Oder: Teile und Herrsche. In Gliwice steht mehr als ein Opelwerk
Sebastian Gerhardt. Lunapark21 – Heft 28
Wenige Monate, bevor am 5. Dezember 2014 in Bochum die Fahrzeugproduktion endete, brauchte das Opel-Werk Unterstützung. Denn kurz vor Schluss wollten nicht mehr alle Bochumer Opelaner ihrem Betrieb die Treue halten. Die Suche nach einem neuen Job oder die schlichte Krankschreibung führten zu einem Personalengpass. Einige Dutzend Beschäftigte wurden aus Gliwice geholt, von General Motors Manufacturing Poland (früher Opel Polska). Seit dem Zuschlag für das neue GM-Werk 1996 an die Sonderwirtschaftszone in Gliwice hat sich dort ein neuer Schwerpunkt der polnischen Autoindustrie gebildet, neben dem FIAT-Werk im nur 40 Kilometer entfernten Tychy. Mit über 40000 Beschäftigten in der Automobilproduktion ist Oberschlesien das Zentrum dieser Industrie in Polen, eine kapitalistische Erfolgsgeschichte. Allein bei GM im Gliwice arbeiten 3500 Menschen.
Berühmt wurde die damalige deutsche Grenzstadt Gleiwitz in der Nacht vom 31. August zum 1. September 1939. Ein Kommandounternehmen des Sicherheitsdienstes der SS unter Alfred Naujocks täuschte einen polnischen Überfall auf den lokalen Radiosender vor. Zusammen mit anderen deutschen Provokationen sollte die Aktion den Einmarsch von Nazi-Deutschland in Polen rechtfertigen helfen. Nach dem Verlesen einer kurzen Erklärung ließ Naujocks Kommando einen Toten zurück: Franciszek Honiok, 41 Jahre, deutscher Staatsbürger polnischer Nationalität aus einem Dorf der Umgebung. Schon im November 1943, auf der Konferenz der großen Drei in Teheran, war klar, dass diese Gegend nach dem Krieg Teil des polnischen Staates werden sollte.
75 Jahre später, 25 Jahre nach dem Ende des Ostblocks, ist Polen Mitglied der NATO und der EU. Mit dem EU-Beitritt zum 1. Mai 2004 kam es zu einem echten Wachstumsschub, der sogar die Arbeitslosigkeit verminderte. In der Weltwirtschaftskrise ab Ende 2008 nahm dann die kapitalistische Ökonomie weniger Schaden, als die Menschen, die für diese arbeiten müssen: Die polnische Wirtschaft wuchs von 2008 bis 2013 um insgesamt 15 Prozent. Der Premier Donald Tusk hat nach sieben Jahren im Amt am 1. Dezember einen neuen Job als Präsident des Europäischen Rates angetreten. Doch erst in den letzten 12 Monaten kam das Wachstum auch auf dem Arbeitsmarkt an: Im Oktober 2014 wurden 1,784 Millionen Arbeitslose registriert. Das sind 400000 Arbeitslose weniger als vor einem Jahr. Aber auch 300000 mehr als vor Beginn der Krise (siehe Tabelle).
Gliwice ist ein gutes Beispiel für die polnische Entwicklung. Zwar liegen Arbeitslosenrate und Armutsquote der Wojewodschaft Schlesien regelmäßig um einige Prozent unter dem Landesdurchschnitt. Aber gut geht es den Menschen hier deshalb noch nicht. Die Bevölkerungszahl der Stadt ist seit 1988 stetig gefallen: Von 223000 auf knapp 200000 im Jahr 2005. Für 2013 gibt die Statistik noch 185450 Einwohner an. Wohl liegen die Arbeitslosenzahlen des Oktobers 2014 auch in Gliwice weit niedriger als vor 10 Jahren, doch auch deutlich höher als vor Krisenbeginn. Und im Durchschnitt der letzten Jahre hatten nur um die 10 Prozent der registrierten Arbeitslosen der Stadt überhaupt ein Anrecht auf Geld vom Amt.
Das ist kein Fehler. Das ist Absicht. Es ist Teil der Strategie, mit der Politik und Unternehmen sich für die Wirtschaft Polens einsetzen. An erster Stelle steht der soziale Druck, der aufgrund der geringen und strikt befristeten Arbeitslosenunterstützung zur raschen Rückkehr in irgendeinen Job zwingt. Nach Angaben der amtlichen Statistik erreichte erst 2005 das Realeinkommen der abhängig Beschäftigten wieder den Stand von 1980. Der tiefe Einbruch der Jahre 1988-1991 sollte gar nicht zu schnell wieder aufgeholt werden, sondern die Grundlage für einen neuen kapitalistischen Aufschwung bilden.
Die wirtschaftspolitische Generallinie war klar: Privatisierung plus ausländische Direktinvestitionen. Die Offerte wurde angenommen. Schon 1998 konnte Polen Ungarn als begehrtestes Investitionsziel in Osteuropa ablösen. Die polnische Wirtschaftspolitik wirbt mit einer ebenso qualifizierten wie kostengünstigen industriellen Arbeiterklasse, mit Steuererleichterungen, günstigen Energietarifen, Sonderwirtschaftszonen und der dazugehörigen, Schritt für Schritt modernisierten Infrastruktur. Im Einzelfall wurde auch hart verhandelt: Als Polen sich amerikanische Kampfflugzeuge F-16 zulegte, verlangte es im Gegenzug ein industrielles Engagement des Produzenten Lockheed Martin. Der wollte nicht und kaufte sich auf dem Umweg über GM frei: Lockheed Martin unterstützte finanziell den Ausbau der GM/Opel-Kapazitäten in Polen.
Für die Wirtschaft in Gliwice zahlte sich diese Politik aus. Bis heute gibt es eine ganze Reihe von Großbetrieben in der Stadt, nicht nur die Zulieferer, ohne die GM nicht „just-in-time“ produzieren kann. Gleich neben dem Autowerk hat sich in der Sonderwirtschaftszone die japanische NGK Ceramics niedergelassen. Chemieindustrie gibt es in der Stadt, ein Hüttenwerk, ein Walzwerk und Rüstungsindustrie: In den Mechanischen Werken Bumar Labe¸dy produzieren 2500 Beschäftigte nicht nur Baumaschinen, sondern unter dem Namen PT-91 auch eine modernisierte Variante des sowjetischen Standardpanzers T-72 und ähnliches Gerät, sogar für den Export.
Der größte Betrieb in Gliwice gehört allerdings nicht zu den wirtschaftspolitischen Lieblingskindern der wechselnden Warschauer Regierungen. Es ist die Steinkohlengrube So¯snica-Makoszowy (3600 Beschäftigte, Tagesproduktion: 14300 Tonnen). Die Grube ist Teil des größte europäischen Steinkohlenförderers, der Kompania We¸glowa mit Sitz in Katowice. Die Firma hat notorische Schwierigkeiten. Die polnische Steinkohlenförderung sinkt: Waren es 2005 noch 98 Millionen Tonnen, so kamen die Gruben 2013 noch auf 77 Millionen. Neben billiger Importkohle schlägt sich hierbei auch der wirtschaftliche Strukturwandel nieder. Seit den neunziger Jahren versuchten alle Regierungen, diesen Knoten irgendwie zu lösen, ohne allzu große wirtschaftliche und politische Risiken einzugehen. Doch gelungen ist es nicht. In der neuesten Runde bedient sich die Regierung auch ökologischer Argumente, die natürlich für das geplante erste polnische Atomkraftwerk sprechen.
Am 26. März 2013 riefen die Gewerkschaften in Oberschlesien zu einem Generalstreik auf. Die Auseinandersetzung um Für und Wider begann im Herbst des Vorjahres. Diesmal war es nicht nur die traditionell kämpferische Gewerkschaft „Sierpie¯n ’80“ (August ’80), auch die offiziellen Erben der Solidarno˘s und ihr einstiger staatstreuer Gegenpart, die OPZZ, nahmen mit weiteren Organisationen am Ausstand teil. Von Anfang an geplant war eine Demonstration für vier Stunden, von morgens 6 bis 10 Uhr. Schwerpunkt des Streiks waren die Bergwerke, der Schienenverkehr, das Bildungs- und Gesundheitswesen.
Die Gewerkschaften schätzten die Beteiligung auf 100000 Menschen – die in der amtlichen Streikstatistik keinen Niederschlag fanden. Doch der Fehler liegt nicht allein in der Berichterstattung. Tatsächlich war es eine ähnlich symbolische Aktion, wie der „Generalstreik“ des DGB gegen die Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards am 12. November 1948. Wie damals setzten manche Linke Hoffnung auf einen nächsten Schritt, der nie kam. Die Autowerke beteiligten sich gleich gar nicht.
Die letzte wirkliche Streikwelle sah Polen 2008 – vor der Krise, auf dem Höhepunkt der Konjunktur. Damals hatten die Leute ein Stück Verhandlungsmacht auf dem Arbeitsmarkt und Hoffnung auf bessere Zeiten.