Doppelte Agenda und halbe Lunge

Sahra Wagenknechts jüngstes Buch „Die Selbstgerechten“

Kultureller Snobismus gehörte Ende des 19. Jahrhunderts zum Habitus einiger Angehöriger der Oberklassen, die sich über deren platten Materialismus erhaben fühlten, sich allerlei Abweichungen von den offiziellen Normen leisteten und deshalb als freisinnig galten. Hierher gehörte die Figur des Dandy, zum Beispiel Oscar Wilde.

Sahra Wagenknecht hat nun beobachtet, dass solche Haltung sich heute nicht mehr nur bei den schwarzen Schafen der Plutokratie, sondern auch in der arrivierten akademischen Mittelschicht finde. Es gebe eine „Lifestyle-Linke“, die, materieller Sorgen ledig, ihre Privilegien als selbstverständlich voraussetze und den Menschen, die der unteren Mittelschicht oder der Arbeiterklasse angehören, vorschreiben wolle, wie sie zu leben und zu denken haben. Das seien „die Selbstgerechten“, deren Einstellung sogar von den prekären Teilen der akademischen Mittelschicht übernommen werde.

Thomas Piketty hatte bereits in seinem 2019 erschienenen Werk „Kapital und Ideologie“1 konstatiert, die linken Parteien hätten sich akademisiert und sich dabei von ihrer sozialen Basis, den arbeitenden Unterschichten, entfernt. Deshalb wählten diese mittlerweile in erheblichen Teilen rechts.

„Die Selbstgerechten“ erinnert an den Titel eines anderen Buches: „Die Abgehobenen“ von Michael Hartmann. Dieser meint die Wirtschafts- und Politik-Eliten, Wagenknecht hingegen eine in einem kleinen Segment der Mittelschicht anzutreffende Attitüde, und zwar in einigen wenig bedeutenden geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern der Universitäten und in den Feuilletons.

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