Der verschwundene Platz

Berlin, Wilhelmplatz
Sebastian Gerhardt. Lunapark21 – Heft 21

Berlin ist wieder Regierungssitz. Die Wilhelmstraße heißt schon lange wieder Wilhelmstraße. Aber der Wilhelmplatz heißt nicht wieder Wilhelmplatz. Er ist verschwunden. Wer nach dem Ort sucht, an dem Menschenmengen gegenüber einem eigens für Hitler errichteten Balkon an der Reichskanzlei aufmarschierten, muss gründlich suchen – und findet keinen Platz. Die heutige Wilhelmstraße ist – trotz zweier Ministerien – nicht mehr das Regierungsviertel eines wieder mächtigen Deutschland. Manche Spuren von 40 Jahren DDR lassen sich weniger leicht beseitigen, als der Name des Sozialdemokraten Otto Grotewohl von Straßenschildern im Zentrum der deutschen Hauptstadt.

An der Ostseite des alten Wilhelmplatzes stand das Hotel „Kaiserhof“, in dem die Naziführung gern Quartier nahm. An der Westseite stand die Reichskanzlei, das Ziel ihrer Ambitionen. Und wenige Meter nördlich, im Palais der Reichspräsidenten in der Wilhelmstraße 73, wurde Hitler am 30. Januar 1933 von Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Schon tagsüber hatten sich Schaulustige und begeisterte Anhänger der neuen Regierung aus Nazis und Deutschnationalen im Stadtzentrum eingefunden. Am Abend gab es einen Fackelzug der SA. Der allerdings fiel weniger imposant aus, als die gut ausgeleuchteten Fotos glauben machen, die breite Marschblocks von SA-Kolonnen vor der Kulisse des Brandenburger Tores zeigen. Höchstens sechs, zuweilen auch nur zwei oder drei SA-Männer nebeneinander zogen am Tag der Machtübergabe an die Nazis durch das Regierungsviertel. Die eindrucksvollen Bilder wurden Wochen später, im März 1933 für den Nazi-Propagandafilm „Hans Westmar – Einer von vielen“ gedreht. Vom Fackelzug des 30. Januar gibt es nur wenige, technisch schlechte Aufnahmen: Ohne künstliches Licht keine guten Nachtaufnahmen, ohne rechtzeitige Organisation keine folgsamen Mengen auf der Straße.

Auch in den folgenden Jahren wollten sich die Nazis zur Darstellung ihrer Macht nicht auf spontane Begeisterung „ihres“ Volkes verlassen, schon gar nicht in Berlin. Wenn Hitler sich nach einem Auslandsaufenthalt feiern lassen wollte, wurde der Weg der Wagenkolonne durch die Hauptstadt genau geplant und die Beflaggung der Straßenzüge zuvor kontrolliert. Nicht, dass es nicht auch echte Begeisterung für die Politik der Nazis gegeben hätte. Zum Machterhalt aber war mehr nötig: Am Südende des alten Regierungsviertels richteten sich auf dem Prinz-Albrecht-Gelände 1933/34 das Geheime Staatspolizeiamt und der Reichsführer SS ein. Der Wilhelmplatz gegenüber der Reichskanzlei wurde von Bäumen und Grün befreit und mit Granitplatten zur Aufmarschfläche aufgerüstet. Auf dem Balkon der Reichskanzlei ließ sich Hitler nach dem „Anschluss“ Österreichs oder der Niederlage Frankreichs feiern.

Doch dann blieben die Siege und damit die Aufmärsche vor dem „Führer“ aus. Hitler war nur noch zuweilen in Berlin. Er zog den Obersalzberg und seine Hauptquartiere in Ost und West der monumentalen, Anfang 1939 halbwegs fertiggestellten „Neuen Reichskanzlei“ vor. Der Balkon blieb leer. Auf dem Wilhelmplatz vereidigte Josef Goebbels am 12. November 1944 den Berliner Volkssturm als letztes Aufgebot. Erst im Januar 1945, auf der Flucht vor den Truppen der Alliierten, kehrte Hitler endgültig nach Berlin zurück.

Am Wilhelmplatz arbeiteten derweil Bürokraten fleißig für einen Sieg im Eroberungskrieg: im Verkehrsministerium an der Westseite, im „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ an der Nordseite und schließlich im Finanzministerium an der Südseite des Platzes. In letzterem wurde unter der Leitung des Reichsfinanzministers Lutz Graf Schwerin von Krosigk möglichst akkurat über die Einnahmen und Ausgaben des Deutschen Reiches Buch geführt, das Steuersystem und die Erfassung der Beute zum Zwecke der Kriegsführung perfektioniert und schließlich der Schuldenstand des Reiches erfasst. Schon die Aufrüstung konnte nur durch eine Umlenkung privaten Geldvermögens in die Verwendung des Staates bezahlt werden: Die offizielle Verschuldung des Reiches stieg von 11,8 Milliarden Reichsmark am 1. April 1933, dem Beginn des Rechnungsjahres, auf 47,9 Milliarden nach sechs Jahren Aufrüstung am 1. April 1939. Doch verglichen mit den Kosten des tatsächlichen Krieges waren das Kleinigkeiten. Obwohl die Ausplünderung der besetzten Länder mit mehr als 130 Milliarden Reichsmark zu Buche schlug und die Steuereinnahmen im Krieg deutlich zunahmen, stieg die Reichsschuld bis zur letzten offiziellen Veröffentlichung (Stand 31. Dezember 1944) auf 348 Milliarden Reichsmark. Danach wurde es mit der Buchführung schwierig. Für das Kriegsende konnten auch die Beamten des Finanzministeriums nur eine Schätzung vorlegen: Sie belief sich auf knapp 380 Milliarden Reichsmark.

Wenige Meter vom Wilhelmplatz entfernt beging Hitler am 30. April 1945 im Führerbunker Selbstmord. Am 8. Mai kapitulierte die Wehrmacht. Der Krieg war aus, die Verbrechen waren beendet. Mit dem deutschen Staat hatte auch das deutsche Kapital den Krieg gründlich verloren: Die Zerstörungen und die Grenzziehungen der Nachkriegszeit trafen es schwer, wenngleich im Westen Deutschlands einige Früchte der Nazizeit als Startkapital für den Nachkriegsboom erhalten blieben. Der „Wilhemstraßenprozeß“ gegen führende Beamte der Reichsregierung zeigte von 1947 bis 1949 die abnehmende Bereitschaft der Westmächte, gegen die Eliten vorzugehen, die den Zweiten Weltkrieg vorbereitet und entfesselt hatten. Schwerin von Krosigk war im Februar 1951 wieder auf freiem Fuß.

Der Platz seines Wirkens lag aber nun in der Hauptstadt der DDR, die ihn am 30. November 1949 in Thälmanplatz umbenannte. Die Ruinen wurden abgeräumt, die Reichskanzlei gesprengt, andere gut erhaltene Nazibauten – Stahlbeton brennt nicht – einer neuen Nutzung zugeführt. Ende 1964 benannten die Stadtoberen Ostberlins auch ihren Teil der Wilhelmstraße um, er hieß nun nach dem ersten Ministerpräsidenten der DDR. So richtig wusste der zweite deutsche Staat aber nichts mit einer Gegend anzufangen, die so nah an der Grenze zu Westberlin lag. Erst spät füllte er die Brache – und machte zugleich jenen Platz unsichtbar, auf dem wiederholt Zehntausende der Naziführung zugejubelt hatten. Von 1974 bis 1978 baute die CSSR ihre Botschaft dort, wo einst die Südhälfte des Wilhelmplatzes gewesen war. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurden Plattenbauten des Typs WBS70 entlang der Grotewohlstraße errichtet. Auf der Nordhälfte des Thälmannplatzes entstanden Wohnhäuser, auf dem Grundstück der „Neuen Reichskanzlei“ ein Kindergarten. 1987 wurde der verschwundene Platz auf Straßenschildern und Stadtplänen gestrichen, die U-Bahnstation hieß nunmehr „Mohrenstraße“ und die Nummerierung der Hauseingänge wurde angepasst.

Nach dem Ende des Ostblocks änderte sich vieles, Straßennamen zum Beispiel. Die U-Bahn fuhr wieder bis in den Westen. Trotzdem bekamen die deutschen Eliten nur den Namen „Wilhelmstraße“, nicht auch ihren Platz in derselben zurück. Wohl residiert das Bundesfinanzministerium wieder in der Wilhelmstraße, nur etwas weiter südlich, im Block des „Reichsluftfahrtministeriums“, wo sich zu DDR-Zeiten das „Haus der Ministerien“ und dann der Sitz der Treuhandanstalt befanden. Doch an der Stelle des traditionellen Zentrums der politischen Macht stehen nun Plattenbauten und leben viele Mieter, die sich nicht vertreiben lassen, auf ihre Rechte pochen und auf dem Kindergarten bestehen. Während der protzige Block des „Palastes der Republik“ abgerissen werden konnte und dort der Stadt ein Remake des Hohenzollernschlosses aufgedrückt wird, führt in der Wilhelmstraße kein Weg zur Preußenherrlichkeit zurück. Schlichte Wohnhäuser haben das Stadtbild nachhaltiger verändert als das teure Vorzeigeobjekt staatlicher Repräsentation. Das könnte eine Lehre sein.

Vielleicht sind auch in den deutschen Eliten manche ganz froh, sich über die Nutzung eines historisch belasteten, aber zum Glück verschwundenen Platzes keine Gedanken mehr machen zu müssen. Im Jahr 2009 kam sogar das Bundesfinanzministerium auf den Gedanken, dass eine nähere Beschäftigung mit der Geschichte der Vorgängereinrichtung nötig ist (www.reichsfinanzministerium-geschichte.de/). Die Herren wussten schon, dass kein Loblied rein sachlichen deutschen Beamtenhandelns zu erwarten ist (www.dhm.de/ausstellungen/ legalisierter-raub/). Aber sie wissen auch, dass inzwischen die Befassung mit den „dunklen Seiten deutscher Geschichte“ zur Staatsräson gehört. Immerhin haben die deutschen Eliten seit 1949 gezeigt, dass sie auch in einer Demokratie erfolgreichen Kapitalismus betreiben können.

Sebastian Gehardt ist Vorstand der Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin. Er verdient sein Geld mit Ausstellungsführungen in der Topographie des Terrors und im Deutsch-Russischen Museum Berlin Karlshorst. Gerhardt ist Geschäftsführer der Lunapark21 GmbH.

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