Oder: Degrowth wider Willen
Erscheint in: Lunapark21, Nummer 66 (Herbst 2025)
Sechs Jahre Stagnation – das ist das Resümee des Statistischen Bundesamtes, das Ende August seine Neuberechnung des realen Bruttoinlandsproduktes (BIP) für die letzten Jahre vorlegte. Gemessen am BIP liegt die »deutsche Wirtschaftsleistung« etwa auf dem Niveau des Jahres 2019. Insgesamt hielten sich Wachstumsphasen und Rückgänge in etwa die Waage. Degrowth, das große Ziel einer engagierten Bewegung – die deutsche Wirtschaft hat es wider Willen hingekriegt. Das heißt nicht, dass die wirtschaftliche Lage genauso ist wie vor sechs Jahren.
2019 lag die offizielle Arbeitslosigkeit bei knapp 2,3 Millionen. Für den August 2025 meldet die Arbeitsagentur, dass die drei Millionen überschritten wurden. Die Stütze der aktuellen Konjunktur ist die Inlandsnachfrage, während der Außenhandel bremst. Es hat sich viel geändert. Eine realistische Sicht der aktuellen Lage liefert noch keine Prognose, aber Hinweise auf Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. An einer Stelle hat sich viel geändert, nur nicht zum Besseren. Das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung hat in seinem letzten Gesundheitscheck für die Erde gerade noch zwei unter den neun planetaren Grenzen ausmachen können, die im grünen Bereich sind, die Luftverschmutzung und der Zustand der Ozonschicht. Im Bereich der Landnutzung, der Wasserkreisläufe und der Versauerung der Ozeane werden steigende Risiken ausgemacht. Und in Sachen Klimawandel, Biodiversität, der natürlichen Nährstoffkreisläufe und der Vermüllung der Erde stünde die ökologische Ampel auf Rot, wenn es eine solche Ampel gäbe. Da es sie aber nicht gibt, kann die Regierungskoalition über eine mögliche Verschiebung des Ziels der Klimaneutralität auf das Jahr 2050 diskutieren und in der EU gegen das Verbrenneraus intrigieren. Eines ihrer Argumente verfängt bei vielen Leuten, dass das kleine Deutschland doch nicht das Weltklima retten könne.
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Wenn die Bundesrepublik auch nur im Maße des deutschen Anteils an der Erzeugung der Probleme Verantwortung übernehmen würde, dann wäre schon viel gewonnen. Ein entsprechender Druck auf die Eliten ist nicht in Sicht, denn die Erfolge der Umweltpolitik hierzulande basierten nicht nur auf realen Verbesserungen, sondern ebenso auf einem umfangreichen Outsourcing schmutziger Produktionen in andere Weltteile.
Damit ist ein großer Teil der Erfahrung von Umweltverschmutzung aus dem Alltagsleben verschwunden. Der dreckige Schornstein, der nur auf dem Bildschirm zu sehen ist, stinkt nicht. Auch die Folgen der industriellen Landwirtschaft hierzulande finden für die meisten Städter auf einem anderen Stern statt. Viele Entscheidungen fallen ohne Rücksicht auf die langfristigen Folgen: Wahlperioden, die Orientierung an Börsenkursen und Jahresabschlüssen trainieren auf kurzfristige Performance. Dabei weiß jede:r, dass Menschen sich alltäglich über weit entfernte Ereignisse Gedanken machen: die Gesundheit, den Rentenanspruch, die Finanzierung von Wohneigentum und auch die Zukunftsfrage überhaupt, Kinder und was aus ihnen vielleicht einmal wird.
Es geht nicht um den Zeithorizont an sich. Es geht darum, was man beeinflussen kann. Und als Einzelne können die meisten über nicht viel mehr entscheiden als ihr Privatleben. Wirtschaftlich sind sie etwa so einflussreich, wie ihr Vermögen groß und ihr Einkommen sicher ist. Ein Blick auf die Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung in Deutschland seit 2005 zeigt, wie unsicher die soziale Lage auch in einem kapitalistischen Industrieland mit Sozialstaat ist.
Anfang 2005 war die offizielle Arbeitslosenzahl mit der Einführung von Hartz IV und der Einbeziehung arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger nach oben gesprungen. Auf einige Jahre der guten Konjunktur folgte die Weltwirtschaftskrise, die nur zum Teil durch Ausweitung der Kurzarbeit gedämpft wurde. Vom Höhepunkt 2009 gingen dann die offizielle Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung zehn Jahre lang zurück. Ein großer Teil der Pandemiefolgen 2020/21 wurde durch eine massive Ausweitung der Kurzarbeit abgefangen. Doch die folgende Erholung brach im Sommer 2022 mit den Folgen des Ukrainekrieges ab. Die Folgen der Trumpschen Zollpolitik für die deutsche Exportindustrie sind in der Arbeitslosenstatistik noch nicht zu sehen. Hinter den konjunkturellen Schwankungen stehen langfristige Veränderungen. Die deutsche Wirtschaft gehörte 20 Jahre lang zu den Gewinnern der Globalisierung. Doch inzwischen sind chinesische Unternehmen echte Konkurrenten.

2020 legte die Pandemie einige der Schwachstellen der weltweiten Liefernetze bloß. Euro und EU haben zwar die Weltwirtschaftskrise überlebt, aber die sozialen und wirtschaftlichen Folgen waren noch nicht bewältigt, als die neuen Krisen begannen. Die umweltpolitisch notwendige Umstellung der Energieversorgung zieht sich hin. Die schrittweise Einbeziehung der bisher ignorierten Kosten der Umweltzerstörung wird sich in den Erzeuger- und Verbraucherpreisen niederschlagen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein regionaler Konflikt. Aber es ist der erste konventionelle Krieg des 21. Jahrhunderts, in dem auf beiden Seiten militärisch vergleichbare Mächte seit fast vier Jahren miteinander kämpfen. Schon dieser Konflikt hat weltweite Folgen. Und die Bäume der Trumpschen Politik werden zwar nicht in den Himmel wachsen, tragen aber zur Zuspitzung der globalen Probleme bei. Die Weltwirtschaft wächst – und die Probleme wachsen mit.
In den siebziger Jahren erfanden deutsche Politiker und Journalisten das Schlagwort vom Nullwachstum. Das klang besser als Stagflation und Rezession. Es war kein Fremdwort und erinnerte mit dem ›Wachstum‹ an etwas Positives. Das wirtschaftliches Wachstum etwas Positives ist, wird nicht nur von Ökologen bestritten. Sie sehen im Wachstumszwang des Kapitals den Grund für die Gefährdung des Lebens auf der Erde.
Allerdings greift diese Kapitalismuskritik zu kurz. Denn auch wenn Akkumulation nach Marx entscheidend für die Entwicklung des Kapitalismus ist, so sind doch Wachstum und Akkumulation von Kapital nicht dasselbe. Bundesregierung und deutsche Unternehmen klagen über die Stagnation, die den deutschen Wohlstand schmälert. Tatsächlich sind viele Arbeitsplätze gefährdet und die Leute haben Angst. Nur gibt es auch Kapitalismus ohne Wachstum, wenn eine Bedingung erfüllt bleibt: dass das Kapitalverhältnis, die Scheidung zwischen Arbeitskraft und Arbeitsbedingungen erhalten bleibt. Marx gab sich große Mühe, die Geheimnisse der einfachen Reproduktion des Kapitals im ersten und zweiten Band seines großen Werkes zu entschlüsseln. Leider nahmen romantische Kritiker der Moderne und verbalradikale Klassenkämpfer diese auch buchhalterisch präzisen Überlegungen nie wirklich ernst. Auf der Suche nach einer Garantie für den Zusammenbruch des Systems haben sie diese Seiten überblättert oder entschlossen missverstanden. Aber diese »Scheidung zwischen Arbeitskraft und Arbeitsbedingungen« heißt, dass die Mehrheit weiterhin nicht über die Mittel verfügt, die Gesellschaft anders zu gestalten. Solange das gesichert ist, ist das System gerade nicht gefährdet.
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