Utopie und Gemeinschaft

50 Jahre Salecina. Von Theo und Amalie Pinkus-de Sassi bis heute

Nun sind sie längst Geschichte, die 1970er Jahre, in denen nicht nur in Westdeutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern selbstverwaltete Betriebe und Projekte wie Pilze aus dem Boden schossen. Nur wenige bestehen heute noch. Eines von ihnen ist Salecina, in der traumhaften Oberengadiner Gebirgsregion unweit der Innquelle, am Maloja-Pass, der gen Süden direkt von der Schweiz ins italienische Chiavenna führt – für uns beide seit mehreren Jahrzehnten ein Sehnsuchtsort. Gisela hat dort seit sehr vielen Jahren Seminare zur Geschichte der Frauenbewegung und zur alternativen Wirtschaft durchgeführt und ist zu allen Jahreszeiten in den Bergen und an den Seen gewandert. Jürgen hat Salecina erstmalig im Sommer 2016 besucht, als er an der Florawoche des Züricher Erdwissenschaftlers Conradin Burga teilnahm.1 Und zuletzt erhielt er beim Hochgebirgswandern und Gipfelklettern im Sommer 2021 in einer kleinen italienisch-deutsch-schweizer Gruppe neue Einbl icke ins Bergell. Beide haben bei ihren Aufenthalten ganz verschiedene Menschen auf Tour außer Haus und in der gemeinsam arbeitsteilig tätigen Hausgemeinschaft kennengelernt. Beide lieben Alpenrosen ebenso wie die verschneiten Berge, die abendlichen Diskussionen, Gesellschaftsspiele, Tanzen und Singen und den Austausch im Gespräch mit jungen und alten Besucherinnen und Besuchern.

Die Idee, das Haus und seine Geschichte

„Salecina ist ein Ort des organisierten Zufalls“, so hat der Sozialist und Buchhändler aus Zürich, Theo Pinkus (1909-1991), diesen Ort einmal treffend beschrieben. In der Stiftungsurkunde vom 12. Juli 1971 heißt es: „Unter dem Namen Stiftung Salecina/Fondazione Salecina besteht eine selbständige Stiftung … mit Sitz in Maloja, Gemeinde Bregaglia. Das Zentrum steht fortschrittlichen Bewegungen nahe und bietet preiswerten Aufenthalt.“ Seitdem ist viel geschehen.

Theo und Amalie Pinkus-de Sassi (1910-1996), beide in Zürich lebend, beide sich als sozialistisch verstehend und beide im Buchhandel aktiv, hatten – schon als sie sich noch nicht kannten – längere links-politische Geschichten hinter sich: Theo als Jude, Ausländer und Kommunist, Amalie als Freidenkerin, Mitglied der Roten Hilfe, der Internationalen Arbeiterhilfe, Kommunistin und bekannte Aktivistin der Schweizer Frauenbewegung. Sie fanden in den 1930er Jahren zusammen, arbeiteten illegal für die Partei. 1933 verließ Theo Nazi-Deutschland, wo er für Rowohlt in Berlin und den in der Weimarer Republik bedeutenden Verleger und Produzenten, den Kommunisten Wilhelm „Willi“ Münzenberg gearbeitet hatte. Und als die deutschen Grenzen 1939 auch für Bücher geschlossen wurden, gründete Theo 1940 den „Büchersuchdienst“ und organisierte die Suche nach den verbotenen und verbrannten Büchern, zunächst für seine nähere Umgebung, später auch international. Er nahm Suchaufträge aus aller Welt in Empfang, katalogisierte sie und erfüllte schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg sogar staatliche Beschaffungsaufträge. Drei Söhne bekamen die beiden.

Nach dem Krieg kämpften sie gegen die atomare Aufrüstung, beteiligten sich an den Ostermärschen, Amalie baute eine Kinderbibliothek auf und wurde in der Weltfriedensbewegung aktiv. In der Folge der 1968er Studentenbewegung wurde ihre Buchhandlung zum Treffpunkt der „Neuen Linken“. Sie vergesellschafteten ihren Privatbesitz und gründeten die Stiftung Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung und die selbstverwaltete Pinkus-Genossenschaft. Amalie wurde in der autonomen Schweizer Frauenbewegung aktiv. Gemeinsam mit vielen Freundinnen und Freunden aus der Lehrlings- und Studentenbewegung und anderen Aktiven bauten sie das alte Bauernhaus am Fuß des Piz-Salecina zum selbstverwalteten linken Studien-, Ferien- und Kommunikationszentrum Salecina um und aus. Als der Kamin fertig war, wurde zum Richtfest die rote Fahne aufgezogen. Sehr zum Ärger eines spazieren gehenden freisinnigen Nationalrates. Die Polizei in Silvaplana wurde gerufen. Doch der Polizist wo llte nicht eingreifen; die Fahne befinde sich schließlich auf Privateigentum, da könne jeder hinhängen, was er wolle. Einige der befreundeten Bauhelfer:innen hatten aus Spaß auch noch die Wanderwege um das Haus mit holzgeschnitzten Schildern versehen:

„Straße der Revolution“, „Karl-Marx-Straße“ und „H` ˆ o-Chí-Minh-Weg“. Dass die Schweizer politische Polizei über Jahrzehnte die überhaupt umfangreichste Schweizer Geheimdienstakte für das Ehepaar Pinkus angelegt hatte, kam nicht von ungefähr und in der Folge des „Fichen-Skandals“ von Dürrenmatt im November 1989 heraus. Friedrich Dürrenmatt, Amalie und Theo waren nur drei Observierte eines 900.000 Dossiers umfassenden geheimdienstlichen Bestands (Fichen = Dossiers). Aber das hinderte Salecina nicht daran, zur Stätte der Begegnung zwischen Arbeiterbewegung und den neuen sozialen Bewegungen zu werden, die bis heute besteht und wirkt.

Von Anfang an war die Selbst-Organisation und die Beteiligung der Gäste am täglichen Betrieb eine feste Regel. Ursprünglich gab es nicht einmal Hüttenwarte und auch sonst keine festen Strukturen. Weil man ein Abstürzen ins Chaos vermeiden wollte, entstand bald die Idee, neben den Gremien, die die Stiftungssatzung erfordert, einen international besetzten „Salecina-Rat“ – in Verbindung mit verschiedenen Kommissionen – zu gründen. Mitte der 1970er Jahre wurde vom Salecina-Rat eine Hüttenwartin für die Organisation des Betriebes angestellt. Zur Selbstverwaltung gehört bis heute, dass die Gäste das Frühstück vorbereiten, das Abendessen zubereiten, putzen, abwaschen und den Alltag selbst organisieren. Verteilt werden die „Dienste“ in einer täglichen Koordination nach dem Abendessen, auf der auch wichtige Nachrichten aus der Zeitung und der Wetterbericht verlesen, neue Gäste begrüßt und alte verabschiedet werden. Das Haus ver fügt über gemischte Zwei-, Vier- und Zwölfbettzimmer, mehrere Aufenthaltsräume, eine Bibliothek sowie einen Kurs- und Bewegungsraum.

Salecina heute – und in Zukunft

Das Konzept hat sich nur wenig geändert: Selbstverwaltet heißt auch nach 50 Jahren noch, dass allein die Gäste bestimmen, wie viel und welche Art von Luxus sie wollen – vom Service über die Gastronomie bis zum Bildungs-, Ferien- und Unterhaltungsprogramm. Es ist gelungen, einen Ort für Kurse, Seminare und Ferien zu schaffen, den sich auch Menschen ohne einen dicken Geldbeutel leisten können. Dafür sorgt das seit jeher gestaffelte Preismodell nach Selbsteinschätzung. Ein „Groß-WG-ähnliches Ferienzentrum in 1800 m Höhe mit Bibliothek und Kreativsaal“, so hat eine taz-Reporterin 1996 Salecina zum 25. Geburtstag beschrieben. Viele besuchen das Zentrum seit Jahren. Die in der Zwischenzeit erwachsenen Kinder haben dort Formen solidarischen Zusammenlebens kennengelernt und viele kommen mit ihren Freunden und Freundinnen.

Auch wenn heute keine rote Fahne im Maloja-Wind weht, so werden die vorbeiwandernden Menschen doch meist mit großen Transparenten aufgeklärt, dass sie es mit einem links-politischen Projekt zu tun haben: „No Borders – Kein Mensch ist illegal“. Salecina ist in der Zwischenzeit ein Teil der ökologischen Bewegung im Oberengadin geworden und ist mit den dortigen Initiativen und Aktionen vernetzt. Ende September 2021 fand in Salecina die internationale Klimatagung „System Change not Climate Change“ statt.„Wir sind noch nicht fertig“ steht auf einem Plakat, das 1991 zum Gedenken an Theo Pinkus gedruckt wurde. Und die Aufforderung: Weitermachen, die auf Herbert Marcuses Grabstein steht, der – neben anderen Persönlichkeiten auch schon in Salecina diskutiert hat, mag vielleicht sogar die Gäste, die während der Corona-Krise dort versammelt waren, inspiriert haben. Im aktuellen Jahres-Programm finden sich 30 verschiedene thematische Angebote, von den be liebten Skitouren, Langlauf, Schneeschuhwanderungen über die Yoga-Woche, die Internationale Volkstanzwoche, die Chorwoche, die Florawoche, über Sprachkurse, Herbstferien mit Kindern bis zum queerfeministischen Wandern, dem Seminar „Solidarisch Älterwerden“ und dem Politseminar „Unsere Zukunft: Atomwaffenfrei!“

Freilich fehlen die Feste zur „Jubiläumsfeier 50 Jahre Salecina“ vom 27. bis zum 28. August 2022 in Salecina und zum dezentralen 50. Geburtstag in Berlin am 24. September 2022 auf Initiative der Salecina-Chorwoche nicht im Programm.

Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin, Historikerin und Aktivistin, sie hofft, noch oft die Berglandschaft rund um Salecina erwandern zu können. Einige ihrer Veröffentlichungen finden sich auch im Büro von Salecina.

Jürgen Hahn-Schröder ist ehrenamtlicher Gewerkschaftsaktivist, Lehrer i.R., und hat auf seiner „Löffelliste“ den Besuch weiterer 20 Salecina-Aufenthalte stehen.

Anmerkung:

1 Der emeritierte Prof. der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich kennt sich (meinem bleibenden Eindruck nach) mit der Flora des Oberen Inntals besser als in seiner Westentasche aus. Jede Pflanze, die wir am Wegesrand auf unseren Tagesexkursionen zwischen 1700 und 2700 Höhenmetern ansprachen, identifizierte er namentlich, und zwar wissenschaftlich klassifikatorisch auf Latein und danach auf Deutsch, Schwyzer Dütsch, Italienisch und Englisch. Alpine Biodiversität hautnah und vielfältig: vom Gefleckten Knabenkraut, eine der Orchideen, die man bei Zuoz entdecken kann bis zur Kriechweide oberhalb von Silsmaria, dem kleinsten Baum überhaupt, einige Zentimeter groß. Und nicht nur das: Wie nebenbei konnte er über die Natur-, Kultur- und Siedlungsgeschichte, die Geologie des Oberengadins im Allgemeinen wie die des Inntals im Besonderen (fast ohne Ende) erzählen. Also der Inn entsprang keineswegs schon immer oberhalb vom Maloja-Pass, sondern erheblich wei ter südlich, im heutigen Italien. Und … und …und ….