Proletarier aller Länder, vereinzelt Euch?

Im Sommer 2016 erschien in der Zeitung »FaktenCheck Europa« ein Artikel unter obigem Titel, in dem ich der Bedeutung der Migrationsfrage für die nationalistische Mobilisierung in der Brexit-Kampagne nachging. Wenige Monate später gewann Donald Trump die US-Präsidentschaftswahl. Er folgte demselben Muster wie die Brexetiers. Inzwischen bestreitet kaum jemand mehr, dass der Brexit keines der Versprechen erfüllt hat, mit denen die »Take back control«-Kampagne angetreten war. Die rechte Mobilisierung war dennoch nachhaltig wirksam. Als die absehbaren Schäden eintraten, waren sie nicht mehr leicht rückgängig zu machen.

»Konkurriert um den letzten Arbeitsplatz! Zieht mit Eurem Arbeitgeber in die Schlacht um Marktanteile! Seht ein, dass ihr zu teuer seid!« Die Rede Donald Trumps vor beiden Häusern des US-Kongresses am 4. März 2025 enthielt nicht den Wortlaut dieser Aufforderungen, nur den Inhalt. Von Elon Musks Angriffen auf die Sozialleistungen und die Beschäftigten im öffentlichen Dienst bis zu den Zollerhöhungen, von den Ansprüchen auf fremdes Territorium bis zur offenen Erpressung der Ukraine lobte sich der US-Präsident für alles, was er bisher erreicht hat und noch erreichen will.

Neusortierung der Welt

Gern beschreiben Beobachter Donald Trump als narzisstisch. Aber das heißt nicht, dass nur er allein sich großartig findet. Sein Programm hat eine gesellschaftliche Basis: Unternehmenslenker, die bei der Neueinrichtung von Einflusssphären nicht zu kurz kommen wollen. Sie sortieren die Bestandteile ihres Kapitals, sie wollen mit der Politik die Welt umsortieren. Bei einigen Kommentatoren findet sich die Formulierung von einer »Defragmentierung« der Weltwirtschaft.

Leidgeprüften Nutzer:innen älterer Windows-Rechner ist das Wort noch vertraut. Das Betriebssystem des Marktführers neigte dazu, Teile von bearbeiteten Dateien irgendwo auf der Festplatte zu verteilen. Von Zeit zu Zeit musste man ein Defragmentierungstool laufen lassen, wollte man nicht ewig auf Antwort der Anwendungsprogramme warten. Die Weltwirtschaft weist nach Jahrzehnten der Globalisierung einen hohen Grad an Fragmentierung auf. Abhängig von der Lage der günstigsten Produktionsbedingungen ist die Herstellung alltäglich genutzter Waren auf viele Hundert Teilproduzenten in Dutzenden Ländern verteilt. Nach den Vorgaben ihrer Chefs kooperieren Menschen aus allen Ecken der Welt zum Zwecke größeren Profits. Doch die gewachsene weltpolitische Unsicherheit hat die bisherige Aufteilung der Produktion in Frage gestellt. Eine direktere Kontrolle soll her. Eine direktere Kontrolle der Produktionen und Vertriebswege. Eine direktere Kontrolle der Menschen: Trumps Dep ortationspläne wie die Ausweitung von Grenzkontrollen sollen dafür sorgen, dass niemand seinem Platz in der globalen Ungleichheit entflieht.

Manche wollen ihren Plätzen nicht entfliehen, denn manche Plätze sind komfortabel. Sie werden verteidigt. In der Finanzkrise 2008 gab es für die entscheidenden Akteure das Wort der Systemrelevanz – »too big to fail«. Heute stehen die Banken in der Wirtschaftsberichterstattung nicht im Zentrum. Wer der US-Finanzminister ist – Scott Bessent, etwa eine Milliarde Dollar schwer, lange Zeit Manager beim Investor George Soros – müssen auch informierte Zeitgenossen erst einmal nachschlagen. Doch zur Unterstützung Trumps treten nicht nur IT-Milliardäre an, sondern auch Jamie Dimon, Chef von JPMorgan Chase, der größten US-Bank. Frühere geschäftliche Kontroversen mit Elon Musk erklärte er jüngst für beendet und die Zollerhöhungen Trumps für kein Problem – wenn nur der Rest der Welt sie endlich widerstandslos akzeptieren würde. Aber im US-Inflationsdruck und in den geopolitischen Spannungen sieht selbst Dimon einen Grund zur Besor gnis. Er warnte seine Aktionäre schon einmal vorsorglich. Über den Beitrag der Wall Street zu diesen Risiken, etwa über ihre Unterstützung eines ebenso kapitalfreundlichen wie autoritären Präsidenten, hatte er nichts zu sagen.

Die Aktionäre hatten nicht gewarnt werden müssen. Seit April 2024 hatten die Märkte die Aussicht auf Trumps Präsidentschaft mit Kurssteigerungen begrüßt: Die angekündigte Fortsetzung der Steuergeschenke an die Reichen allein war Grund genug. Doch seit Anfang Dezember dümpeln der Dow Jones und der breitere S&P-500-Index vor sich hin. Mag Trump auch die republikanischen Institutionen der USA missachten, auf die Stimmung an den Kapitalmärkten muss er achten.

Der US-Präsident hat Bewunderer quer durch die US-Gesellschaft, solange er Erfolg hat. Auch international ist er mit seinen Ambitionen nicht allein. Wie weiland der Papst 1493 würden Trump und Putin als große Männer gern die Welt aufteilen. Die Frage ist, ob sie es können. Die Antwort liegt auf der Hand: Sie können es nicht. Es fehlt ihnen die politische, die wirtschaftliche und auch die militärische Macht. Das heißt nicht, dass die derzeitigen Regierungen der USA und Russlands nicht riesiges Leid hervorrufen können. Für ihre Ziele reicht ihre Macht nicht, für ungeheure Zerstörungen leider schon. Die Hoffnung nicht nur der Regierung in Washington ist, dass sich andere Staaten billig erpressen lassen.

Erfolge und Niederlagen

Tatsächlich steckt selbst in den Erfolgen dieser Politik ihr Scheitern. Welche Ziele auch immer die US-Regierung mit der Erpressung der Ukraine, mit der Einführung von Strafzöllen für Mexiko, Kanada und China erreichen wollte, eines seiner langfristigen Ziele hat Donald Trump immerhin erreicht: Die Aufrüstung der europäischen Nato-Staaten ist beschlossen. Der britische Premier koordiniert die Lieferungen an die Ukraine. Die EU-Kommission will die Maastricht-Beschränkungen zugunsten nationaler Rüstungspläne aufheben, mit denen etwa 650 Milliarden Euro mobilisiert werden sollen. Zusätzlich will die Kommission ein koordiniertes Beschaffungsprogramm von 150 Milliarden Euro auflegen. In Deutschland haben sich Union und SPD zusammengefunden, um eine massive Aufrüstung von den Auflagen der Schuldenbremse auszunehmen. Trump hatte Erfolg. Nur ist die Aufrüstung der europäischen Nato-Staaten heute kein Beitrag zur transatlantischen Allianz, sondern Ausdru ck tiefen Misstrauens gegenüber der ehemaligen Führungsmacht der freien Welt.

Dies sind die Konflikte, die konkurrierende Eliten untereinander führen. Gibt es auch andere? Obwohl die Mehrheiten in den meisten Ländern klar gegen Kriege eingestellt sind, hat dies keine Konsequenzen. Kriege werden von den Herrschenden begonnen. Und solange man die Herrschenden am Herrschen nicht hindert, werden die Kriege auch nach ihren Maßgaben beendet werden. Wie sollte auch ein Krieg verhindert werden von Bevölkerungen, die schon in den alltäglichen Auseinandersetzungen um ein bescheidenes Auskommen regelmäßig und seit Jahrzehnten den Kürzeren ziehen, unorganisiert und ohne Vorstellungen über eine freundlichere gemeinsame Zukunft.

Voraussetzung der heutigen internationalen Politik sind die Niederlagen der Arbeiterbewegungen in den Industrieländern in Ost und West und der antikolonialen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Organisationen, welche die Interessen der arbeitenden Klassen in einzelnen Ländern selbständig zu formulieren versuchen, erreichen nur selten nationale, in keinem Falle internationale Bedeutung. Der Klassengegensatz ist damit von der Oberfläche der Weltpolitik abgetreten. Nicht die Sehnsucht nach besseren alten Zeiten mit ihren schön kolorierten Feindbildern wird ihn wieder auf die weltweite Tagesordnung setzen, sondern der Kampf um Frieden hier und in fernen Ländern, um Gesundheit und sauberes Wasser, um lichte Wohnungen und kluge Schulbücher, um freie Arbeit und freie Zeit.