Venedig-Impressionen

Oder: Warum die Lagunenstadt auch heute noch Vorbild für eine autofreie Stadt ist

Die 30 Millionen Menschen, die alljährlich Venedig besuchen, dürften auch dann, wenn sie keinen ausgeprägten Kunstsachverstand haben, von der Lagunenstadt begeistert sein. Diese massenhaften „Besuche“ wiederum werden von den meisten der nur noch rund 50.000 Menschen, die in der Lagunenstadt, im „centro storico“, mit festem Wohnsitz leben, überwiegend als Heimsuchung empfunden, auch wenn deren Einkommen überwiegend vom Tourismus abhängt – was in Zeiten der Pandemie besonders schmerzhaft zu spüren war.

Inwiefern die Impressionen, die ich bei meinem sechstägigen Aufenthalt in der Lagunenstadt im Januar hatte, von den durchschnittlichen Touristinnen und Touristen vergleichbar empfunden werden, weiß ich nicht. Zumindest unbewusst dürfte es jedoch bei allen das Gefühl geben, dass diese Stadt etwas Besonderes ist. Dass es hier – trotz Tourismus-Flut, trotz Immobilienspekulation, trotz Privatisierungen und Kunst-Ausverkauf – in Ansätzen etwas gibt, das man als „echte Stadtqualität“ bezeichnen kann. Susanna Böhme-Kuby, die wir im eher ruhigen Viertel Dorsoduro besuchten, spricht zu Recht von der „Einzigartigkeit dieses relativ kleinen urbanen Konglomerats (von etwa 800 Hektar, ohne Laguneninseln)“, bei dem dank der besonderen Lage „mit differenzierten, einander ergänzenden Verkehrsebenen (Kanälen und Gehwegen) die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eben keine Gerade ist.“1

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Die Mutter aller Unfälle: Privatisierung

Das Eisenbahnunglück in Griechenland

Wenn ein europäischer Mensch in den 1970er Jahren den Wilden Westen pur erleben wollte, musste er nicht die lange USA-Reise antreten. Eine Bahnreise von Saloniki nach Athen hätte genügt.

Die Wiederentdeckung der Langsamkeit auf der eingleisigen Strecke, die fallweise steile Neigung zwischen den Gleisen, die stundenlangen Unterbrechungen der Fahrt sowie das mit Samt gepolsterte Interieur der Abteile schufen eine Atmosphäre, die an die Anfänge der US-Eisenbahn Mitte des 19. Jahrhunderts erinnerte. Nur die „Indianer“ fehlten, um das Klischee aus den einschlägigen Western zu vervollständigen. Dafür war aber die Gefahr einer Entgleisung oder des Zusammenstoßes mit einem entgegenfahrenden Zug nicht viel geringer als in dieser so weit zurückliegenden Zeit.

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Zugunglück in Burgrain – neue Erkenntnisse

Weiteres Indiz für die Verwahrlosung der Deutschen Bahn

Am 3. Juni 2022 gab es in Burgrain, in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen, Bayern, ein schweres Zugunglück. Ein gut besetzter Regionalexpress entgleiste, mehrere Waggons stürzten einen steilen Bahndamm hinunter. Fünf Menschen starben, 68 Fahrgäste erlitten teilweise schwere Verletzungen. Die Deutsche Bahn AG argumentiert seither, vieles spreche dafür, dass Betonschwellen, die im Unfallbereich „teilweise Unregelmäßigkeiten in der Materialbeschaffenheit“ aufgewiesen hätten und die wiederum aus einer größeren Charge stammten, mitursächlich für das Unglück gewesen seien.

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Immerath, RWE und das Sterben der Dörfer

Ein Rückblick auf Erlebnisse und Begegnungen am Tagebau

Als ich vor fünf Jahren am 
9. Januar während der Mittagspause den im Osten der Stadt Erkelenz gelegenen Ortsteil Immerath aufsuchte, drückte nach kaum mehr als einem Arbeitstag ein Bagger die Reste des zweiten Kirchturms ein.

Die mehreren Hundert Anwesenden in dem einst wunderschönen Ort werden die Bilder vom Abriss der alten Immerather Kirche im Januar 2018 sicherlich so wenig vergessen können wie ich. Mit vom Staub des in Rekordtempo zerstörten Kirchengebäudes bedeckten Schuhen fuhr ich zu meiner Arbeitsstelle zurück. Das Erlebnis sollte mich länger beschäftigen, als ich damals ahnte.

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Wir trauern um Winfried Wolf


04.03.1949 – 22.05.2023

Liebe Freundinnen und Freunde,

Unser Freund und Genosse Winfried Wolf ist gestern am  22.05.2023 in Berlin gestorben.
Die Zeit, die er nach seiner schweren Erkrankung im Frühjahr 2021 noch gewinnen wollte, um seine Projekte in verschiedenen Bewegungen und Bündnissen fortzuführen, war ihm in diesem Frühjahr nicht mehr gegeben.
Wir empfinden einen schweren Verlust, dessen ganze Bedeutung wir vermutlich noch gar nicht ermessen können.
Und wir sprechen seinen Angehörigen unser herzliches Beileid aus.

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Kapitalverkehr im Sozialismus?

Lucas Zeise zu Lust und Risiken des Kapitalverkehrs

Vorbemerkung der LP21-Redaktion: Ist China ein sozialistisches Land oder ist es ein kapitalistisches Land, das von einer kommunistischen Partei regiert wird? In der DKP gibt es seit Jahren, besser Jahrzehnten einen Streit um diese  Frage. Für die Praxis der Partei spielt sie keine unmittelbare Rolle. Aber sehr wohl betrifft er die Zielstellung der Partei, in deren gültigem Programm aus dem Jahr 2006 der Sozialismus als Ziel eindeutig festgehalten wird. Der Parteivorstand der DKP hatte im vergangenen Sommer dazu einen Antrag vorgelegt, der sich gegen antichinesische Propaganda und dagegen wendet, „die VR China als Reich des Bösen darzustellen“. Vom Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus ist dagegen nicht die Rede. Deshalb befürchten die orthodoxen Sozialismusanhänger in der Partei, dass das Ziel des Sozialismus auf dem Parteitag im März aufgeweicht und damit entsorgt werden soll.

    Einen dieser Orthodoxen, Lucas Zeise, hat es am letzten Tag des vergangenen Jahres erwischt. Zeise schreibt seit mehr als zehn Jahren in jeder Wochenendausgabe der Tageszeitung junge welt eine Kolumne unter dem Titel „Zu Lust und Risiken des Kapitalverkehrs“. In der Jahresschlussausgabe schließt er – wenig überraschend – aus der Tatsache, dass es einen hochentwickelten Kapitalmarkt in der VR China gibt, dass es sich in diesem Land um ein kapitalistisches (und keineswegs sozialistisches) Wirtschaftssystem handelt. Für die Chefredaktion der Jungen Welt war diese eher trivial anmutende Wahrheit offensichtlich Grund genug, sie aus dem Blatt zu nehmen. Sie kommt in diesem Jahr ohne diesen Altkolumnisten aus.

Im Folgenden der Text von Lucas Zeise, der den jW-Lesenden vorenthalten wurde.

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Sozialismus 3.0?

Zu Beiträgen von Michael Brie, Frank Deppe und Klaus Dörre

Seit einigen Jahren werden  Überlegungen zu einer etwaigen dritten Welle des Sozialismus angestellt.

2016 veröffentlichte Michael Brie einen knappen Text mit der Überschrift „Die dritte Welle des Sozialismus – eine Skizze“. Die erste datierte er zwischen 1789 und 1917: von der Französischen Revolution mit ihrem allgemeinen Freiheits- und Gleichheitsversprechen über die Konstituierung der Arbeiterbewegung bis zu deren Heranwachsen zu einem Machtfaktor noch in der Opposition. In der zweiten Phase ab 1917 errichteten die Kommunist:innen eine Herrschaftsform, die sie als Diktatur des Proletariats proklamierten, im kapitalistisch verbleibenden Teil der Welt traten Sozialdemokrat:innen in Regierungen ein und verfochten im politischen System die Interessen der Arbeiterklasse ebenso wie die Gewerkschaften in der Ökonomie mit zeitweise beträchtlichem Erfolg. Beide Modelle endeten: im Osten mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, im Westen durch den Sieg eines neuen Marktradikalismus („Neoliberalismus“).

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Grünes Wachstum oder blaues Wunder? Klimapolitik auf dem Prüfstand

Direkt vom Festival, noch mit dem Schlamm von Woodstock an den Hosen, kamen „Crosby, Stills and Nash“ 1969 im New Yorker TV-Studio bei Dick Cavett an, der sie in seine Talkshow eingeladen hatte. In der Sendung erklärte David Crosby, der einzige Weg, die Atmosphäre sauber zu kriegen, wäre, „GM, Ford, Chrysler, 76 Union*, Shell und Standard zu überzeugen, ihr Geschäft aufzugeben.“

Fünf Jahrzehnte später scheinen auch die Funktionäre in Industrie und Ministerien verstanden zu haben, dass der Ausstoß an Kohlenstoffdioxid drastisch reduziert werden muss, wenn der Planet sich nicht weiter aufheizen soll. Doch anders, als David Crosby meinte, brauchen Ford und Shell ihre Produktion deshalb nicht einzustellen, ebenso wenig VW, Mercedes und BASF.

Das versprechen zumindest McKinsey und Anton Hofreiter, aber auch renommierte Institute wie Agora Energiewende und das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Die Produktion müsse nur umweltfreundlich werden. „Grünes Wachstum“ sei der Weg, der nicht allein das Überleben der Menschheit, sondern weiterhin Profite und Beschäftigung garantiere.

Dass aber ein grüner Kapitalismus die Klimakatastrophe verhindern werde, bestreitet die Publizistin Ulrike Herrmann und legt in ihrem jüngsten Buch „Das Ende des Kapitalismus“ dar, warum Wirtschaftswachstum und Klimaschutz unvereinbar sind.

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Alarmstufe Rot

Kipppunkte, Krieg und die Letzte Generation

Allein 636 Lobbyisten für Öl und Gas nahmen im November vergangenen Jahres an der 27. Uno-Klimakonferenz im ägyptischen Scharm el-Scheich teil – mit „Erfolg“. Außer einer unverbindlichen Bekräftigung des 1,5-Grad-Ziels und vagen Zusagen für Almosen an die Opfer der Klimakatastrophe, brachte die Konferenz kein Umsteuern zuwege.

Weder der mit dem Sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC) ausgerufene Alarm, noch die Warnung des Uno-Generalsekretärs António Guterres, „Wir befinden uns auf dem Highway in die Klimahölle, – mit dem Fuß auf dem Gaspedal“, führte letztlich zu verbindlichen Resultaten. Das gastgebende, vom Westen unterstützte Militärregime tat zudem alles, um substantielle Ergebnisse zu verhindern. So wurde ein Vorschlag Indiens und 80 weiterer Länder zum Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen regelrecht sabotiert.

Deutschland bahnte erfolgreich Erdgaslieferungen aus Afrika an und auch in Katar, dem Gastgeber der nächsten Uno-Klimakonferenz, war man damit erfolgreich. Es scheint sich eine Allianz zwischen reichen Öl- und Gasförderstaaten und westlichen Industrieländern zu etablieren.

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Kriegsfolge Entwestlichung

Ein Blick über den transatlantischen Tellerrand

Die Welt bricht nicht östlich von Białystok und südlich von Ceuta ab; und auch jenseits von San Diego oder Tucson gibt es noch menschliche Gemeinschaften und gesellschaftliche Entwicklungen. Folgt man ausschließlich den Medien hierzulande, vermeint man sich allerdings in Zeiten zurückversetzt, als die Erde noch als Scheibe wahrgenommen wurde.

Dem herrschenden Weltbild entsprach die Kleinheit des gedanklichen Radius. Einzig vom Papst auserwählte Bischöfe waren berechtigt, die Wahrheit zu verbreiten. Damals diente ihnen die Kanzel als Ort der Verkündigung; die heutigen Hohepriester:innen führen statt Gott ebenso wenig verständliche Werte im Mund, um die Gläubigen bei der Stange zu halten. Die Engführung des aktuellen Meinungskorridors besorgt eine bunt aufgemachte Medienschar, die peinlich darauf achtet, dass nicht wahrgenommen wird, was östlich von Białystok oder südlich von Ceuta gedacht, diskutiert und publiziert wird.

Mitte Februar 2023 schnürt die EU-Kommission das 10. Sanktionspaket gegen Russland, wobei die Zählweise erst mit Februar 2022 beginnt, obwohl die Europäische Union sowie die USA bereits seit April 2014 eine Embargopolitik gegen russische Firmen betreiben. Der seitdem tobende beispiellose Wirtschaftskrieg soll die Russische Föderation in die Knie zwingen.

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