Wenn der Kapitalismus sich neu sortieren muss, um in eine neue Phase überzugehen, finden sich Menschen, die sein Ende unmittelbar bevorstehen sehen. Seit dem Ausbruch der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise von 2007/2008 ist das wieder der Fall. Historisch Gebildete unter den Vertretern dieser Prognose zeigen sich zugleich reflektiert schüchtern: Ja, sie wüssten schon, dass das auch früher immer wieder einmal vorhergesagt wurde, aber es könne doch sein, dass es diesmal wirklich so weit ist.
Anlass für gegenwärtige Endzeit-Prophezeiungen ist häufig die gefährliche Erderwärmung. Manche sagen, innerhalb des Kapitalismus sei sie nicht zu stoppen, und befinden sich im Streit mit Anderen, die einen Ausweg in einer Kombination aus Markt und technischer Innovation für möglich halten. Auch die Abflachung der Wachstumsraten in den OECD-Staaten wird zuweilen als letztlich nicht mehr umzukehrende Tendenz hin zum allmählichen Erlöschen gesehen, flankiert mit der Erwartung, in den Staaten nachholender Entwicklung wie vor allem China werde das irgendwann auch noch kommen. In seinem Buch »Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie« (1942) hat Joseph A. Schumpeter ein frühes Muster solcher Argumentation vorgelegt. Naomi Klein sieht in ihrer Schrift »Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima« einen Antagonismus, der nur durch die Beseitigung der gegenwärtig herrschenden Produktionsweise aufgehoben werden könne. Ulrike Herrmann schlägt die E rsetzung der gegenwärtigen Form dieser Ausbeutungsordnung durch eine andere vor. Darüber ließe sich reden, nennte sie diesen Übergang nicht forsch »Das Ende des Kapitalismus«. So heißt ihr Buch.
Marx sah das anders: »Eine Gesellschaftsordnung geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind.«
Die Variante, dass eine Gesellschaftsordnung trübselig in sich zusammensinkt, fehlt hier. »Ende des Kapitalismus« ist ja nun wirklich keine Verheißung. Es sei denn, etwas Neues entsteht. Ob es etwas Besseres ist, steht dahin. Gesagt wird nur, dass die »materiellen Existenzbedingungen« schon »im Schoß der alten Gesellschaft ausgebrütet worden« sind.
Wer sie gegenwärtig aufsucht, könnte auf das Eine oder Andere stoßen. Zum Beispiel die Allmende (Commons), die das Internet anbietet. Es ist aber in den Kapitalismus gut integrierbar und bietet Großeigentümern ein erweitertes Aktionsfeld. Die Leninsche Ansicht, in einer Revolution müssten die da oben nicht mehr können und die da unten nicht mehr wollen, lässt unter den aktuellen Umständen eine Umwälzung nicht erwarten. Amazon, Meta, Google und andere sind in der Hand von Privateigentümern und können mit der Allmende gut umgehen. Und so lange ihre ärmere Kundschaft kostengünstig surfen kann, ist sie zumindest momentan nicht aufsässig. Die Frage nach dem subjektiven Faktor lassen wir also jetzt einmal beiseite.
Stattdessen empfiehlt es sich, die gegenwärtigen Misshelligkeiten als vierte jener systemischen Krisen des Kapitalismus aufzufassen, in denen dieser bisher nie untergegangen, aber jeweils ein anderer geworden ist. Dadurch unterscheidet er sich von nur zyklischen Einbrüchen.
Erstmals geschah dies in der Großen Depression der Jahrzehnte 1873 bis 1896. Der Kapitalismus der freien Konkurrenz ging in den Organisierten Kapitalismus und den Imperialismus über, dessen internationale Konflikte sich in zwei Weltkriegen entluden. Der zweite Einschnitt war die Weltwirtschaftskrise ab 1929. Sie wurde überwunden durch eine Kombination von Zivil- und Kriegskeynesianismus. Roosevelts New Deal konnte die Massenarbeitslosigkeit dämpfen. Aber erst 1942, nach Beginn des Krieges mit Deutschland, Italien und Japan, sank sie unter fünf Prozent. Im NS-Staat prägten weit mehr als Wohnungs- und Autobahnbau Rüstungsinvestitionen die Konjunkturentwicklung. Reichsarbeitsdienst und die Einführung der Wehrpflicht senkten zusätzlich die Erwerbslosigkeit. Nach 1945 entfaltete sich im Westen ein ziviler Wohlfahrts-Keynesianismus, ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre abgelöst (nach der so genannten »kleinen« Weltwirtschaftskrise von 1975) durch einen neuen Marktradikalismus (»Neoliberalismus«).
Mit dem Einbruch 2008/2009 begann die vierte innerkapitalistische Transformationskrise. Sie ist bis heute nicht überwunden und durch folgende Merkmale gekennzeichnet:
1. Überakkumulation von Kapital,
2. extreme Ungleichheit,
3. die Biosphärenkrise,
4. Kriegsgefahr wie vor 1914, jetzt verbunden mit Gefahr der Selbstauslöschung der Menschheit (oder großer Teile von ihr) im Atomkrieg.
Zu Beginn des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts wurden in den USA und der EU riesige auch industriepolitische Vorhaben zwecks Bekämpfung der menschengemachten Erderwärmung angekündigt. Denkbar ist, dass dadurch auch Überakkumulation abgebaut werden könnte. Seit spätestens 2022 tritt ein neuer weltweiter Rüstungs-Keynesianismus hinzu, der den zivilen überlagern oder ersetzen könnte.
Es besteht die Gefahr, dass am Ende der gegenwärtigen Transformationskrise ein neuer großer Krieg steht. Selbst falls er vermieden werden sollte, wird wiederum der Kapitalismus danach ein anderer sein als vorher.
Dessen Umrisse sind gegenwärtig noch nicht recht sichtbar. Erschwert wird eine Vorhersage dadurch, dass die gegenwärtige systemische Krise von einer weiteren, säkularen (ja, mehr als das) überlagert werden könnte. Möglicherweise geht gegenwärtig jener Typ dieser Produktionsweise zu Ende, der mit dem Industriekapitalismus (ab ca. 1780) einsetzte, jetzt aber tiefgreifend modifiziert wird. Nennen wir ihn: Kapitalismus 1.0. Er beruhte auf der Nutzung fossiler Energien und der Ausbeutung lebendiger Arbeitskraft. Erklärtes Ziel von Weltklimakonferenzen ist heute, den CO2-Ausstoß dadurch zu senken, dass nicht mehr karbonisierte, sondern erneuerbare Energieträger genutzt werden. (Strittig bleibt die Verwendung von Kernkraft.) Schon seit der Ersten Industriellen Revolution begannen Maschinen in wachsendem Maß körperliche Arbeitsleistung zu ersetzen. Der Einsatz der Letzteren nimmt relativ ab, in absoluten Zahlen aber zu: aufgrund steigender Nachfrage nach i hr infolge rascher Ausbreitung des Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert. In der Geschichte des ökonomischen Denkens drückte sich die wachsende Bedeutung der vergegenständlichten Arbeit im Verhältnis zur lebendigen darin aus, dass ab ca. 1870 die Arbeitswertlehre von Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx weitgehend durch andere Theorien verdrängt worden ist, in denen auch das Sachkapital als Quelle des Reichtums der Gesellschaften betrachtet wird. Ende des 20. und im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts erfasst die Digitalisierung einschließlich Künstlicher Intelligenz auch die geistige Arbeit.
Seit Beginn des Patriarchats und der Zivilisation im Neolithikum wurde die männliche Arbeitskraft als die allein produktive gesellschaftlich über die weibliche gestellt. Im Krieg hatten die Männer das Monopol auf bewaffnete Gewalttätigkeit, die Frauen waren Opfer, Begleitpersonen und Pflegerinnen. Im neuen Kapitalismus, in dem der Anteil von Männern verrichteter Arbeit bei der stofflichen Warenproduktion und -zirkulation sinkt und die Waffentechnik den nahezu ausschließlichen maskulinen Kriegseinsatz nicht mehr nahelegt, ist diese binäre Geschlechterordnung, von der das Monopol des weiblichen Gebärvermögens bleibt, in einer Krise. Die Gender-Diskurse vom Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts spiegeln diese Transformationen.
Vorstellbar ist, dass ein Kapitalismus 2.0 natürliche Ressourcen mehr schont als derjenige in den Jahrhunderten seit der Ersten Industriellen Revolution, und dass in ihm das Patriarchat endet. So lange er weiterbesteht, bleiben auch unter diesen veränderten Bedingungen: Profitmaximierung, periodisch auftretende Überakkumulation, Krisen und Kriege.
Georg Fülberth lebt als emeritierter Professor der Politikwissenschaft in Marburg.