Block 4: Geschichte
Was die Bahnreform mit der Mietenexplosion zu tun hat
Die Eisenbahn in Deutschland war es seit mehr als 150 Jahren und die Deutsche Bahn ist es auch heute noch: der größte Immobilienbesitzer im Land. Dabei hat die Deutsche Bahn AG seit 1994 Immobilien im Wert von mehreren Milliarden Euro verkauft und auf diese Weise weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit Milliarden-Gewinne erzielt. Zum Zeitpunkt der Bahnreform Anfang 1994 zählten zum Bahneigentum rund 160.000 Hektar Fläche. Schätzungen gehen davon aus, dass das Immobilienvermögen der Bahn zu diesem Zeitpunkt umgerechnet rund 200 Milliarden Euro wert war.
Dabei handelt es sich überwiegend um Flächen, auf denen Bahnverkehr stattfindet, die also gar nicht oder wenigstens nicht in absehbarer Zeit veräußert werden können.1
Allerdings gab es Mitte der 1990er Jahre bereits viele Areale, auf denen kein Bahnverkehr mehr stattfand bzw. auf denen er bald darauf eingestellt wurde – unter anderem infolge der Aufgabe Dutzender innerstädtischer Güterbahnhöfe und des gesamten Postbahnverkehrs.
Seit 1994 und bis heute kam es zu einem Abbau von 17 Prozent des Streckennetzes und von rund der Hälfte aller Ausweichgleise. Dieser Abbau war vielfach mit Entwidmungen und darauf folgend mit Geländeverkauf verbunden. Der fortgesetzte Verkauf von Bahnhöfen und schließlich der Verkauf von mehr als 100.000 Eisenbahnerwohnungen nährten über zweieinhalb Jahrzehnte hinweg die Immobilienspekulation im Land und beförderten eine so genannte freiheitlich-demokratische Grund- und Bodenordnung.
Der Trick mit dem „nicht bahnnotwendigen Gelände“
Die Bundestagsabgeordneten waren sich in den Debatten zur Bahnreform 1993 durchaus der Brisanz bewusst, die mit dem Immobilienschatz der Bahn verbunden ist. Daher sollte die neu zu gründende Deutsche Bahn AG nur dasjenige Bahngelände erhalten, das für den Bahnbetrieb notwendig war. Alles „nicht-bahnnotwendige Gelände“ sollte dem Bund bzw. der neuen Tochter des Bundes, dem Bundeseisenbahn-Vermögen (BEV), übertragen werden, denn schließlich landeten beim BEV auch die Altschulden von Bundesbahn und Reichsbahn in Höhe von umgerechnet mehr als 50 Milliarden Euro; die DB AG startete Anfang 1994 ja schuldenfrei. Die nicht-bahnnotwendigen Immobilien sollten demnach beim BEV ein Gegengewicht zum Schuldenberg darstellen.2
Doch es kam nicht zur Umsetzung dieses zentralen Bestandteils der Bahnreform-Gesetzgebung. Die neu gegründete DB AG als die gewissermaßen leistungsstärkere Einheit verfügte de facto von Anfang an über den allergrößten Teil des Bahngeländes. Nur die Eisenbahnerwohnungen waren von vornherein dem BEV zugeteilt worden. Darauf wird zurückzukommen sein.
Ende 1996 einigten sich Bundesregierung und Deutsche Bahn AG auf einen politisch motivierten großen Grundstücksdeal. Sie nahmen dabei Bezug auf einen völlig unscheinbaren – aber zweifellos höchst gezielt in das Eisenbahnneuordnungs-Gesetz eingeschleusten – Passus.3 Es wurde ein „Vergleich“ geschlossen: Nunmehr behielt die DB AG grundsätzlich alles Bahngelände, ob „bahnnotwendig“ oder „nicht bahnnotwendig“. Sie übereignete dem BEV als Ausgleich ein Immobilienpaket im Wert von lächerlichen 13,6 Milliarden DM (umgerechnet 6,8 Milliarden Euro). Das sollte dem – geschätzten – Wert aller nicht bahnbetriebsnotwendigen Areale entsprechen. Damit wurde die Grundsatzentscheidung des Bundestags ins Gegenteil verkehrt; oder, wie dies der Bundesrechnungshof diplomatisch formulierte: Das „gesetzliche Kriterium der Bahnnotwendigkeit ist weitgehend in den Hintergrund getreten“.4
Zwei Jahrzehnte nach dem Grundstücksdeal wurde deutlich, dass selbst dann, wenn man unterstellt, das 13,6 Milliarden DM-Paket habe dem Wert aller nichtbahnnotwendigen Gelände bei der DB entsprochen, der Bund auch hier über den Tisch gezogen wurde – oder sich über den Tisch hatte ziehen lassen. So waren laut Bundesregierung bis Ende 2017 von dem Bahnimmobilien-Fonds, der beim BEV gelandet war, „94,3 Prozent der Unterkünfte und 99,3 Prozent der Flächen verkauft.“ Der Bund konnte dabei jedoch nach eigenem Bekunden nur 2,5 Milliarden Euro erlösen.5 Das waren also nur 37 Prozent des Werts, den das erwähnte Immobilienpaket gehabt haben sollte. Die DB hatte dem Bund respektive dem BEV schlicht Grundstücke von minderer Qualität übereignet.
Bahnkonzern wird Immobilienhai
Mit dem Deal von 1996 wurde der Charakter der DB grundlegend verändert. Der Bahnkonzern erhielt einen neuen strategischen Geschäftszweig: Immobilienverkauf und Immobilienentwicklung. In ihrem 1999er Geschäftsbericht, vorgelegt im Frühjahr 2000, konstatierte die Deutsche Bahn unter der Überschrift „Umfangreicher Immobilienbesitz“ stolz: „Der DB AG wurden im Zuge der Neuordnung des Grundbesitzes die ca. 50.000 betriebsnotwendigen Immobilien auf rund 1,4 Milliarden Quadratmetern Grund und Boden übertragen.“ Dabei wurde bereits in diesem Geschäftsbericht – es war im Übrigen der erste mit Hartmut Mehdorn als Bahnchef – glasklar ausgeführt, was das in Zukunft zu bedeuten hatte: „Die Verwaltung des umfangreichen Grundbesitzes sowie die Entwicklung und Vermarktung der freiwerdenden Immobilien stellen ein langfristig angelegtes Kerngeschäft dar. […] Für die Immobilien, die zukünftig nicht mehr betriebsnotwendig sind, verfolgt die Deu tsche Bahn eine einheitliche Strategie. […] Flächen und Gebäude ohne weiteres Wertschöpfungspotential werden veräußert. […] Nicht betriebsnotwendige Flächen mit absehbarem Wertschöpfungspotential werden – häufig mit Partnern – als Immobilienprojekte entwickelt.“6
Die Deutsche Bahn erklärte damals also selbst: Ab sofort sind wir ein großer Player im Bereich der Immobilienwirtschaft. Der Begriff „Wertschöpfungspotential“ kann dabei durchaus mit „Potential für Immobilienspekulation“ übersetzt werden.
Drei Formen der Spekulation mit Bahngelände
Dabei sind drei Formen der Immobilienspekulation der Deutschen Bahn AG zu unterschieden.
Erstens die laufenden Verkäufe von Bahngelände, das sich ab Ende 1996 in juristisch nicht mehr anfechtbarem Besitz der Deutschen Bahn AG befand, und mit dem im Land die Immobilienspekulation Jahr um Jahr gefüttert wird, vornehmlich in Citylagen. Das Gesamtergebnis für den Zeitraum 1997 bis 2018 lautet nach eigener Schätzung: Die Deutsche Bahn konnte mit dem Verkauf von Bahnimmobilien Erlöse in Höhe von rund 9,5 Milliarden Euro erzielen. Zwei besonders große Positionen waren dabei die Erlöse aus dem Vorabverkauf des Stuttgart-21-Geländes in Höhe von 639 Millionen Euro7 und die Einnahmen aus dem Verkauf eines Pakets mit Bahnimmobilien, das in einem eigenen Unternehmen mit Namen Aurelis zusammengefasst wurde, in Höhe von 1,65 Milliarden Euro (siehe hierzu den Kasten am Ende des Artikels).
Der Bahnkonzern konnte damit in dem genannten Zeitraum im Jahresdurchschnitt mehr als 400 Millionen Euro an Sondergewinnen aus Immobilienverkäufen generieren, jeweils ein erheblicher Teil des Jahresertrages. Dies stellte demnach jeweils einen erheblichen Beitrag zum jeweiligen Jahresergebnis dar.8 Dieses Geld landete aber nicht beim Bund. Es diente dem Bahnvorstand vor allem als eine Art Schwarze Kasse zur Finanzierung der Auslandseinkäufe und zur Entwicklung der Deutschen Bahn von einem Konzern, dessen Umsatz bis Ende der 1990er Jahre zu mehr als 95 Prozent auf dem Schienenverkehr basierte, zu einem „Logistik-Konzern“ und Global Player, dessen Umsatz zur Hälfte im Ausland und zugleich zur Hälfte außerhalb des ursprünglichen Kerngeschäfts Schienenverkehr generiert wurde.9
Zweitens gibt es den andauernden Verkauf von Bahnhöfen. Dafür wurde der landläufige Begriff „Bahnhof“ neu definiert oder zerlegt. Das Bahnhofsgebäude wurde nun als „Empfangsgebäude“ bezeichnet, das inzwischen – so die DB-AG-Philosophie – in den meisten Fällen „nicht betriebsnotwendig“ sei. Das ist ungefähr so, wie wenn ein großer Autohändler erklären würde, der Showroom zur Präsentation der aktuellen Pkw-Modelle sei „kein Teil des Kerngeschäfts“ und abzustoßen. Oder wie wenn die Fraport GmbH, Eigentümerin u.a. des Frankfurter Flughafens, erklären würde, das Abfertigungsgebäude sei betriebswirtschaftlicher Ballast und würde veräußert; zukünftig fänden die Abfertigungen in Container-Baracken am Rande der Rollbahnen statt.
Diese fatale Umorientierung wurde im Geschäftsbericht der Deutschen Bahn 2004 wie folgt festgehalten: „Nach einer umfassenden Analyse haben wir uns entschlossen, die Anzahl der Empfangsgebäude auf das betriebsnotwendige Maß zu reduzieren. Als betriebsnotwendig werden die verkehrlich bedeutsamen […] Empfangsgebäude angesehen. Wir haben ein Kernportfolio von knapp über 600 Empfangsgebäuden identifiziert. Nicht betriebsnotwendige Empfangsgebäude werden […] anderen Nutzungen zugeführt.“
Seither wurden in mehreren Schüben vier Fünftel aller Bahnhöfe – oder gut 3500 Bahnhofsgebäude von 5200 – verkauft. Dieser Prozess setzt sich bis heute fort. Allein im Zeitraum 2013 bis 2017 wurden 425 Bahnhöfe („Empfangsgebäude“) veräußert. Oft versuchten Kommunen, die Bahnhöfe zu kaufen, was in früheren Jahren meist nicht möglich war, als die DB die Bahnhöfe in großen Paketen an „Investoren“ – sprich: Spekulanten – veräußerte. Die gesamten Einnahmen aus dem Verkauf der rund 3500 „Empfangsgebäude“ liegen nach eigenen vorsichtigen Schätzungen im 25-Jahreszeitraum 1994 bis 2018 in einer Höhe von rund 120 Millionen Euro oder rund 5 Millionen Euro im Jahr. Oder auch: Im Durchschnitt erhielt die DB für einen Bahnhof weniger als 35.000 Euro! Wenn die Städte und Gemeinden und andere öffentliche Institutionen also Wohnungen veräußerten, für die sie je Einheit nur rund 30.000 Euro erzielten, so veräußerte die Deutsche Bahn gleich ganze Bahnhofsgebäude mit hunderten Quadratmetern Gewerbe- und Wohnfläche für den gleichen Betrag. Zweifellos mussten diese Gebäude oft saniert werden. Doch in der Regel konnten neue Eigentümer bereits nach vier bis fünf Jahren durch Mieteinnahmen die Sanierungskosten und die Kosten für den Kauf der Immobilie wettmachen.10
Die Einnahmen aus dem Verkauf der Bahnhofsgebäude stellen damit keinen nennenswerten Beitrag zu den Gewinnen der DB AG dar. Wenn die Deutsche Bahn AG derart brutal diese verkehrspolitische und kulturelle Substanz im Schienenverkehr – zugleich oft eine maßgebliche Infra- und Kommunikationsstruktur – siehe die hunderte Bahnhofsgaststätten! – in den entsprechenden Städten und Orten – zerstört, dann muss es spezifische Faktoren geben, die diese Politik erklären. Faktisch betrieb und betreibt das Top-Personal der Deutschen Bahn in den Geschäftsbereichen Station & Service, DB Netz und DB Immobilien das Geschäft derer, die an der strukturellen Schwächung der Schiene im Allgemeinen und an der Immobilienspekulation im Besonderen verdienen.
Der Schatz der Eisenbahnerwohnungen
Das dritte Element der Immobilienspekulation der Deutschen Bahn AG besteht in dem Verkauf der Eisenbahnerwohnungen. Das wiederum ermöglichte die Schaffung des größten deutschen Wohnungskonzerns.
Allein in Westdeutschland gab es 1994 noch 112.000 Eisenbahnerwohnungen, in denen rund 300.000 Menschen – viele von ihnen mit einem „Eisenbahn-Hintergrund“ – lebten. Der Immobilienschatz auf dem Gebiet der ehemaligen DDR – ehemaliges Reichsbahngelände und ehemalige Reichsbahnerwohnungen – sind hiermit nicht erfasst; diese wurden weitgehend im Rahmen des Treuhand-Ausverkaufs privaten Immobilienhaien in den Rachen geworfen.
Am 2. Dezember 1993 formulierte Klaus Daubertshäuser, der damalige verkehrspolitische Sprecher der SPD im Bundestag, bei der Bahnreform-Debatte im Bonner Plenarsaal den folgenden Treueschwur: „Ein ganz wichtiger Punkt ist […] die unbedingte Sicherung der Eisenbahnerwohnungen. Im Gesetz ist nun eindeutig festgestellt, dass der gesamte Wohnungsbestand […] in der Verantwortung der öffentlichen Hand nach den bisherigen Grundsätzen fortgeführt wird […]. Das heißt im Klartext: Kein Eisenbahner und seine Familie muss um seine Wohnung bangen.“11 Auch der Gesetzestext ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.12
Ein halbes Jahr nach dieser Rede war Daubertshäuser Mitglied im Vorstand der neu gegründeten Deutschen Bahn AG; er nahm diese Position mehr als ein Jahrzehnt lang ein und erhielt in dieser Zeit von seinem Arbeitgeber Vergütungen in Höhe von umgerechnet mehr als fünf Millionen Euro. Das war rund das Zehnfache dessen, was er als bescheidener Abgeordneter erhalten hätte. Man darf spekulieren, wofür das die Gegenleistung war. Jedenfalls war sechs Jahre nach der zitierten Daubertshäuser-Rede der gesamte Bestand an Eisenbahnerwohnungen privatisiert – entgegen allen vollmundigen Versprechungen. Und das war der Ausgangspunkt für den neuen deutschen DAX-Konzern Vonovia SE, der zuvor Deutsche Annington Immobilien SE hieß, der wiederum auf dem Unternehmen Annington Homes basiert, das ursprünglich von den japanischen Versicherungsriesen Nomura gegründet wurde.
Das mag verwirrend erscheinen. Und sei im Folgenden aufgedröselt.
Im Zuge einer frühen britischen Privatisierungswelle übernahm 1996 die für diesen Zweck neu gebildete Gesellschaft Annington Homes vom britischen Verteidigungsministerium 40.000 Wohnungen. Annington Homes war eine Tochter des japanischen Versicherungskonzerns Nomura. 1998 wurden die deutschen Eisenbahner-Wohnungen noch unter der CDU/CSU-FDP-Regierung und dem damaligen Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann an ein Konsortium um die Familie Ehlerding vergeben. Die Ehlerdings hatten den Zuschlag erhalten, nachdem sie fünf Millionen DM an die CDU gespendet hatten (die Spende war kompliziert aufgeteilt worden in eine Spende und einen fiktiven Kredit, um ihren tatsächlichen Charakter als Großspende zu verbergen; Quittungen waren manipuliert worden). Annington war damals bereits als Bieter und mit einem deutlich besseren Gebot präsent.
Neun Jahre nach dem Vorgang packten die Spender aus. Das Magazin „Spiegel“ berichtete über die kriminellen Vorgänge im Detail. Danach wurde laut der Spenderfamilie Ehlerding „bei der Abwicklung […] 1998 auf Drängen der CDU getrickst, […] um die größte Spende in der Parteigeschichte auf zwei Jahre verteilen zu können. Der für die Union tätige Spendensammler Hans Terlinden habe dazu den Vorschlag gemacht, das Geld in eine Spende und in ein Darlehen an die Partei aufzuteilen. Während die CDU den Spendenteil von 2,43 Millionen schon 1998 verbuchte, wurde das zinslose Darlehen über 2,57 Millionen Mark erst ein Jahr später in eine Spende umgewandelt und im Rechenschaftsbericht für 1999 vermerkt. Der Schilderung von Karl Ehlerding zufolge hatte das Ehepaar immer schon die gesamten fünf Millionen Mark spenden wollen. Es sei daher klar gewesen, dass das Darlehen nicht mehr zurückgefordert werde. Genau das hatten beide 2001 im Ausschuss (einem Untersuchungsausschuss des Bundestags; W.W.) noch bestritten, mit der Folge, dass die CDU in dieser Sache einer Strafzahlung in Millionenhöhe entging. […] Gestützt wird die Ehlerding-Darstellung […] durch Angaben von Jürgen Schornack, Ex-Mitarbeiter der CDU-Schatzmeisterei. Der will schon Ende 1998 nicht nur für den Spenden-, sondern auch für den Darlehensanteil eine Spendenquittung unterschrieben haben. Die Quittungen – für den Darlehensanteil vordatiert auf den November 1999 – seien zuvor in der Bundesgeschäftsstelle erstellt und ihm dann zum Abzeichnen übermittelt worden.“13
Die SPD betritt die Bühne
Heute ist dieser Polit-Skandal weitgehend vergessen. Zumal er kurz darauf überlagert wurde durch andere CDU-Spenden- und Schwarzgeldskandale, in denen der famose Herr Schäuble eine tragende Rolle spielte. Es lohnt jedoch, sich im Zusammenhang mit den aktuellen Vorgängen im Wohnungs- und Immobilienbereich sich den Vorgang ins Gedächtnis zu rufen. Und nicht nur der CDU kann in dieser Angelegenheit der Schwarze Peter zugesprochen werden. Mit dem Regierungswechsel 1998 rückte die SPD ins Zentrum des Spekulationskarussells.
Als 1998 die SPD die Bundestagswahl gewonnen hatte und es zu der neuen rot-grünen Regierung kam, wurde die Ehlerding-Spende Stück für Stück publik. Der Zuschlag der Eisenbahnerwohnungen an Ehlerding war mit der illegalen Spende in Frage gestellt. Nun konnte die Deutsche Annington Immobilien Gruppe, eine neu gebildete Tochter der Briten und der Japaner, den größten Teil der Eisenbahnerwohnungen übernehmen. Interessanterweise war es jetzt der SPD-Politiker Franz Müntefering, immerhin der nachmalige Erfinder des Begriffs „Heuschrecken“ für spekulative Investoren, der in seiner elfmonatigen Amtszeit als Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Oktober 1998 bis September 1999) maßgeblich zu diesem Mega-Deal beitrug. Dabei war zweifellos hilfreich, dass Kajo Wasserhövel, der langjährige Vertraute von Franz Müntefering, für Annington als Lobbyist tätig wurde. Gezahlt wurde damals von Annington im Übrigen ein Spottpreis von (umgerechnet) 32.735 Euro je Wohnung – ein Preis, zu dem die Mieterinnen und Mieter diese Wohnungen meist gerne selbst übernommen hätten. Doch das wurde nicht gestattet. Es ging nicht um das Mieterwohl, wohl aber um die Förderung von Privatisierung und Spekulation.
Den entscheidenden Schritt zum führenden deutschen Wohnungskonzern unternahm Annington bzw. Vonovia 2015 mit der Übernahme des Konkurrenten Gagfah, was weitere 144.000 Wohnungen einbrachte. Aktuell hat Vonovia 396.000 Wohnungen im Bestand. Inzwischen nennt der Konzern als Ziel eine Million Wohnungen. Ihr Chef, Rolf Buch, wird als „deutscher Donald Trump“ bezeichnet. Das mag hinsichtlich der Größenordnungen einigermaßen übertrieben sein. Die Methoden, mit denen Vonovia arbeitet und vorgeht, rechtfertigen den Vergleich aber allemal. Hunderttausende Mieterinnen und Mieter können darüber ein Klagelied anstimmen.
Bilanziert man den Bereich Eisenbahn-Immobilien und Bahnprivatisierung, dann kann man feststellen: Die ein Jahr vor der Bahnreform getätigte Aussage des Magazins Focus erwies sich als prophetisch. Dort war 1993 zu lesen: „Dürr, Führer der zukünftigen Deutschen Bahn AG […], gibt sich entschlossen, mit Bahnhöfen und Brachland gutes Geld zu verdienen. Das 41.000 Kilometer lange Schienennetz ist als Immobilie pures Gold.“14
Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21. Zusammen mit Bernhard Knierim veröffentlichte er im Oktober 2019 das Buch Abgefahren. Warum wir eine neue Bahnpolitik brauchen (294 Seiten, PapyRossa, 17,90 Euro).
Anmerkungen:
1 Angaben zu den Bahn-Immobilien nach: Capital, 20/2006.
2 So festgehalten in §20 des Eisenbahn-Neuordnungsgesetzes.
3 Der Passus lautet: „Vergleiche sind zulässig; wird ein Vergleich geschlossen, ergeht ein dem Vergleich entsprechender Bescheid.“ (§23, (6)).
4 Zitiert nach: Hermann Abmayr, Bahnchef wird Immobilienhai, in: Die Tageszeitung vom 24. Oktober 1996. Abmayr bilanzierte den Deal wie folgt: „Sieger im Bahnmonopoly ist Heinz Dürr. Bis auf Grundstücke und Immobilien im Verkehrswert von 13,6 Milliarden Mark ist jetzt alles Eigentum der Bahn AG. Auch viele nicht bahnnotwendige Liegenschaften, wie das milliardenschwere Areal um den Stuttgarter Hauptbahnhof, das seit Jahren kaum mehr von der Bahn genutzt wird, kann Dürr behalten.“
5 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Sabine Leidig und der Fraktion DIE LINKE im Bundestags, Drucksache 19/701, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/007/1900701.pdf Zusammengefasst auch bei: Thomas Wüpper, Kritik an Ausverkauf der Bahn-Immobilien, in: Stuttgarter Zeitung vom 13. Februar 2018.
6 Deutsche Bahn AG, Geschäftsbericht 1999, S. 56. Dass die DB dabei von „ca. 50.000 betriebsnotwendigen Immobilien auf rund 1,4 Milliarden Quadratmetern Grund und Boden“ spricht, dürfte eine Schutzfunktion haben. Tatsächlich wurde in der Folgezeit ja festgestellt, dass ein großer Teil diese Immobilien aus Sicht des DB-Vorstands nicht betriebsnotwendig sind. Da der Widerspruch zur ursprünglichen Intention des Bundestags bei der Bahnreform in Sachen Immobilien allzu groß war, wollte man dies mit dem Adjektiv „betriebsnotwendig“ kaschieren.
7 Hier nach dem Wert, wie diese verzinsten Einnahmen aus dem S21-Geländeverkaufs in der Bilanz verbucht wurden.
8 Betrachtet wurde bislang nur der Zeitraum seit 1997. Zusätzlich gab es bereits in den Jahren 1994 bis 1996 rund 500 Millionen Euro Sondergewinne aus dem Verkauf von Bahnimmobilien.
9 Es handelt sich hier um zwei sich überschneidende Prozesse. Zum einen macht der Auslandsumsatz 2019 bereits rund die Hälfte des DB-AG-Umsatzes aus. Wobei ein kleinerer Teil des Auslandsumsatzes auch im Bahnbereich angesiedelt ist (so bei den Bahnverkehren der DB-AG-Tochter Arriva). Zum anderen realisiert der Bahn-Konzern rund 50 Prozent seines Umsatzes im Logistikbereich jenseits des Schienenverkehrs – wozu z.B. der größte Teil des inländischen Umsatzes der DB AG-Tochter Schenker zählt.
10 Da ging mal der Bahnhof von Schnabelwaid in Oberfranken für 28.000 Euro an einen neuen Eigentümer. Dort war ein Dorfbahnhof auf der Schwäbischen Alb mit 280 Quadratmetern Wohnfläche für 80.000 Euro zu haben. In Biesenthal in Brandenburg mussten Interessenten gar nur 5000 Euro für ein intaktes Bahnhofsgebäude mit mehr als 500 Quadratmetern Wohnfläche bezahlen. Sie konnten dabei gleichzeitig verdeutlichen, welch ein enormes Potential zur Revitalisierung der Bahnhofsgegend und Aktivierung von Kommunikationsmöglichkeiten in solchen angeblich unrentablen Bahnhöfen steckt. Ein Privatmann im Brandenburgischen, der neun solcher Bahnhöfe gekauft hat, berichtete, er habe – nach gewissen Renovierungsarbeiten – durch die Mieteinnahmen den Kaufpreis plus die Renovierungskosten jeweils „in vier bis fünf Jahren abbezahlt“. Angaben nach: Bastian Benrath, Schlafen im Stellwerk, in: Süddeutsche Zeitung vom 18. August 2017.
11Protokoll der Bundestagsdebatte vom 2. Dezember 1993 (Drucksache 16/957, S. 16962).
12 Im Eisenbahnneuordnungsgesetz (ENeuOG) in §15, Absatz 2: „Die in der Anlage zu diesem Gesetz aufgeführten übrigen betrieblichen Sozialeinrichtungen und die anerkannten Selbsthilfeeinrichtungen der bisherigen Bundeseisenbahnen werden für den Bereich des Bundeseisenbahnvermögens aufrechterhalten und nach den bisherigen Grundsätzen weitergeführt.“ Im Anhang sind dann u.a. aufgeführt die „Eisenbahn-Wohnungsgesellschaften (EWG)“ und die „Eisenbahner-Baugenossenschaften (EBG)“.
13 Nach: Ehlerding belastet Union, in: der Spiegel 36/2010.
14 Ulrich Viehöver, Bundesbahn – Das Mega-Milliarden-Ding, in: Focus Heft 43, 1993.
Das Aurelis-Spekulationsrad dreht sich weiter
Es gibt keine belastbare Statistik, die alle Verkäufe von Bahngelände zusammenfasst; das ist gewissermaßen ein Bahn-Betriebsgeheimnis. Die deutsche Bundesregierung ließ 2018 mitteilen: „Für die im Eigentum der DB befindlichen Flächen werden keine Statistiken geführt.“ Das ist natürlich grotesk; immerhin handelt es sich dabei um Bundeseigentum. Ein besonders dicker Einnahmebrocken im Rahmen der Verkäufe von Bahngelände war der Verkauf eines Pakets mit Bahnimmobilien, das in einem eigenen Unternehmen mit Namen Aurelis zusammengefasst wurde. Dabei erlöste die DB vor mehr als einem Jahrzehnt rund 1,65 Milliarden Euro.
Aurelis sollte auch noch für Aufregung sorgen. Denn mit der ehemaligen Bahntochter Aurelis – sie hatte nach dem Verkauf durch die DB wechselnde Eigentümer – macht die DB inzwischen interessante neue Geschäfte. 2016 beauftragte die DB AG die Ex-Bahn-Immobilientochter Aurelis und ein anderes Immobilienunternehmen, Phoenix Real Estate, mit dem Bau von zwei großen Bürogebäuden in Frankfurt am Main. Es geht dabei um den Bau eines 60 Meter hohen Büroturms mit 28.000 Quadratmetern Büroflächen und um den Bau eines 7-stöckigen Komplexes, genannt „The Brick“, mit 23.000 Quadratmetern Fläche. Ein Jahr später, 2017, schloss die DB dann mit Aurelis einen Mietvertrag über 20 (in Worten: zwanzig) Jahre für diese noch gar nicht erstellten Gebäude. In den Gebäuden mit mehr als 50.000 Quadratmetern Büroflächen sollen, wenn sie fertig erstellt sind, 3000 DB-Beschäftigte einen Arbeitsplatz erhalten.
Es geht dabei um eine neue Zentrale für DB Netz und um einen Sitz für die Zentrale des Personenverkehrs. Wobei die DB gleichzeitig Gebäude, die ihr gehören, aufgibt und in Zukunft in die neu errichteten Gebäude einziehen und dort hohe Mieten bezahlen will. Und sich dazu bereits vertraglich verpflichtet hat.
Im Oktober 2018 verkaufte dann wiederum die Aurelis beide – noch gar nicht fertig erstellte – Gebäude an einen Investor mit Namen Warburg-HIH Invest Real Estate. Dort wurde wie folgt gejubelt: „Die Transaktion bestätigt unsere Strategie, besonders attraktive Immobilienentwicklungen schon in einem frühen Stadium zu sichern“, so Hans-Joachim Lehmann, Geschäftsführer der Warburg-HIH Invest. „Durch die langfristige Mietvertragslaufzeit, die Bonitätsstärke der Mieter und die strategisch wichtige Lage am zweitgrößten europäischen Finanzstandort lassen sich hier langfristig stabile Cashflows generieren.“
Der Vorgang wird nochmals fragwürdiger angesichts der Mitteilung der neuen Eigner der in Bau befindlichen Gebäude, wonach „das Gebäude DB Brick mit einer Mietfläche von 23.400 Quadratmetern (162 Tiefgaragenstellplätze) für zwei deutsche Pensionskassen in ein Bündelungsvehikel eingebracht (wird). Das Hochhaus DB Tower mit einer Mietfläche von 30.300 Quadratmetern (212 Tiefgaragenstellplätze) wird für eine weitere deutsche Pensionskasse in einen Individualfonds eingebracht.“1
Übrigens: Wenn die Warburg HIH Invest auf die „Bonitätsstärke der Mieter“ verweist, dann ist damit gemeint; hinter der Deutschen Bahn AG, deren Bonität durch die enorm hohen Schulden zunehmend fragwürdig ist, steht letzten Endes der Bund, stehen die deutschen Steuerzahler.
Anmerkung:
1 Infos siehe u.a.: https://www.schmidtploecker.de/news/item/437-aurelis-verkauft-brick-tower.html und https://www.aurelis-real-estate.de/aurelis/presse/pressemitteilungen/2018/warburg-hih-invest-erwirbt-db-brick
1 Gedanke zu “Deutsche Bahn als Geburtshelfer von Vonovia”
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