschuldeten Katastrophe in der Ukraine nicht mehr bedurft. Die Ukraine, um die ein Stellvertreterkrieg geführt wird, ist lediglich ein Nebenschauplatz, die Hauptauseinandersetzung findet mit China statt.

Deren Ausgang ist völlig ungewiss. Nach wie vor sind die USA militärisch China um ein Vielfaches überlegen. Die hohen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts in der Volksrepublik sind typisch für Gesellschaften nachholender Industrialisierung und müssen keineswegs zu einem Überholen führen. In der technologischen Innovationsfähigkeit sind die USA weiterhin führend. Dafür, dass dies so bleiben könnte, spricht, dass sie weiterhin ein Immigrationsland sind, das von einem ständigen Brain Brain profitiert. Chinesische Studierende, die im Ausland ausgebildet werden, kehren danach in der Regel in die Volksrepublik zurück. Aber es gibt keinen Brain Drain aus anderen Gesellschaften zugunsten der Volksrepublik.

Die weltweite Attraktivität des „American oder Western Way of life“ ist unverändert hoch. Mitentscheidend könnte auch die flexible Effizienz der Herrschaftssysteme werden, die sich in Nordamerika und West- und Mitteleuropa herausgebildet haben – eine Kombination aus repräsentativer Demokratie, rechtsstaatlichen Garantien für individuelle und kollektive Entfaltungsmöglichkeiten sowie elaborierten direkten und indirekten medialen Steuerungsmöglichkeiten, die ausschließlicher Top-down-Propaganda überlegen sind. Sie alle sind kein Selbstzweck, sondern setzen immer wieder Möglichkeiten zur Problemlösung frei.

Die zuweilen vertretene Ansicht, die aktuelle geopolitische Entwicklung sei Symptom eines obzwar durch allerlei Aktionen verzögerten Abstiegs der USA, mag falsch, richtig oder auch nur voreilig sein – man weiß es einfach nicht und sollte derlei Prophezeiungen, die weder verifizierbar noch falsifizierbar sind, unterlassen.

Anmerkung des Autors: Teile des in diesem LP21-Beitrag Dargelegten wurden bereits an folgenden Orten veröffentlicht: Georg Fülberth, Suspendierte Krise. In: Lunapark21 , Heft 44, Winter 2018/19, S. 52; ders.: Von Marokko nach Hiroshima. In: konkret 4/2022. S. 19; ders.: Die suspendierte Krise. In: Deppe, Frank, Georg Fülberth und André Leisewitz (Hrsg.): Neue Farben des Fortschritts? Umbrüche, Machtverschiebungen und ungelöste Krisen der Gegenwart. Köln 2022, S. 28-38; ders.: Illusion und Imperialismus. In: junge Welt Nr. 112., 14./15. Mai 2022. S. 14/15.