quartalslüge IV/MMXIX

„Der Anstieg des Ölpreises nach dem Anschlag in Saudi Arabien gefährdet die Weltwirtschaft. Die Attacke stellte einen Angriff auf die Weltenergieversorgung dar.“

Der Anschlag auf zwei zentrale Ölverarbeitungsanlagen des saudischen Ölförderers Saudi Aramco am 14. September 2019 hat angeblich einen „Ölpreis-Schock“ ausgelöst. So, im Wortlaut identisch, die beiden Tageszeitungen „Die Welt“ und das „Handelsblatt“. Die „Börsen-Zeitung“ schlagzeilte: „Ölmarkt im Schockzustand“.

Dass das saudische Regime in Riad davon sprach, der Schlag habe „der Weltenergieversorgung“ gegolten, kann man nachvollziehen. Doch auch für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ geht es um das ganz Große. Dort hieß es auf Seite 1 in einem Leitartikel: „Wenn man der Weltwirtschaft, die ohnehin in einer labilen Verfassung ist, einen harten Schlag versetzen wollte, dann haben die Urheber des Angriffs auf die wichtigsten Ölanlagen in Saudi Arabien dieses Ziel erreicht.“ Das bereits zitierte „Handelsblatt“ überschrieb einen Artikel zu diesem Thema sogar mit: „Weltwirtschaft in Gefahr“.

Super 1

Es handelt sich hier um eine Quartalslüge. Sie ist deswegen so wichtig und so gefährlich, weil mit ihr ein Krieg, der ein großer und grenzenloser werden kann, auf dem Umweg über die anscheinend „objektive Weltwirtschaft“ gerechtfertigt werden soll.

Halten wir zunächst fest: Nach dem Anschlag stieg der Ölpreis kurzzeitig von 60 auf 68 US-Dollar (je Barrel Rohöl von der Sorte „Brent Oil“). Das war ein Plus von 13 Prozent. Dieses Sprünglein nach oben war bereits nach wenigen Tagen abgeflacht und eingeebnet. Sodann ist bemerkenswert: Saudi Arabien spielt bei Ölversorgung des Westens eine eher kleine Rolle; für die EU ist das saudische Öl bedeutungslos. Die USA beziehen nur noch eine symbolische Menge Öl aus Saudi Arabien und sind – durch den Fracking-Boom – längst zum Energie-Exporteur geworden. Besonders krass ist der Fall Deutschland. Dieses Land bezog im Jahr 2017 (und ähnlich 2018) Rohölimporte in einer Gesamtmenge rund 91 Millionen Tonnen. Nur rund 1 Millionen Tonnen stammten dabei aus Saudi Arabien (= 1,1%). Deutschlands wichtigster Öllieferant ist Russland (Anteil 36%), gefolgt von Norwegen (11%), Großbritannien (9%), Kasachstan (9%) und – immer noch! – Libyen (7,6%). Selbst Nigeria (5,4%) und der Irak (5,2%) waren bislang jeweils gut viermal wichtiger als Saudi Arabien.

Nun könnte man argumentieren: Wenn der Westen nicht in größerem Maß vom saudischen Öl abhängig ist, dann dürfte die kurzzeitige deutliche Reduktion der saudischen Öllieferungen und der ebenfalls kurzzeitige Anstieg des Rohölpreises infolge des Anschlags aber doch für die Weltwirtschaft als Ganzes von erheblicher Bedeutung gewesen sein. Grundsätzlich trifft natürlich zu, dass Öl für die Weltwirtschaft nach wie vor den entscheidenden Schmierstoff darstellt. Und Öl aus der Region des Nahen und Mittleren Ostens ist beispielsweise für die asiatischen Volkswirtschaften deutlich wichtiger als für die europäischen. Dennoch gilt es auch hier, einige weitreichende Relativierungen zu beachten. Sie werden mit den beiden Grafiken illustriert.

Generell werden uns meist nur die nominellen Ölpreise genannt oder graphisch dargestellt. Die kleine Grafik zeigt diese klassische Darstellung für den Zeitraum 1975 bis 2019. Danach türmt sich ein Ölpreis-Gebirge fast systematisch auf. Es entsteht der Eindruck: Die aktuellen Rohölpreise der Jahre 2018 und 2019 würden nur wenig unter den vorausgegangenen Höchstständen liegen. Entscheidend sind jedoch die realen Ölpreise. Das sind die nominellen Ölpreise reduziert um die Inflation („inflationsbereinigte“ Rohölpreise). Die große Grafik zeigt die Entwicklung beider Kurven – die des nominellen Ölpreises (= dargestellt mit der unteren, schwarzen Kurve) und die des realen Ölpreises (= dargestellt in der Kurve, die in einem Grauton gehalten ist und die sich bis 2013 oberhalb der erstgenannten Kurve bewegt2). Diese große Grafik umfasst den Zeitraum 1861 bis 2019.

Danach gab es fast ein Jahrhundert lang (von 1880 bis 1972) einen historisch extrem niedrigen Rohölpreis. Das beflügelte natürlich u.a. die Bereiche Autoindustrie, Luftfahrt, Transport und Petrochemie. Der Rohölpreis stieg dann in zwei Schüben 1973-1975 und 1979-1982 auf ein sehr hohes Niveau, wie es ein solches allerdings bereits einmal im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gegeben hat.

Darauf folgte erneut eine Niedrigpreisphase von 1984 bis 2002, womit die Automotorisierung vor allem in den Schwellenländern und die Globalisierung mit ihren gigantischen Transporten angeschoben wurden. Danach setzte die Rohölpreiskurve zu einem neuen Höhenflug an mit Spitzen zunächst in der Krise 2008 und danach nochmals 2013/14. Doch seither liegt der Rohölpreis wieder wesentlich niedriger. Zeitweilig bewegte er sich auf einem sehr tiefen Niveau, wie es ein solches Mitte der 1980er Jahre gab. Das konnte vor allem durch die exzessive Fracking-Öl- und Gas-Förderung erreicht werden. Ein Resultat war der weltweite Boom der SUV-Schluckspechte.

Die jüngsten Zuckungen des Rohölpreises, zu denen es nach der Attacke der Huthi-Rebellen aus dem Jemen auf die saudischen Anlagen kam, sind – im größeren Kontext gesehen – schlicht irrelevant. Die Weltwirtschaft konnte nach der Krise 2007-2009 mit einem sehr hohen Rohölpreisniveau in einen neuen Boom starten. Sie konnte in den Jahren 2013/14 die Konjunktur fortsetzen und dabei Rohölpreise „aushalten“, die deutlich über 100 US-Dollar je Barrel lagen und die damit fast doppelt so hoch waren wie heute. Da kann der aktuelle Rohölpreis von 60 US-Dollar je Barrel, wenn er kurzzeitig auf maximal 70 US-Dollar ansteigt, kein „Schock“ sein und schon gar keine „Gefahr für die Weltwirtschaft“ darstellen.

Sollte der Ausfall des saudischen Öls eine Gefährdung für die Weltwirtschaft in ihrer aktuellen „labilen Lage“ darstellen, so müsste man doch nur die – völkerrechtswidrigen – US-Sanktionen gegen den Iran aufheben. Der Iran könnte mit entsprechenden Ölexporten sofort die entstandenen Lücken füllen. Das Mindeste sollte sein die Aufhebung der Sanktionen in dieser Situation von der US-Regierung zu fordern – statt den Kriegstreiberkurs der US-Regierung mitzuverfolgen.

Anmerkungen:

1 Alle Zitate, wenn nicht anders angegeben, in den Ausgaben vom 17. September 2019.

2 Alle nominellen Rohölpreise wurden umgerechnet auf das Preisniveau von 2014, weswegen ab 2014 beide Kurven weitgehend als eine Kurve dargestellt sind.

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