Schlechte und lehrreiche Erfahrungen auf zentraler Ebene und in Kerala

Die autoritäre, hindunationalistische Regierung unter Premierminister Narendra Modi ordnete am 24. März einen extrem strengen Lockdown an. Dieser trat bereits vier Stunden nach der Ankündigung ohne Vorwarnung in Kraft. Dutzende Millionen Wanderarbeitskräfte saßen fest. Zwei Monate später, Ende Mai, hob die Regierung den Lockdown auf. Hat sich etwas verbessert? Ende März gab es erst 500 Corona-Infizierte und wenige Corona-Tote. Ende Mai sind es 150.000 Infizierte und 5500 Menschen, die am oder mit dem Corona-Virus starben. Ganz offensichtlich erlebt Indien ein Drama.

Die Pandemie trifft ein Land, in dem Hunderte Millionen von Menschen mittellos sind und in dicht bewohnten Stadtteilen mit schlechten sanitären Einrichtungen und schwacher öffentlicher Gesundheitsversorgung leben. Social distancing bedeutet für viele Menschen Hunger. Mehr als 80 Prozent der 470 Millionen Arbeitskräfte sind im informellen Sektor tätig: ohne Verträge und ungeschützt durch Arbeitsgesetze. Die Mehrheit von ihnen ist in der Landwirtschaft aktiv.

Da die Löhne ausbleiben, verließen schätzungsweise eine halbe Million Menschen die Städte, um zu Fuß nach Hause zu gehen, was die „größte Massenmigration der Nation seit der Unabhängigkeit“ auslöste, sagte Amitabh Behar, der Chef von Oxfam India. Der öffentliche Verkehr wurde weitgehend eingestellt. In Neu-Delhi wurden Suppenküchen eingerichtet. Die Menschen fürchten, dass nun statt dem Virus, sie der Hunger töten werde. Die Abriegelung der Wirtschaft traf die Menschen in ihrer Würde, da sie von einem Tag auf den andern auf existenzielle Unterstützung angewiesen sind.

Auch 5500 Corona-Tote (Stand: Anfang Juni) sind für ein Land mit 1,3 Milliarden Menschen keine hohen Zahlen. Völlig unklar ist allerdings die Dunkelziffer. Einiges spricht dafür, dass sich nach der Aufhebung des Lockdowns die Ausbreitung des Virus fortsetzen wird, mit allen katastrophalen Konsequenzen, vor allem für die arme Bevölkerung.

Das Gegenmodell Kerala

Bemerkenswerterweise hat es der Bundesstaat Kerala geschafft, mit einer breit abgestützten gesellschaftlichen Strategie die Ausbreitung der Pandemie wirksam zu stoppen. Die von der Communist Party of India (Marxist) angeführte Regierung des Bundesstaates reagierte frühzeitig proaktiv. Die Bemühungen umfassen umfangreiche Tests, die intensive Rückverfolgung der Kontakte, die Einführung einer längeren Quarantäne, den Bau von Tausenden von Unterkünften für Wanderarbeitskräfte, die durch die plötzliche landesweite Schließung des Verkehrs und der Wirtschaft gestrandet waren, und die Verteilung von Millionen gekochter Mahlzeiten an Bedürftige. Eine zentrale Rolle spielen 30.000 Gesundheitsarbeitskräfte, die die Menschen in Quarantäne betreuen und nicht nur ihren gesundheitlichen Zustand, sondern auch die Lebensumstände und die Ernährungssituation erheben.

Kerala meldete am 30. Januar als erster Bundesstaat in Indien einen Corona-Virus-Fall. Doch die in der Folge ergriffenen proaktiven Maßnahmen wie Früherkennung und breite soziale Unterstützungsmaßnahmen waren wirksam. Keralas Strategie war effektiv, weil sie frühzeitig griff, streng und zugleich human war. Ende Mai sind es nur 900 Infizierte und sieben Corona-Tote.

Dabei stand der Staat vor der potenziell katastrophalen Herausforderung, mit einer hohen Zahl auswärtiger Touristen umgehen zu müssen. Kerala mit seinen Küsten und touristischen Rückzugsorten empfängt jährlich mehr als eine Million ausländische Besucherinnen und Besucher. Ein Sechstel der 33 Millionen Bürgerinnen und Bürger sind Expatriates, und Hunderte der Studierenden sind an chinesischen Universitäten eingeschrieben. Die Kontrollen an den Flughäfen wurden verschärft, und Reisende aus neun Ländern – darunter Corona-Virus-Hotspots wie Iran und Südkorea – mussten ab dem 10. Februar zu Hause in Quarantäne gehen, zwei Wochen bevor Neu Dehli ähnliche Restriktionen einführte. Für Touristinnen und andere Ausländer wurden vorübergehende Quarantäneschutzräume eingerichtet.

Der Bundesstaat investierte stark in das öffentliche Bildungswesen und die allgemeine Gesundheitsversorgung. Es gibt 2000 gut funktionierende Krankenhäuser und Covid-19-Versorgungszentren in jedem Bezirk. Kerala hat die höchste Alphabetisierungsrate und führt Indiens Rangliste bei der niedrigsten Neugeborenensterblichkeit, den Geburtenimpfungen und der Verfügbarkeit von Spezialteams in Einrichtungen der Primärversorgung an. Die Erfahrungen in Kerala zeigen, dass die Pandemiebekämpfung mit einem umfassenden Ansatz gelingen kann. Gesellschaftliche, wirtschaftliche und unmittelbar medizinische Maßnahmen sind miteinander zu kombinieren. Entscheidend dabei ist, dass die Bevölkerung angemessen informiert wird und vollständig in die Konzipierung und Ausführung der Strategie zur Eindämmung der Pandemie einbezogen wird.

Basis: Buch Kreilinger/Wolf/Zeller, Corona, Kapital, Krise, PapyRossa Juli 2020

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