Washington im Wirtschaftskrieg
Am 20. Dezember 2019 unterzeichnete US-Präsident Donald Trump den „National Defense Authorization Act“. Das Militärbudget für 2020 wird dort mit 738 Mrd. US-Dollar veranschlagt. Darin enthalten ist auch das „Gesetz zum Schutz der europäischen Energiesicherheit“, mit dem Sanktionen gegen den Bau von Nord Stream 2 in Kraft traten. Dies ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen macht die Selbstverständlichkeit Angst, mit der ein russisch-deutsches Energieprojekt im US-amerikanischen Militäretat abgehandelt wird. Und zum anderen verblüfft selbst geübte US-Kritiker der imperialistische Duktus und die Frechheit, in Washington ein Gesetz zum „Schutz der europäischen Energiesicherheit“ zu beschließen.
Das Repräsentantenhaus hatte dem Gesetzespaket mit 377 gegen 48 Stimmen zugestimmt, im Senat waren die Mehrheitsverhältnisse ähnlich. Nord Stream 2 ist eine auf 1220 Kilometer Länge ausgelegte Pipeline, die – neben der bereits seit 2011 bestehenden Nord Stream – sibirisches Gas in deutsche Industrieanlagen und Haushalte pumpen soll. Der mehrheitlich in Staatbesitz (50 Prozent und eine Aktie) befindliche russische Konzern Gazprom, der größte des Landes, ist Projektbetreiber; neben ihm sind Energieriesen aus Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich und Österreich finanziell am 10 Milliarden-US-Dollar-Unternehmen beteiligt. In zwei Rohrsträngen, die zwischen dem russischen Städtchen Ust-Luga und dem nahe Peenemünde gelegenen Lubin die Ostsee queren, sollten ursprünglich Anfang 2020 jährlich 55 Milliarden Kubikmeter Gas geliefert werden. Die US-Sanktionen zielen darauf ab, das ganze Projekt, das kurz vor der Fertigstellun g ist, zu torpedieren.
Drohbrief im Mafia-Stil
Die US-Sanktionspolitik folgt immer demselben Muster. Nach der Ortung des Feindes, in diesem Fall Deutschland und Russland bzw. die energetische Zusammenarbeit der beiden, werden exterritoriale Sanktionen erlassen, die alle Staaten, Firmen und Personen betreffen, die US-Interessen im Wege stehen. Konkret bedeutet dies im Fall des Angriffs auf Nord Stream 2, dass Konten gesperrt, Besitztitel eingezogen, Vermögen enteignet und Einreiseverbote erlassen werden. Die Strafmaßnahmen haben Unternehmen im Visier, die sich – wie es im Gesetzestext heißt – an Verlegearbeiten von Rohren in einer Tiefe von 30 Metern in der Ostsee beteiligen. Das zielt auf die Schweizer Spezialfirma „Allseas“, die zurzeit als einzige vor Ort in der Lage ist, diese Aufgabe zu bewältigen. In flachen Gewässern steht auch ein russischer Rohrverleger im Einsatz, den diese Sanktionen – vorerst – nicht betreffen.
Die letzten 160 Kilometer der weitgehend fertiggestellten Pipeline harren ihrer Fertigstellung. Zwar gibt es auch ein russisches Spezialschiff, das die Tiefsee-Verlegung machen könnte. Dieses muss dafür allerdings erst umgebaut und vom pazifischen Wladiwostok in die Ostsee geschleppt werden. Weil die „Akademik Tscherski“, so der Name des Verlegerschiffes, sich im Eigentum von Gazprom befindet, könnte jedoch der ganze Konzern unter die US-Sanktionen fallen – was bisher nicht der Fall ist. Wer nun denkt, es wäre vielleicht möglich, ein anderes Spezialschiff zu leasen oder zu kaufen, wird durch das Sanktionsgesetz eines schlechteres belehrt. Auch all jene Personen und Unternehmen, die sich an einem solchen Geschäft beteiligen würden, hätten US-Strafmaßnahmen zu gewärtigen.
Die Schweizer Gesellschaft „Allseas“ hat bereits am Tag nach der Unterzeichnung des Sanktionsgesetzes sämtliche Arbeiten eingestellt und die Ostsee verlassen, obwohl theoretisch eine Frist von 30 Tagen dafür eingeräumt worden war. Das hektische Ende der Verlegerarbeiten hat mit einem wahrhaftigen Drohbrief an den Geschäftsführer von „Allseas“ zu tun, den die beiden US-Senatoren Ted Cruz und Ron Johnson am 18. Dezember 2019 an den Chef des Schweizer Unternehmes, Edward Heerema, geschrieben haben. Darin heißt es unumwunden: „Wir verstehen, dass Russland Allseas eine gute Stange Geld bezahlt, um die Arbeiten an Nord Stream 2 fertigzustellen. Die Konsequenzen würden ihr Unternehmen allerdings zermalmen und hätten tödliche rechtliche und wirtschaftliche Folgen, wenn Sie auch nur einen Tag weiterarbeiten würden.“
Um zu verstehen, was genau damit gemeint ist, listen die beiden Senatoren alle Schiffe auf, die im Eigentum von „Allseas“ stehen und weisen darauf hin, dass im Falle des Bruchs der Sanktionen „ihre Schiffe unter US-Rechtsprechung fallen und zu eingefrorenem Vermögen würden.“ Der Abschluss des Briefes liest sich dann wie eine üblicherweise mündlich vorgetragenen Drohung im kriminellen Milieu: „Sie haben die Wahl: Hören Sie JETZT auf und verlassen Sie die Arbeit an der Pipeline unfertig […] oder machen Sie den törichten Versuch, die Pipeline fertigzustellen und riskieren für ihr Unternehmen, dass es für immer vorbei mit dem Geschäft ist.“ Der Brief vom 18. Dezember trägt den Briefkopf des „United States Senate“ und ging in Kopien an die US-Außen-, Finanz- und Energieminister Pompeo, Mnuchin und Brouillette. Bleibt noch anzumerken, dass Senator Ted Cruz, der Verfasser des Drohbriefes und des Sanktionsgesetzes, einer der bestbez ahlen Lobbyisten für US-amerikanische Öl- und Gaskonzerne ist. Sein Sicherheitsberater Daniel Vajdich, wurde vom ukrainischen Gasriesen Naftogaz mit der Aufgabe betraut, die Lobbyarbeit gegen Nord Stream 2 zu orchstrieren.
Schon vor den US-Sanktionen hatten Dänemark und die EU-Kommission, beide mutmaßlich auf Zuruf Washingtons, der neuen Ostsee-Pipeline Steine in den Weg gelegt. Dass sich Trump so lange Zeit lassen konnte, um mit dem Sanktionsgeschütz aufzufahren, ist der dänischen Regierung zu verdanken. Die hatte nämlich über ein halbes Jahr die Erteilung einer Baugenehmigung in dänischen Gewässern verzögert, sodass es erst Ende Oktober 2019 – im dritten Prüfungsverfahren – eine Freigabe für die Routenführung südöstlich der Insel Bornholm gab. Brüssel wiederum glaubte, dem bereits seit langem geäußerten Unmut der USA mit einer eigenen Richtlinie den Wind aus den Segeln nehmen zu können. Am 23. Mai 2019 beschloss die Kommission, dass EU-Regeln auch auf Länder angewendet werden können, die nicht EU-Mitglieder sind. Für den russischen Energieriesen bedeutet dies, dass er nicht zugleich Gasproduzent und Betreiber der Pipeline sein darf. Diese zur Zerschlagung staatlicher Energie- und Verkehrsunternehmen EU-weit durchgesetzte Regel soll auch für Nord Stream 2 gelten. Gazprom wird damit gezwungen, seine Leitung auch anderen Gaslieferanten zur Verfügung zu stellen. Das Unternehmen führt diesbezüglich einen Rechtsstreit mit der Europäischen Union und hält in der Hinterhand einen Verkauf der Eigentümerrechte an Rosneft, einer mehrheitlich in Staatsbesitz befindlichen russischen Aktiengesellschaft, bereit.
Wie es nun technisch weitergeht, mag niemand konkret voraussagen. Russische Stellen sprechen davon, Ende 2020 die verbliebenen 160 Kilometer verrohrt haben zu können. „Ich hoffe, dass die Arbeit bis Ende des laufenden Jahres oder im ersten Quartal des kommenden Jahres abgeschlossen wird“, erklärte Wladimir Putin anlässlich des Besuches von Angela Merkel im Januar 2020. Er könnte sich irren, denn es spricht einiges dafür, dass der US-Kongress weitere Sanktionsverschärfungen plant. In einem nächsten Schritt wäre es möglich, auch den europäischen Partnern von Gazprom mit einem Wirtschaftskrieg zu drohen. Würden bei einer solchen Ausweitung die Energieriesen Uniper und Wintershall (Deutschland), Engie (Frankreich), Shell (Niederlande-Großbritannien) und OMV (Österreich) klein beigeben und das Projekt im Ostseesand versinken lassen? Oder anders gefragt: Welche Möglichkeiten von Gegenmaßnahmen haben sie, um die Sabotage an Nord Stream 2 zu konterkarieren? Um der Beantwortung solcher Fragen näher zu kommen, bedarf es einer Analyse der Hintergründe, die Washington zu solch drastischen Handlungen treibt.
Ökonomische Konkurrenz oder geopolitische Vorherrschaft
Die ökonomische Rationalität hinter dem US-Wirtschaftskrieg liegt auf der Hand. Seit Jahren versuchen die USA, ihre Position auf den Gasmärkten der Welt auszubauen. Die mit viel Aufwand betriebene Förderung von Schiefergas soll sich dereinst bezahlt machen. Die technischen Möglichkeiten der Verflüssigung erlauben eine weltweite Verschiffung. Seit Mai 2016 liefern US-Firmen Flüssiggas nach Europa und wollen damit – peu à peu – Gazprom vom Markt drängen. Rechnen tut sich die Sache zurzeit nicht, sind doch die Energiepreise im Keller. Also braucht es politische Hilfe mittels simpler Erpressung der möglichen Abnehmer, Gas künftig aus den USA zu kaufen. BRD-Wirtschaftsminister Peter Altmaier will für Fracking-Flüssiggas den Bau von Terminals in Deutschland ermöglichen. Noch steht allerdings kein entsprechender Hafen bereit. Anders in Polen, den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Spanien, Portugal, Italien und Malta, wo bereits die LNG-Monster anla nden. „Kauft Gas aus den USA“, lautet die Devise.
Nachdem ein unmittelbares Konkurrenzprojekt zu den Gazprom-Leitungen, die EU-Nabucco-Röhre aus Aserbaidschan, 2013 phänomenal gescheitert ist, rüsten nun Israel und Zypern auf, um Gas aus dem Mittelmeer nach Europa zu pumpen. Die „Eastmed“ soll das Gasfeld Leviathan, das im Meer vor der israelischen Küste liegt, mit einem vor Zypern gelegenen Feld verbinden und Gas über Griechenland und Italien nach Europa bringen. Der dafür notwendige zwischenstaatliche Vertrag wurde im März 2019 in Anwesenheit von US-Außenminister Pompeo unterzeichnet. Ankara hat gegen die 1900 Kilometer lange Röhre bereits Protest erhoben, weil es selbst Anspruch auf einen Teil der Gasvorkommen erhebt. Diesmal packt Brüssel die Sanktionskeule aus und will der Türkei Bohrungen rund um Zypern verbieten. Die EU anerkennt Nordzypern nicht als Staat. Anfang 2020 wurden die Vermögen von zwei türkischen Projektbetreibern in der EU eingefroren und deren Repräsentanten d ie Einreise verboten.
Womit wir bei der geopolitischen Dimension von Nord Stream 2 angelangt wären. Heftig gegen dieses Projekt ausgesprochen haben sich von Anfang an die Ukraine, Polen und die baltischen Staaten. Kiew fürchtet Einbußen im Gastransitgeschäft. Politik und Ökonomie gehen in diesem Fall Hand in Hand. Tatsächlich hat Moskau Ende Dezember 2019 den damals auslaufenden Liefervertrag durch einen für Kiew wesentlich schlechteren ersetzt. Statt einem jährlichen Volumen von ca. 90 Milliarden Kubikmetern werden ab 2021 nur mehr 40 bis 50 Milliarden Kubikmeter russisches Gas ins ukrainische Netz eingespeist. Für den Verbrauch vor Ort reicht das völlig aus, die Transitmenge schrumpft allerdings heftig, und damit das Geschäft mit russischem Gas. Nord Stream und das ebenfalls mit russischem Gas betriebene Turkstream stehen als Alternative bereit.
„Nord Stream 2 ist kein wirtschaftliches, sondern ein geopolitisches Projekt“, bringt der ehemalige US-Botschafter in Kiew und Direktor der „National Defense University“, John Herbst, die amerikanische Position in einer hochkarätig besetzten Diskussion im Atlantic Council auf den Punkt. Washington betrachtet den internationalen Gasmarkt mit den Augen eines militärischen Hegemon und fühlt sich berechtigt, für seine Kontrolle wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen und notfalls militärische Aktionen durchzuführen. Moskau wiederum geht nüchtern an die Auseinandersetzung heran. „Das Ziel (der Sanktionen, d.A.) ist natürlich nicht die Sorge um die europäische Energiesicherheit“, so Außenminister Lawrow, „sondern das Durchboxen von amerikanischem Flüssiggas auf dem Markt Europa. Das ist ein schreiendes Beispiel für unlautere Konkurrenz und Politisierung des Energiebereichs.“ Scharfe Kritik am amerikanischen Vorgehen kommt auch von Gerh ard Schröder, der den Aktionärsausschuss der Nord Stream AG in der Schweiz präsidiert. „Die USA wollen bestimmen, mit wem wir Handel treiben dürfen und mit wem nicht. Das dürfen wir nicht akzeptieren. Wir sind nicht der 51. Bundesstaat der USA“, so der Altkanzler.
Mittlerweile setzt Gazprom auf Diversifizierung. Von der russischen Schwarzmeerküste in Anapa wird seit 8. Januar 2020 Gas nach Lüleburgaz in den europäischen Teil der Türkei geleitet. Die Eröffnung nahmen die Präsidenten Russland, der Türkei und Serbiens vor. Belgrad gilt als einer der Abnehmer. Damit hat Gazprom Bulgarien und die EU düpiert, die 2014 das Projekt South Stream mit ihren Entflechtungsvorschriften boykottiert hatten. Wenn sich Bulgarien demnächst dennoch an die Türkstream anschließen sollte, werden EU-Zwischenrufe überhört werden können.
Die US-Sanktionspolitik gegen Gazprom stößt in deutschen Landen auf sehr unterschiedliche Reaktionen. Anfeuernde Rufe, wie man sie aus anti-deutschen Kreisen erwarten könnte, sind nicht zu hören, auch deshalb, weil Wirtschaftspolitik dort kein Thema ist. SPD-Außenminister Heiko Maas meinte eher kleinlaut, dass europäische Politik in Europa entschieden werden solle, ohne konkrete Vorschläge zu machen, wie dies umzusetzen sei. Angela Merkel tönt ähnlich, aus der US-geschützten Deckung traut sie sich freilich auch nicht. Klaus Ernst von der Partei Die Linke wiederum betonte, dass Russland Gas zu „einem einigermaßen anständigen Preis zuverlässig und vor allem in ausreichender Menge“ liefern würde. Und die Grünen fordern, die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu beenden, meinen damit aber vor allem das russische Gas.
Hannes Hofbauer ist Redaktionsmitglied von Lunapark 21. Von ihm erschien zum Thema: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung (Promedia Verlag).