Wachstum

Menschen, Tiere, Pflanzen wachsen – sie werden größer, differenzieren sich aus, verändern ihre Gestalt, weil sie leben und sich entwickeln.

Ein Unternehmen, eine Volkswirtschaft, die Wirtschaft wächst auch – sie tut das nur nicht aus den gleichen Notwendigkeiten wie Flora, Fauna, Lebewesen. Wenn wir den Teil der menschlichen Aktivitäten betrachten, den wir Wirtschaft nennen, wird beim Wachsen die Zahl der Produkte größer, die darauf in der Summe verwendete Arbeitszeit mehr und der Wert der Waren steigt.

Seit mehr als 200 Jahren ist der Umgang mit den Produktionsmöglichkeiten darauf ausgerichtet, dass bei der Produktion von Gütern, bei der Herstellung von Waren, für diejenigen, die über die Produktion bestimmen, mehr herauskommt als sie hineingesteckt haben – an Geldwert. Sie lassen diese Waren produzieren, weil sie ihr Geld vermehren wollen und von dem erhofften Überschuss, dem Mehrwert, leben und ihr Geldvermögen ausbauen wollen.

Alle Beteiligten sind an diesen Wachstumszwang gebunden: die Geldbesitzer, weil sie in der Konkurrenz nur durch Produktion und Verkauf der produzierten Waren ihr Vermögen erhalten können. Diejenigen, die nur ihre Arbeitskraft verkaufen können, müssen hoffen, dass es jemanden gibt, die sie auch kaufen will. Sie wünschen sich, dass ihre Arbeitszeit auch weiterhin gebraucht wird, auch wenn die Herstellungsweisen sich so wandeln, dass der Aufwand für ein Produkt abnimmt.

Dabei informiert der Wertzuwachs nur unzureichend darüber, was geschieht, wenn eine Wirtschaft wächst.

Eine Wirtschaft kann auch dann wachsen, wenn sich die Gesellschaft wandelt und Produkte, die bisher direkt verbraucht worden sind, plötzlich auf den Markt treten. Weder die verwendete Arbeitszeit noch die Zahl und Art der Produkte müssen sich ändern, nur der Umstand, dass sie verkauft werden, lässt den Tauschwert des Produzierten sichtbar werden und steigen.

Wachstum bezieht sich auf den Zuwachs der Produktion über das hinaus, was letztes Jahr produziert worden ist und dieses Jahr wieder, also das Mehr über die einfache Reproduktion des Gehabten hinaus.

Das Größerwerden des Werts des Produzierten kann um ein Vielfaches übertroffen werden durch den Zuwachs an Produktmenge. Weil in der Konkurrenz alle versuchen, schneller und billiger zu produzieren, um einen Extraprofit zu realisieren, sinkt der Aufwand für das Produkt. Die für das Produkt gesellschaftlich jeweils notwendige Arbeitszeit sinkt, dem nach einiger Zeit auch der Preis des Produkts folgen muss. Wenn die Erneuerung der Herstellungsweise besonders stark ist, sinkt der Wert des auf neue Weise hergestellten Produkts auf dramatische Weise. Schon, wenn die Menge der hergestellten Gegenstände und Leistungen nur in gleichem Maße zunimmt wie die Produktivität wächst, sprechen wir von Stagnation.

Menschen, Tiere, Pflanzen wachsen, werden erwachsen, pflanzen sich fort, werden älter und sterben. Im Durchschnitt dauert dieser Vorgang bei den Menschen heute 80 bis 100 Jahre, Pflanzen können Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende alt werden, bevor der Abbau an Substanz den Aufbau überwiegt. Auch wenn die Bedingungen nicht vorgefunden werden, die ein Lebewesen braucht, findet kein Wachstum mehr statt. Wasserbüffel wachsen ein Leben lang – glücklicherweise sind sie nicht unsterblich, sonst würde ein Büffel die ganze Welt einnehmen.

Diesen Teil des Wachsens, das Ende, nimmt die Ökonomie nicht gerne zur Kenntnis – höchstens, wenn es um „absterbende“ Industrien oder in der Konkurrenz zurückfallende Länder geht.

Bei der Wirtschaft insgesamt soll es das Ende nicht geben – weil die Bedürfnisse der Konsumenten unermesslich und unendlich groß seien. Aber mehr als ein Pfannekuchen passt nicht auf den Teller. Hinter dieser Behauptung der Unendlichkeit der Bedürfnisse steht der Wunsch des Verkäufers, das Verkaufen möge immer gelingen. Ohne Ende aber ist vermutlich nur das Zählen des Geldes, als gäbe es tatsächlich immer noch einen Dollar oder Euro, den man mehr haben könnte. Ohne Ende ist weder die Erde noch das Leben.

Das Wachsen sollte man deshalb den Menschen, den Tieren und den Pflanzen überlassen und bei Zunahme des bezahlten Aufwandes der Produktion einer Gesellschaft lieber fragen, wem es nützt, wem es schadet und ob wir es zum Leben brauchen. Wie wäre es, würde man den Zuwachs an Produktivität investieren in Arbeitszeitverkürzung, mehr Freizeit und Rückgang des materiellen Ausstoßes – also in weniger Belastung für Mensch, Umwelt und Klima?

Jürgen Bönig schreibt Geisterbahn. Geisterbahnfahrer freuen sich, wenn das Fahrzeug vor dem Schreckgespenst wegschwenkt, auch wenn es in die falsche Richtung abbiegt.

Mehr lesen:

Heft 46: Körper, Krankheit & Kapital Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, das Thema „Gesundheit“ oder dann „Krankheit“ steht in der Regel nicht oben auf der Liste linker oder gar...
Krank durch Pestizide – was nun? Für jene, die Pestizide nutzen, ist dies oftmals eine Frage des wirtschaftlichen Überlebens. Aber ihre Existenz kann auch durch die berufsbedingte Ge...
Posttaylorismus, Automation, Digitalisierung, Arbeit 4.0: Sind die Arbeitsbedingungen menschlicher g... Schon der Human-Relations-Bewegung, die sich in den 1930ern als Reaktion auf die wachsende Verweigerungshaltung der Arbeiter/innen in US-amerikan...
Gezielter Verschleiß der Arbeitskraft – staatlich gefördert Die vier Hartz-Gesetze – erweiterte Leiharbeit, Teilzeit/Minijobs, gekürztes Arbeitslosengeld, Disziplinierung der Arbeitslosen – waren nur der A...
Wir können uns unsere Gesundheit nicht abkaufen lassen! Ein politisches Leben für menschenwürdige Arbeits- und Lebensverhältnisse Ein Interview Wolfgang Hien ist gewerkschaftlicher Aktivist und ...