Kapitalismus 2.0?

Wenn der Kapitalismus sich neu sortieren muss, um in eine neue Phase überzugehen, finden sich Menschen, die sein Ende unmittelbar bevorstehen sehen. Seit dem Ausbruch der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise von 2007/2008 ist das wieder der Fall. Historisch Gebildete unter den Vertretern dieser Prognose zeigen sich zugleich reflektiert schüchtern: Ja, sie wüssten schon, dass das auch früher immer wieder einmal vorhergesagt wurde, aber es könne doch sein, dass es diesmal wirklich so weit ist.

Anlass für gegenwärtige Endzeit-Prophezeiungen ist häufig die gefährliche Erderwärmung. Manche sagen, innerhalb des Kapitalismus sei sie nicht zu stoppen, und befinden sich im Streit mit Anderen, die einen Ausweg in einer Kombination aus Markt und technischer Innovation für möglich halten. Auch die Abflachung der Wachstumsraten in den OECD-Staaten wird zuweilen als letztlich nicht mehr umzukehrende Tendenz hin zum allmählichen Erlöschen gesehen, flankiert mit der Erwartung, in den Staaten nachholender Entwicklung wie vor allem China werde das irgendwann auch noch kommen. In seinem Buch »Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie« (1942) hat Joseph A. Schumpeter ein frühes Muster solcher Argumentation vorgelegt. Naomi Klein sieht in ihrer Schrift »Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima« einen Antagonismus, der nur durch die Beseitigung der gegenwärtig herrschenden Produktionsweise aufgehoben werden könne. Ulrike Herrmann schlägt die E rsetzung der gegenwärtigen Form dieser Ausbeutungsordnung durch eine andere vor. Darüber ließe sich reden, nennte sie diesen Übergang nicht forsch »Das Ende des Kapitalismus«. So heißt ihr Buch.

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Boxheim und Potsdam

Am 25. November 2023 trafen sich Nazis, AfD-Funktionäre und zwei CDU-Mitglieder in einem Hotel bei Potsdam und schmiedeten Deportationspläne gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Als dies im Januar 2024 ans Licht kam, antwortete eine breite Welle von Demonstrationen gegen die AfD.

Baerbock, Habeck, Lindner, Scholz, Söder und Steinmeier begrüßten das, auch der Oppositionsführer Merz.

In der Frage der Immigration besteht zwischen der AfD einerseits, CDU/CSU, FDP, den Grünen und der SPD andererseits verstohlene Einigkeit. Die EU, die Großen Koalitionen unter Merkel und die Ampel-Regierung von Scholz haben den Schengen-Raum so abgeschottet, dass Zehntausende im Mittelmeer zu Tode kommen. Auch darüber, dass künftig mehr abgeschoben werden soll, gibt es wenig Streit. In der Potsdamer Tafelrunde wurde daraus allerdings völkische Politik.

Seit Jahren bekämpfen antirassistische, antifaschistische und humanitäre Bewegungen die Abschließungs- und Abschiebepolitik der EU und der deutschen Regierungen. Damit standen und stehen sie ziemlich allein. Plötzlich sehen sie sich vom Mainstream erfasst. Befinden sie sich im falschen Film?

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Aufbruch zu einer Revolution für das Klima

Wir Menschen haben unsere optimale ökologische Nische in der Mitte des Holozäns gefunden. Seit ca. 6000 Jahren ermöglichen durchschnittliche Jahrestemperaturen um 13°C das Wachsen und Gedeihen der menschlichen Zivilisation.1 Doch der Anteil der Erdoberfläche mit diesen lebensfördernden Bedingungen schrumpft. In den kommenden 50 Jahren werden ein bis drei Milliarden entweder fliehen müssen oder tödlichen Bedingungen ausgesetzt sein.2

Die Ursachen für den Zusammenbruch unserer Lebensgrundlagen, das Massensterben der Arten und die Zerstörung von Ökosystemen sind bekannt. Trotzdem verbrennen wir weiter Öl, Gas und Kohle, verbrauchen riesige Flächen mit intensiver Agrarindustrie, tränken Land in Pestizide und Mineraldünger und holzen Wälder großflächig ab.

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Lobau bleibt!

Widerstand gegen die drohenden Autobahnprojekte im Nordosten Österreichs

Kaum ein Land ist in Punkto Einhaltung von Klimaschutzzielen so säumig wie Österreich, das deshalb auch schon mehrfach die Negativ-Auszeichnung “Fossil of the Day” bei den UN-Klimakonferenzen erhalten hat.

Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass der Autoverkehr das Problem ist. Dessen Ausstoß an Treibhaus-hausgasen gleicht alle Einsparungen von thermischer Gebäudesanierung, Landwirtschaft und Abfallwirschaft aus und legt Jahr für Jahr noch mehr drauf. Nach einer kurzen Atempause durch Corona ist Österreich nun wieder mit Vollgas unterwegs in die Klimakatastrophe und setzt voll auf Autobahnbau.

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Utopie und Gemeinschaft

50 Jahre Salecina. Von Theo und Amalie Pinkus-de Sassi bis heute

Nun sind sie längst Geschichte, die 1970er Jahre, in denen nicht nur in Westdeutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern selbstverwaltete Betriebe und Projekte wie Pilze aus dem Boden schossen. Nur wenige bestehen heute noch. Eines von ihnen ist Salecina, in der traumhaften Oberengadiner Gebirgsregion unweit der Innquelle, am Maloja-Pass, der gen Süden direkt von der Schweiz ins italienische Chiavenna führt – für uns beide seit mehreren Jahrzehnten ein Sehnsuchtsort. Gisela hat dort seit sehr vielen Jahren Seminare zur Geschichte der Frauenbewegung und zur alternativen Wirtschaft durchgeführt und ist zu allen Jahreszeiten in den Bergen und an den Seen gewandert. Jürgen hat Salecina erstmalig im Sommer 2016 besucht, als er an der Florawoche des Züricher Erdwissenschaftlers Conradin Burga teilnahm.1 Und zuletzt erhielt er beim Hochgebirgswandern und Gipfelklettern im Sommer 2021 in einer kleinen italienisch-deutsch-schweizer Gruppe neue Einbl icke ins Bergell. Beide haben bei ihren Aufenthalten ganz verschiedene Menschen auf Tour außer Haus und in der gemeinsam arbeitsteilig tätigen Hausgemeinschaft kennengelernt. Beide lieben Alpenrosen ebenso wie die verschneiten Berge, die abendlichen Diskussionen, Gesellschaftsspiele, Tanzen und Singen und den Austausch im Gespräch mit jungen und alten Besucherinnen und Besuchern.

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Kommunistin ist Bürgermeisterin in Graz

Gegen Ungerechtigkeit und Ausbeuterei

Am 17. November 2021 wurde in Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs, zugleich die Landeshauptstadt der Steiermark, die Kommunistin Elke Kahr mit den Stimmen von KPÖ, Grünen und SPÖ zur Bürgermeisterin gewählt. Vizebürgermeisterin wurde die Grüne Judith Schwentner. Elke Kahr regiert in einer Koalition mit Grünen (17 Prozent) und SPÖ (9,5 Prozent).

Sieben Wochen zuvor hatten 29 Prozent der wählenden Bürgerinnen und Bürger der KPÖ ihre Stimme gegeben und die jahrelang regierenden ÖVP (Österreichische Volkspartei) mit 26 Prozent der Stimmen auf den zweiten Platz verwiesen. Überraschung allerorten, auch bei KPÖ und Kahr selbst: Einen „sanften Zugewinn“, ja das hat man sich vorstellen können, aber nicht diesen „massiven Zuspruch“.

Der FPÖ, der Freiheitliche Partei Österreichs, die mit dem bisherigen ÖVP-Bürgermeister die Regierungskoalition gebildet hatte, entzogen große Teile der Bevölkerung das Vertrauen. Nur mehr elf Prozent (zuvor 16) gaben ihr eine Stimme. Die Neos (Das Neue Österreich und Liberale Forum) erhielten fünf Prozent, die restlichen neun Parteien erhielten zusammen 2,5 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag bei 54 Prozent.

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„Steigt auf die Bäume in Eurer Stadt!“ Ultimatum in Ravensburg:

„Ihr könnt unsere Baumhäuser zerstören, aber nicht die Kraft, die sie schufen“

Ravensburg, 12. Dezember 2020 Es sind zunächst zwei Menschen, welche die zuvor hinter einem Stromkasten deponierten Baumstämme an Seilen in die friedlich dastehende Winterlinde ziehen und diese dann mit neonorangenem Seil an die Äste des Baumes knoten. Als ein spärliches Gerüst aus Baumstämmen und Ästen besteht, werden Holzpaletten nach oben gezogen und zusammengenagelt. Von unten dürfte man ein leises Hämmern hören und die kleinen Lichtkegel der Stirnlampen sehen und zwei vermummte Gestalten, die nach und nach Beutel, Körbe und Eimer mit Nahrung und Schlafsäcken erst aus der Dunkelheit holen, um sie dann an einem Seil zu befestigen und wie den Rest des zukünftigen Baumhauses in die mächtige Baumkrone ziehen. Als das Material zu einem kleinen Verschlag verbaut ist, ziehen sich die dunklen Gestalten darin zurück und verschmelzen mit der Baumkrone in der sich langsam auflösenden Dunkelheit. Was treibt sie an, in einer frostigen Dezemberna cht mehrere Stunden lang bis ins Morgengrauen ein Gerüst aus Holz und Plastikplanen in acht Metern Höhe, direkt neben der Ravensburger Schussenstraße, zu errichten? Es ist die Gewissheit, dass ihr jetziges Handeln eine schon längst fällige Entwicklung einleiten kann.

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Weniger. Einfacher. Langsamer.

Vor 25 Jahren: Radikale Perspektive ohne Echo – Fallbeispiel zu Meeresschutz und Nachhaltigkeit

Weniger. Einfacher. Langsamer – drei Begriffe, die, als Forderungen formuliert, wie eine aktuelle Parole aus dem Umfeld der jungen „Fridays-for-future“-Bewegung klingen. Tatsächlich sind sie – Motto eines zivilgesellschaftlichen Kongresses – etwas mehr als 25 Jahre alt. Grund genug nachzuschauen, was damals geschehen ist: Auch wenn heute einige gesellschaftspolitische Bedingungen gegeben sind, die sich 1995 noch niemand vorzustellen vermochte (später mehr dazu), so hat doch das Heute seine ökonomischen, sozialen oder ökologischen Wurzeln direkt im Damals. Das führt zur Frage, was 1995 versäumt wurde, dass die Forderungen ein Vierteljahrhundert später unerledigt aktuell sind.

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Kohleausstieg bleibt Handarbeit

Michael Zobel, Wald- und Naturführer im Hambacher Forst, im Gespräch mit Martin Gerner

Über 70 Monate gibt es Ihren Sonntagsspaziergang im Hambacher Wald. Im Mai wird der Spaziergang sechs Jahre alt. Er ist zu einer Art Bewegung geworden. Warum gewinnt dieses Treffen stetig an Zulauf?

Michael Zobel: Im Frühjahr 2014 fragte meine Partnerin Eva Töller mich: „Warst Du schon mal im Hambacher Forst?“ Nö, war ich nicht. Am 26. April 2014 waren wir zum ersten Mal da. Haben einen wunderbaren Wald kennengelernt, damals deutlich größer als heute. Damals lebten bereits seit zwei Jahren junge Menschen auf Baumhäusern im Wald, um den Rest dieses einstmals größten Waldes des Rheinlands vor der Abholzung für den nahenden Braunkohletagebau zu retten. Die Begegnungen haben uns so beeindruckt, dass die Idee einer Führung im Hambacher Forst entstand. Für mich als Naturführer und Waldpädagoge naheliegend. Am 11. Mai 2014 war die erste Sonntagsführung mit 50 Teilnehmern. Das war die Initialzündung für regelmäßige Spaziergänge, einmal im Monat sonntags. Beim größten Spaziergang am 18. September 2018 sind hier 15.000 Menschen erschienen. Seit damals haben wir rund 70.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gehabt. Eine gut e dreistellige Zahl jeden Monat ist im Moment die Regel. Die Themen Klimawandel, Kohleausstieg, Bewahrung der Schöpfung sind aktuell wie nie. Der Hambacher Forst ist ein Symbol für diese Themen. Deshalb ist der Zulauf nach wie vor sehr groß.

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