„Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ (Karl Liebknecht)
Thomas Kuczynski in Lunapark21 – Heft 30
Vier Jahre nachdem Francis Fukuyama das angebliche „Ende der Geschichte“ verkündet hatte, läutete 1993 sein Landsmann Samuel Ph. Huntington (1927-2008) mit seinem später zu einem ganzen Buch umgestalteten Aufsatz „Clash of Civilizations“ (Kampf der Kulturen) eine neue Etappe ideologischer Geschichtsbetrachtung ein, und zwar mit ungemein großem Erfolg. Huntington war sowohl innen- als auch außenpolitisch ein militanter WASP (was im Englischen nicht nur die Wespe bezeichnet, sondern auch für „White Anglo-Saxon Protestant“ steht). Mit dem von ihm kreierten Kampfbegriff stand nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die bis dato das „Reich des Bösen“ darstellte, dem US-amerikanischen militärisch-industriellen Komplex ein neuer Erzfeind zur Verfügung, der „Islamismus“, und zwar als angeblicher Kontrapunkt zu den „christlichen Werten“ der westlichen Welt. Auf den kalten Krieg folgte daher rasch der von Bush & Co. ausgerufene „Kreuzzug gegen den islamistischen Terrorismus“, selbstredend zur Verteidigung des „christlichen Abendlandes“.
Dass die Berufung auf diese Werte lediglich als ideologische Bemäntelung knallharter politischer Machtinteressen dient, sollte spätestens mit dem Ausschluss des seit 25 Jahren christlich-orthodox dominierten Russland aus der westlichen „Wertegemeinschaft“ (der G7) klar geworden sein; die Mitgliedschaft des zu über 99 Prozent „unchristlichen“ Japan stört dagegen nicht. Überdies bleibt festzuhalten, dass die heute so verteufelten „islamistischen Terroristen“, von Al-Qaida bis „Islamischer Staat“, zunächst samt und sonders Kreationen der CIA waren, die sich dann ihren Schöpfern gegenüber verselbständigt haben.
All dies ist unbedingt mitzubedenken bei einer Betrachtung der Lage im Nahen Osten und stellt die vom „Westen“ vergossenen Krokodilstränen in das rechte Licht. Aber es ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere, nicht minder hässliche, bildet die internen Machtkämpfe innerhalb dieser Region ab. Im Vordergrund stehen dabei die religiösen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten, im Hintergrund aber der Kampf zwischen dem sunnitisch geprägten Saudi-Arabien und dem schiitisch geprägten Iran um die Vorherrschaft im Nahen Osten. Wer sich nur ein wenig in der politischen Landschaft auskennt, weiß, dass in beiden Staaten linke demokratische Bewegungen grausam verfolgt werden. Von „Befreiungsbewegung“ kann dort ebenso wenig die Rede sein wie in Syrien, Jemen und anderen arabischen Staaten; auch der arabische Frühling ist wohl zu rasch verblüht, um Früchte zu tragen.
Es geht um Macht, ökonomisch, politisch, militärisch, und wo immer es um Macht geht, da sind der US-Imperialismus und seine – nur zuweilen etwas „zu zögerlich“ agierenden – Vasallen in Europa nicht weit. Vom Frieden ist die Region weiter als je entfernt, und sogar die vor Jahresfrist in dieser Zeitschrift als „geradezu größenwahnsinnig“ bezeichnete Vision, der „Islamische Staat“ (IS) werde „im Extremfall“ von Nigeria bis Indonesien reichen (vgl. meinen Beitrag im Heft 27), ist ihrer Realisierung ein Stück näher gerückt. Nunmehr bezeichnet sich die vor allem in Nigeria agierende Terrorgruppe Boko Haram als „Islamischer Staat Westafrika“, und ihr Anführer Shekau hat verkündet, seine Kämpfer hätten dem Chef des IS, Abubakar al Baghdadi, die Treue geschworen.
Die innerislamischen Auseinandersetzungen erinnern in fataler Weise an den ersten großen europäischen, den Dreißigjährigen Krieg. Auch dort ging es vordergründig um den Kampf zwischen protestantischer Union und katholischer Liga, der auf dem Boden des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ ausgetragen wurde, an dem aber auch Schweden und Dänen, Franzosen und Spanier sowie Niederländer mit jeweils sehr unterschiedlichen Interessenlagen beteiligt waren, und zwar durchaus nicht immer in Übereinstimmung mit der in dem jeweiligen Land herrschenden Religion. Das Beispiel des damals erzkatholischen Frankreichs, das das protestantische Schweden unterstützte, weil es auf diese Weise seinen Machtanspruch gegenüber dem Rivalen Deutschland durchsetzen wollte, zeigt dies besonders deutlich. Keine der sich bekämpfenden Seiten führte einen „gerechten“ Krieg. Daher konnte es, rückblickend betrachtet, auch in diesen „innerchristlichen“ Auseinandersetzungen nicht darum gehen, für irgendeine Seite Partei zu ergreifen, denn dies hätte nur bedeutet, die Pest der Cholera vorzuziehen (oder umgekehrt).
Die Tatsache, dass der „Kreuzzug gegen den Terrorismus“ und der „heilige Krieg“ (Djihad) gleichermaßen im religiösen Gewand geführt werden, verbirgt trefflich, dass hinter ihnen Machtinteressen stehen, also Klasseninteressen. Jedoch, ein Klassenkampf oder ein gerechter Krieg im Sinne traditionell-marxistischer Analyse findet nicht statt, denn die kriegführenden Seiten repräsentieren gleichermaßen reaktionär gewordene Klassen und Schichten. Auch dies spricht gegen jede Parteinahme. Allerdings bleibt – gegenüber dem nach dem Ende des kalten Krieges wieder modern gewordenen Führen von „gerechten“ Kriegen (präziser: Angriffskriegen), gegenüber dem Gerede von der Notwendigkeit „humanitärer Intervention“ in Staaten, wo der Terror in besonderem Maße wütet, und gegenüber „humanitären“ Militäreinsätzen – mit Karl Liebknecht festzuhalten: Der Hauptfeind steht im eigenen Land. In erster Linie müssen die Regierenden im eigenen Land daran gehindert werden, an diesen barbarischen Auseinandersetzungen teilzunehmen.
Die Rede vom Hauptfeind ist aber keineswegs nur auf die Regierenden zu beziehen, sondern ebenso auf die, die sich so regieren lassen. Einen hochinteressanten Diskussionsbeitrag zu diesem Thema hat der französische Schriftsteller Michel Houellebecq mit seinem Roman „Die Unterwerfung“ (Soumission) geliefert, in dem sich das Gros der französischen Intellektuellen den an die Macht gelangten Islamisten unterwirft und zum islamischen Glauben konvertiert, um auf diese Weise in Amt und Würden und bei Kasse zu bleiben.
Auch wenn sie sehr erschrocken tun, für deutsche Intellektuelle sollte dies Szenario nicht so unbekannt sein, denn genauso haben sich viele ihrer Altvorderen 1933 verhalten, und zwar gegenüber den Nazis, die zuvor nur abfällig als „Mob“ bezeichnet wurden, der ja nie die Macht ergreifen könne und, wenn doch, ganz schnell „abwirtschaften“ werde. 1922 hatte Hugo Bettauer „Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen“ in Wien publiziert, drei Jahre später Arthur Landsberger den Roman „Berlin ohne Juden“ in Hannover; Bettauer wurde 1925 von österreichischen Nazis umgebracht, Landsberger verübte im Oktober 1933 Selbstmord. Aber ihre romanhaften Darstellungen – bei Bettauer sehen die Christen sogar ein, dass die Stadt ohne Juden wirtschaftlich nicht überleben kann, und holen sie zurück – waren geradezu harmlose Visionen, verglichen mit dem, was fünfzehn Jahre später über die Judenheit Europas hereinbrach.
So oder ähnlich könnte dereinst auch über Houellebecqs Roman geurteilt werden, dann nämlich, wenn die Völker Europas ihre traditionell islamfeindliche Haltung nicht aufgeben, sich weiterhin gegenüber dem Flüchtlingsstrom abschotten und denen, die die Kriege im Süden weiter forcieren, nicht das Handwerk legen. Dann wird das reiche Europa, die „Festung Europa“, zu Recht von Süden her überrannt werden, und es wird ihm so ergehen wie einst dem antiken Rom, das von den anrückenden „Barbaren“ in einen Steinbruch verwandelt worden ist. Und ob Europa nach einem solchen Zusammenbruch dieselbe Chance erhielte wie Rom, das, viele Jahrhunderte nach seinem Untergang, phönixgleich aus der Asche stieg und zu Zeiten der Renaissance (zu Deutsch: Wiedergeburt) in neuem Glanz erstrahlte, diese hypothetische Frage vermag niemand zu beantworten. Zu hoffen bleibt aber, dass die Völker Europas ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen und gemeinsam mit den Völkern des Südens die anstehenden Probleme lösen werden.
In der Reihe Marxist Pocket Books des Laika-Verlags Hamburg ist als Band 6 eine von Thomas Kuczynski kommentierte Ausgabe von Karl Marx: Lohn, Preis und Profit erschienen (Preis 9,90 Euro).