Thomas Kuczynski

1944 bis 2023

Eine Untersuchung der Veröffentlichungen über Lange Wellen zeigt, dass das Thema selbst in langen Wellen auftaucht. Wir können feststellen, dass ein Abschwung der Realwirtschaft einen Aufschwung der Diskussion bewirkt, während in einem Aufschwung die Diskussion zurückgeht. Angesichts der Länge dieses Zyklus haben wenige Ökonomen an zwei aufeinanderfolgenden Aufschwüngen der Debatte teilgenommen, so dass viel Wissen aus früheren Forschungen verloren geht.

Thomas Kuczynski 1985 über Kondratjew-Zyklen, die sich über Jahrzehnte dehnenden Wellen der Konjunktur.

»Geschichte und Ökonomie« hieß eine Rubrik in Lunapark21. Seit der ersten Ausgabe im Jahr 2008 erschien in dieser Rubrik in nahezu jedem Heft ein Text von Thomas Kuczynski. »Kapitalismus ohne Wachstum?« lautete der Titel seines Beitrags in der vorigen Ausgabe, der Nummer 62 im Sommer 2023. Wenige Wochen später, am 19. August, stab er im Alter von 78 Jahren.

Thomas Kuczynski war ein exzellenter Autor. Seine Texte hatten meist wissenschaftliche Fragen oder Begriffe zum Gegenstand, die er präzise und zuweilen mit feinem Humor sezierte. An seinen Formulierungen gab es so gut wie nichts zu redigieren; er setzte seine Worte mit Sorgfalt. Das hatte er gelernt. Das hatte er lernen müssen, denn er war ein kritischer Geist. Und das war in der DDR, in der er bis zu ihrem Ende lebte, nicht ohne Risiko.

Der sowjetische Einmarsch in Prag 1968 bedeutete das Ende vieler Hoffnungen. Die politische Antwort des 23-jährigen Thomas auf die allgemeine Repression bestand in der Konzentration auf die wissenschaftliche Forschung. Er begann nach seiner Promotion 1972 über »Das Ende der Weltwirtschaftskrise in Deutschland 1932/33« die Arbeit am Institut für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR.

Gründer des Instituts und dessen Direktor bis 1968 war sein Vater, der es aufgrund seiner kommunistischen Vergangenheit, seiner Kontakte zu sowjetischen Wissenschaftlern, seinem Renommee auch im Westen, vermocht hatte, dem Institut gewisse Freiräume zu erhalten, die auch noch Thomas zugutekamen, als der 1988 die Institutsleitung übernahm.

Geboren wurde er 1944 in London, wohin seine Eltern Marguerite und Jürgen Kuczynski, beide Wirtschaftswissenschaftler, 1936 emigriert waren. Nach dem Krieg kehrten sie nach Deutschland zurück in die Sowjetische Besatzungszone.

Mutter Marguerite hatte sich in London in der Frauenbewegung und der Flüchtlingshilfe engagiert und arbeitete später im Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Vater Jürgen war seit 1930 als Wissenschaftler und Journalist für die KPD tätig gewesen und während des Krieges nicht nur für den sowjetischen Geheimdienst, sondern auch für einen Nachrichtendienst der USA. 1946 wurde er auf den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte an der Berliner Universität berufen.

1988 sah Thomas Kuczynski das Ende der Ära Honecker bereits kommen, glaubte aber an eine Weiterentwicklung des Realsozialismus und an den Fortbestand seines Instituts. Doch die Akademie der Wissenschaften wurde abgewickelt, Kuczynski zum freien Publizisten befördert.

2007 wirkte er mit beim Theaterprojekt »Karl Marx: Das Kapital« der Gruppe Rimini Protokoll; 2016 veröffentlichte er eine Studie über »Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im ‹Dritten Reich› auf der Basis der damals erzielten zusätzlichen Einnahmen und Gewinne«.

Er war verheiratet mit der Wissenschaftshistorikerin Annette Vogt.

Thomas Kuczynski hat der Lunapark21 Kolumnen geliefert, immer aus seiner Sicht, gewitzt durch die Erfahrungen in der DDR und mit der Welt, kritisch auf die globale Ökonomie blickend. Nie hat er dabei über die große Weltpolitik die Entwicklung der Technik und die Arbeit in der materiellen Produktion aus den Augen verloren.

Thomas Kuczynskis Rubrik-Beiträge der vergangenen Jahre erschienen soeben im PapyRossa-Verlag unter dem Titel »Letzte Geschichten aus dem Lunapark – Historisch-kritische Kolumnen zur Ökonomie der Gegenwart«.