Sozialismus 3.0?

Zu Beiträgen von Michael Brie, Frank Deppe und Klaus Dörre

Seit einigen Jahren werden  Überlegungen zu einer etwaigen dritten Welle des Sozialismus angestellt.

2016 veröffentlichte Michael Brie einen knappen Text mit der Überschrift „Die dritte Welle des Sozialismus – eine Skizze“. Die erste datierte er zwischen 1789 und 1917: von der Französischen Revolution mit ihrem allgemeinen Freiheits- und Gleichheitsversprechen über die Konstituierung der Arbeiterbewegung bis zu deren Heranwachsen zu einem Machtfaktor noch in der Opposition. In der zweiten Phase ab 1917 errichteten die Kommunist:innen eine Herrschaftsform, die sie als Diktatur des Proletariats proklamierten, im kapitalistisch verbleibenden Teil der Welt traten Sozialdemokrat:innen in Regierungen ein und verfochten im politischen System die Interessen der Arbeiterklasse ebenso wie die Gewerkschaften in der Ökonomie mit zeitweise beträchtlichem Erfolg. Beide Modelle endeten: im Osten mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, im Westen durch den Sieg eines neuen Marktradikalismus („Neoliberalismus“).

Die dritte Welle des Sozialismus hat bei Michael Brie zwei Anfangsdaten – 1978: Beginn der Reformen Deng Xiaopings, 1991: Untergang der UdSSR. Mittlerweile sei aber auch der Kapitalismus an seine Grenze gelangt. Dies zeige sich in Krisen der Ökologie, der Demokratie und der internationalen Sicherheit. Jede dieser Gefahren habe Gegenbewegungen zur Folge. Aus dieser Konstellation schließt der Autor auf „Ansätze eines Sozialismus 3.0“ (S. 60)1. Dazu gehörten „Nischen in den heutigen kapitalistischen Gesellschaften“ (Ebd.), linke Regierungen Lateinamerikas mit Versuchen eines neuen Entwicklungsmodells und schließlich: „Wenn man über einen Sozialismus 3.0 spricht, wird man auch auf China blicken müssen“ (61). Hier sei es niemals zu Systemerstarrungen wie in der Sowjetunion gekommen. Dies sei eine „Voraussetzung für die neuen sozialistischen Ansätze in China seit 1978“ (Ebd.). Bekanntlich geht eine gegenteilige Auffassung, die etwa der  Ökonom Branko Milanovi ` c vertritt, davon aus, dass dieses Land stattdessen seitdem kapitalistisch geworden sei (siehe lunapark21, Heft 59/60. Herbst 2022. S. 62-64. und folgend der Beitrag von Lucas Zeise). Hier besteht Klärungsbedarf, unabhängig von der unbestreitbaren Tatsache, dass unter der Führung einer kommunistischen Partei eine Milliardenbevölkerung aus bitterster Armut befreit wurde. Geschah dies in einem sozialistischen oder einem mittlerweile in den Kapitalismus übergegangenen Land? Keine Antwort auf diese Frage muss endgültig sein. Offen bleibt, welche Möglichkeiten ein zeitweiliger Übergang Chinas in den Kapitalismus für eine spätere Transformation bietet oder ob das Scheitern von Gorbatschow alternativlos war.

Dies gehört auch zu den Themen des 2021 erschienen Buchs „Sozialismus“ von Frank Deppe. Wie Michael Brie benutzt er eine historische Dreigliederung. Der Terminus „Sozialismus“ bezeichnet bei ihm nicht eine vorab feststehende normative Setzung, sondern dieser gehöre – hier beruft er sich auf den Historiker Wolfgang Schieder – „in die Kategorie der ›zukunftsorientierten Bewegungsbegriffe‹“. Diesen sei es „eigentümlich, dass sie sich nicht definieren lassen: ›alle Begriffe, in denen sich ein ganzer historischer Prozess zusammenfasst, entziehen sich der Definition‹“ (26).

Im ersten Kapitel wird der „Weg zur Massenpartei der Arbeiterklasse“ dargestellt, das zweite trägt die Überschrift „Klasse, Partei, Staat – realer Sozialismus im 20. Jahrhundert“. Deppe stellt fest, dass das, was unmittelbar Beteiligten an den Bewegungen Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts als Aufbruch erschien – neue Arbeiterkämpfe, die Revolte der Intellektuellen – in Wahrheit zum „Ende des Großen Zyklus“ (207-242) seit 1917 gehört, worauf dann der „Katastrophenkapitalismus“ (298) deutlicher hervortrat – jetzt in einer „ökonomisch-ökologischen Zangenkrise“ mit politischen Verwerfungen (292-297). In sozialen Protesten und einer internationalen Intellektuellendiskussion über die Zukunft des Sozialismus sieht er Anzeichen für einen Neuanfang. Zu dessen Bedingungen gehöre die Auseinandersetzung mit dem Scheitern des Experiments der Jahrzehnte 1917-1991. Im 21. Jahrhundert müsse _ 84der Sozialismusbegriff deutlich erweitert werden“. Genannt werden antirassistische, feministische und ökosozialistische Positionen, „wobei solche Entwürfe oftmals die Bedeutung der sozialen und ökonomischen Transformationen unterschätzen“ (302). Zugleich „werden die Auseinandersetzungen um die konkrete Ausgestaltung des Verhältnisses von individuellen Freiheitsrechten und sozialen Grundrechten auf der einen und der Rolle des Staates bei der Bewältigung der gesellschaftlichen Entwicklungsprobleme und Krisen auf der anderen Seite eine zentrale Rolle bei den zukünftigen Auseinandersetzungen um den Sozialismus spielen“ (Ebd.) – nicht nur angesichts des Menschenrechtsimperialismus des so genannten kollektiven Westens, sondern auch beim Lernen aus der Geschichte der Sowjetgesellschaften.

„Die Utopie des Sozialismus“ – dieser Titel eines Buchs von Klaus Dörre (2021) liest sich wie die Umkehrung einer anderen Formulierung: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“. So überschrieb 1880 (französische Ausgabe) und 1882 (deutsch) Friedrich Engels eine seiner einflussreichsten Arbeiten. Auf ihn verweist die Widmung: „Anlässlich des 200. Geburtstags von Friedrich Engels und für die Aktiven in der Klimabewegung unserer Zeit“. Mit der Bekämpfung utopischen Denkens hatten die beiden Begründer des Historischen Materialismus einst begonnen. Dörre erklärt, „dass Sozialismus heute wieder zur Utopie werden muss, um politisch wirken zu können“ (39). Sozialismus ist für ihn ein Mittel zum Zweck der Nachhaltigkeit.

Ausgangssituation seiner Überlegungen ist die ökonomisch-ökologische „Zangenkrise“. Den Umriss ihrer Überwindung findet der Autor in den 17 Zielen für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) der Vereinten Nationen (97-116). Erreichbar seien sie nur auf der Basis einer neuen Eigentumsordnung. Für deren Bezeichnung erwog er zunächst „Postwachstumsgesellschaft“ oder „Neosozialismus“, schlägt aber dann einen anderen Begriff vor: „Nachhaltiger Sozialismus“ (29-31). Dessen Voraussetzungen seien „transformative Rechtsverhältnisse, die Nachhaltigkeitszielen einen Verfassungsrang geben; kollektives Selbsteigentum an und in großen Unternehmen; kooperative Marktwirtschaft mit kleineren Unternehmen; die Eckpfeiler von Wirtschaftsdemokratie; Produktionsweisen mit langlebigen Gütern; ein neues Verhältnis von Markt und Plan sowie Nachhaltigkeits- und Tranformationsräte als Innovationen im politischen System“ ( 117/118), flankiert durch „effektive Produktion, demokratische Planung, die Verinnerlichung einfacher Lebensweisen, eine Ästhetik der Nachhaltigkeit sowie die Verpflichtung zu einem neuen Multilateralismus von Staaten, der den Verzicht auf Gewaltanwendung und Krieg zum zentralen Inhalt hat.“ (288). Sie alle seien „Bausteine für das soziökonomische Fundament nachhaltig-sozialistischer Gesellschaften“ (118).

Im Nachwort zur zweiten Auflage, datiert  auf den 8. März 2022, reagiert Klaus Dörre auf den Ukraine-Krieg. Hier wendet er den von Edward P. Thompson entwickelten Exterminismus-Begriff vor allem auf Putin an, benutzt eine von Madeleine Albright geprägte Faschismus-Interpretation und treibt in Analogie zu Notstandsmaßnahmen während Krisenzeiten Überlegungen über einen Infrastruktursozialismus weiter. Darauf soll hier nicht näher eingegangen werden.

Anmerkung:

1 Brie, Michael: Die dritte Welle des Sozialismus – eine Skizze. In: Sozialismus 2016-12, S. 56-61. Jetzt auch: Ders., Sozialismus neu entdecken – siehe unten. Im Folgenden wird nach der Skizze von 2016 zitiert.

Michael Brie

Sozialismus neu 
entdecken

VSA-Verlag

Hamburg 2022

176 Seiten

14,00 Euro

Klaus Dörre

Die Utopie des Sozialismus – Kompass für eine Nachhaltigkeits-revolution

Verlag Matthes & Seitz

Berlin 2021

345 Seiten

24,00 Euro

Frank Deppe

Sozialismus

Geburt und Aufschwung – Wider-
sprüche und Niedergang – Perspektiven

Hamburg 2021

368 Seiten

29,80 Euro